Mit nahezu geschlossenen Lidern betrachteten die vier Monde das Land unter sich. Ihr Schein färbte die Berghänge in sanftem Blau, das wogende Gras erschien wie Wellen eines sphärischen Meeres. Jean konnte die Häscher als dunkle Punkte erkennen, selbst jene, die die Fackel zugunsten ihrer Heimlichkeit nicht entzündet hatten.
Das war der Vorteil, wenn man auf ein Licht verzichtete. Die Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Leider würden auch die Häscher diesen Vorteil haben, jedenfalls die meisten. Andere würden selbst den kleinsten Stiefelabdruck noch bemerken können.
Noch stand Jean im Schatten des Gipfels. Sein Plan hatte Gestalt angenommen. Er setzte den Beutel ab und begann damit, ein Ersatzhemd und mehrere Keulen hervorzuholen. Dann eilte er wieder nach unten, in die Deckung des Waldes, wo er ein wenig in der Erde grub, einen Fetzen Stoff deponierte. Anschließend ging er zu einem kleinen Bäumchen, das einsam auf den Wiesen wuchs. Diesem streifte er das Hemd über, dann eilte er weiter. Er schlich in den Wald, drei Keulen am schmalen Ende in der Hand. Am Waldrand ging er bei einem Wacholderstrauch in Deckung, dessen Zweige bereits mit frühen Beeren besetzt waren. Die dichten Nadeln sollten ihm aber vor allem als Deckung dienen.
Es dauerte nicht lange, bis die Häscher das flatternde Hemd bemerkten. Ein Ruf alarmierte den Rest der Gruppe, von der etwa die Hälfte zu dem kleinen Bäumchen kam. Die magere Vogelscheuche daran vermochte die Häscher nicht zu täuschen, doch sie war ein Beweis, dass Jean diesen Weg genommen hatte. Die Häscher untersuchten die Umgebung und fanden eine deutliche Spur, die jedoch noch vor dem Waldrand abbrach.
In seinem Versteck hielt Jean den Atem an, als die Wachen sich seiner Position näherten. Ein Elf leuchtete mit einer Fackel umher. Jean wartete, bis ihr Blick bergan wanderte. Die logischste Wahl. Als alle abgewandt waren, warf er die erste Keule in den Wald.
Der Aufprall ließ die Suchenden herumwirbeln. Sie zückten Schwerter und rannten los, wo sie eine präparierte Stelle finden würden. Etwas, das wie ein Abrutsch aussah, ein Sturz ins Gesträuch, bei dem ein Stofffetzen und wohl auch eine Keule verloren gegangen waren. Der Fetzen würde die Häscher hoffentlich überzeugen, dass die Keule nicht einfach geworfen worden war. Jean wartete nur, bis die Häscher an ihm vorbei waren, dann rannte er in die Gegenrichtung.
Am Berghang würden sie ihn früher oder später aufspüren. Auch im Sumpf würden sie suchen, wenn sie ihn anderswo nicht fanden. Es gab nur einen Ort, wo er sicher war: Casa Charada.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, zurück zur Burg zu eilen. Der Himmel wurde grau. Jean warf sich ins hohe Gras, nass und kalt peitschte es auf ihn ein. In den Händen hielt er zwei weitere Keulen, bereit, sie als Waffen einzusetzen. Er kroch, robbte, schob sich durch den Schlamm. Am Wald sah er dunkle Gestalten suchen, ab und zu eine tanzende Fackel, im erwachenden Licht schlechter und schlechter zu erkennen. Ein erster Sonnenstrahl brach durch den Nebel über dem Sumpf, beleuchtete das Anwesen der Passa-Matta und ließ Jean für einen Moment glauben, er nähere sich dem rettenden Heim, einem Zuhause.
Doch es täuschte, und die Erkenntnis schmeckte bitter. Seine Zeit bei Fürst Marcello hatte ein jähes Ende gefunden. Natürlich war es immer nur eine Stelle auf Zeit gewesen, dennoch hatte Jean auf mehr Vorlauf gehofft.
Er fand eine Senke im Grasland und kroch hinein. Dann untersuchte er seinen Beutel und seufzte.
Die Kopie war nicht da! Natürlich. Fürst Marcello hatte ihm zwar Verpflegung eingepackt, doch von dem Dokument unter seiner Matratze ahnte er nichts. Vielleicht würde einmal ein Zimmermädchen darüber stolpern, jedoch nicht wissen, welche Bedeutung dieser Schrieb besaß.
Das verkomplizierte seinen Plan, jedoch hatte er bereits halb damit gerechnet. Jean konnte dieses Dokument nicht zurücklassen. Darin verbarg sich seine Freiheit! Jean hatte nicht vor, Celyvar zu verlassen. Es gab eine Chance, so gering sie auch war.
Er verschnürte seinen Beutel wieder und lief zurück zur Burg. Am Turm angekommen, huschte er durch ebenjene Tür herein wie heraus.
„Was tust du hier?“
Jean wirbelte herum. Adelina, die Köchin, kam die Treppe herunter. Sie schloss den Gürtel ihres Nachtgewandes und sah furchtbar übernächtigt aus. Offenbar hatte sie am Fenster Ausschau gehalten.
Ehe Jean antworten konnte, schloss die Köchin ihn in ihre Arme. Dann schob sie ihn von sich. „Der Fürst sagte doch, dass du fliehen sollst! Mein armer Junge … du kannst nicht bleiben.“
Er sah es über ihre Schulter. Die schwarze Kutsche stand noch im Hof. Die Häscher würden wiederkehren.
„Ich weiß“, sagte er. „Aber ich habe etwas vergessen.“ Er keuchte. Jetzt, im Warmen, spürte er Erschöpfung und Kälte stärker. „Gerade suchen sie mich am Berghang, deshalb bin ich hier sicher.“
„Aber nicht lange!“, rief die Köchin. „Es muss wichtig sein, wenn du deswegen die Entdeckung riskierst! Was ist es?“
„Ich muss nur zu meinem Zimmer …“
Sie bremste ihn entschlossen. „Du bleibst hier. Verstecke dich in dem Schrank dort und komm zu Atem. Sag mir, was du brauchst, ich hole es.“
Er nickte dankbar. Seine Beine wollten nachgeben. „Ein Dokument, unter meinem Bettbezug.“ Jean huschte in das Versteck. Wieder beruhigte er seinen Atem, kämpfte darum, seine Kräfte zu regeneriere. Nach und nach schwand das Zittern. Die Jagd hatte ihm bereits viel abverlangt. Und er war nirgendwohin gekommen!
Adelina kam bald zurück. In der Hand hielt sie, mehrfach gefaltet, die Kopie der Capelli.
„Der Wiedehopf.“ Sie musterte ihn besorgt. „Worauf hast du dich nur eingelassen, Jean?“
„Ich weiß jetzt, was ich tue“, versprach er und verstaute das Papier unter seinem Wams. Er hatte die Pause auch genutzt, um sich etwas angemessener zu kleiden und die Stiefel neu zu schnüren. Dankbar für ihre Hilfe nahm er die Köchin in den Arm. „Bitte richte dem Fürsten aus, dass ich ihm für alles danke. Und dass es mir leid tut, solchen Ärger verursacht zu haben.“
Adelina lächelte mit wässrigen Augen. „Ich bin sicher, er versteht es. Es muss ihn an seine eigene Jugend erinnern. Er war ein echter Tunichtgut. Deine Anwesenheit hier hat ihm gutgetan. Ach … wir werden dich alle vermissen.“
„Ich werde euch vermissen.“ Jean lächelte. „Vielleicht kann ich einmal zurückkehren. Doch es wird dauern.“
„Zurückkehren? Aber … die Häscher!“
„Ich habe einen Plan“, sagte er mit fester Stimme. „Wenn er gelingt, dann wird es mir gutgehen. Und einigen anderen auch.“ Er legte alles Vertrauen in diese Worte, das er aufbringen konnte. Dabei war nicht gesagt, dass er es schaffen würde.
Die Sonne stieg schnell. Jean nahm Abschied von Adelina und verließ die Burg in der Gewissheit, dass er nicht so bald zurückkehren würde. Wenn überhaupt!
Er lief den Hang hinab. Diesmal floh er in den Sumpf. Die Häscher bemerkten ihn, wachsame Augen hatten die Wiesen um Casa Charada im Blick behalten. Die Pferde wurden zu Galopp gepeitscht. Jean flüchtete auf die Moospolster des Sumpfes. Ein fauliger Moorgeruch empfing ihn, dessen Hauch er schon lange mit Indro und ihrer Freundschaft verband. Flink lief er zwischen den Pfützen über das scheinbar ebene Land, schlug Haken, hielt sich fern von den roten Gräsern und den Blüten, die trügerischen Untergrund verrieten.
Hinter ihm preschten Reiter ins Wasser, das zu den Seiten der Pferde aufspritzte. Sie kamen rasch näher, dann stockten erste. Rufe erklangen, Hilferufe. Die wenigen Häscher zu Fuß kamen erst an, als den ersten Pferden das schwarze Sumpfwasser schon zum Bauch stand. Andere Reiter hatten innegehalten.
Jean gewann Abstand, aber die Häscher gaben nicht auf. Einige folgten ihm zu Fuß, offenbar Waldläufer, die den Sumpf rasch erlernten. Da er sich parallel zur Straße hielt, befreiten die restlichen Jäger ihre Pferde und patrouillierten auf den schiefen Pflastersteinen und Holzstegen. Jean sah sie oft am Horizont, doch er hielt sich außer Reichweite für Pfeile oder Magie. Die dunkle Kutsche der Spione rumpelte über die Schlaglöcher der Straße.
Als die Nacht herabsank, waren alle erschöpft, ob Jäger, Gejagter oder Pferde. Feuer verrieten drei Lager der Häscher, dazwischen waren sicher viele verborgenen Wachen. Jean schlich näher und dachte an die Geschichten über das Kiebitzvolk. Er hatte nicht gewagt, auch nur in die Nähe des Lagers der Pavanneau zu reisen.
Würden die Geschichten stimmen, dann könnten ihre Bogenschützen die Wachen am Feuer leicht ausschalten. Diese wussten nichts von den Legenden.
Doch sie würden Jean sehen, wenn er zwischen den Feuern über die Straße huschte. Die Gestalten vor den Flammen waren weithin zu sehen. Sicher hielten die Häscher die Augen auf!
Dennoch packte er allen Mut und rannte. Wie er auf die Straße trat, wurden Rufe laut, weil man seinen Schatten gesichtet hatte. Jean stürmte geradeaus weiter, durch das kurze Sumpfstück, in Richtung des Abreccio-Sees.
Die Häscher durchbrachen das Gebüsch mit roher Gewalt ihrer Schwerter. Fackeln und magische Lichtkugeln erhellten die Nacht unter dem etwas weiter geöffneten Blick der Monde. Schwerter fällten Sträucher und junge Bäume, kürzten die Vegetation auf viele Schritt Breite. Dann stachen die Eisenspitzen ins Wasser, das hier aus dem See sickerte. Stiefel sackten schmatzend in schwarzen Schlick. Die Sohlen gab der Sumpf nur widerwillig frei, aber die Spione überwanden diesen Widerstand wütend.
Bogenschützen suchten mit gespannter Sehne das dunkle Wasser ab, auf der Suche nach einem dunklen Kopf auf den mondsilbernen Wellen. Weiter und weiter verteilten sich die Häscher am Ufer, als der Gesuchte nicht auftauchte. Sie leuchteten in die Kronen der wenigen Bäume, suchten Gräben im Schlamm, ließen erneut Lichter über den See tanzen. Erste schossen nach Schilfrohr, falls der Flüchtige durch dieses atmen konnte.
Der Hauptmann tobte. Die Häscher suchten, so gut sie konnten, doch es war wie verhext. Jean le Picco war fort!
Am nächsten Morgen, im Tageslicht, suchten die Häscher weiter. Spuren gab es keine mehr, die hatten sie in der Nacht zertrampelt. Zwei Männer ruderten auf den See hinaus, suchten mit langen Stöcken, andere eilten am Ufer entlang. Die Waldläufer kehrten auf der anderen Seite der Straße in den Sumpf zurück. Patrouillen suchten die Straße hinauf und hinab.
Wo sie auch suchten, Ost, West, Nord oder Süd, es gab keine Spur des jungen Gauklers mehr. Nur seine Spuren, die aus dem Sumpf zur Straße führten, danach war es, als wäre er regelrecht in den Himmel aufgestiegen. Als ein jüngerer Rekrut der Häscher seinem Hauptmann sagte, dass der Zauberer vielleicht in seinen Zylinder gesprungen und so verschwunden sei, schlug ihm der Anführer ins Gesicht.
Er konnte nicht ertragen, von einem Narren zum Narren gehalten worden zu sein.