Seine Träume, die Kiebitz-Flüchtlinge fahnenwehend zu befreien und die Capi ihrer gerechten Strafe zuzuführen, konnte Jean vorerst nicht erfüllen. Doch er traf sich nun häufiger mit Indro. Bei einem dieser Treffen hatte er sogar zaghaft die Hand des anderen gehalten – natürlich nur, damit sie einander in dieser Neumondnacht vor den Mauern von Casa Charada di Marai nicht verloren.
Jean musste auch aufpassen, dass ihm die nächtlichen Treffen nicht zu viel Schlaf raubten. Denn tagsüber half er auf der Festung, trainierte und unterhielt am Abend die Bewohner. Manchmal beobachtete Indro die Auftritte heimlich, hatte er Jean einmal erzählt.
Zwischen seinen vielen Verpflichtungen verging die Zeit wie im Flug. So schlich der Sommer verstohlen an ihn heran und überraschte ihn eines Abends, als Jean mit Fürst Marcello beim Essen saß, im Sprung.
„Vielleicht kannst du mir in einer Sache beistehen, Jean.“
„Worum geht es?“ Sofort legte er das Besteck beiseite, um dem Hausherrn seine volle Aufmerksamkeit schenken zu können.
„Diesen Mond hat meine jüngere Nichte Geburtstag, Louise. Sie ist darüber sehr traurig, denn eigentlich wollte sie unlängst wieder Zuhause sein. Die Krankheit ihres Vaters dauert jedoch noch an – auch wenn der Medikus Besserung verspricht, sie wird hier feiern müssen. Nun drängt die Zeit für die Vorbereitungen.“
„Im nächsten Mond …“ Jean musste kurz überlegen. „Blumenkron, ja?“
„Genau.“ Der Fürst schmunzelte. „Wir haben Grünnacht.“
„Mir kommt es vor, als wäre der Taumond erst wenige Tage her. Der Karneval, meine Ankunft …“ Jean winkte ab. „Blumenkron also. Ich schätze, wir müssen Louise nach Kräften entschädigen.“
„Ein großes Fest“, sagte Marcello nachdenklich. „Vielleicht können sogar einige ihrer Verwandten anreisen."
Jean schwieg. Die Erkenntnis war ihm in den Schoß gefallen, ebenso unvermutet wie eindeutig. „Wie wäre es mit etwas Besonderem?“, wagte er sich deshalb vor. „Ein Blumengesteck, vielleicht sogar eine Krone.“
Fürst Marcello sah ihn prüfend an. „Es gibt keinen Blumenbinder an meiner Burg.“
„Aber in Lavanya“, sagte Jean überzeugt. „Dort liegt doch der Sitz der Familie Sticelli.“ Eines fügte sich ganz wundersam zum anderen. Jean konnte sein Glück kaum fassen. Es galt nur, Fürst Marcello zu überzeugen.
Der Burgherr nickte gedankenversunken. „Ich denke, das könnte ihr gefallen. Ein vergängliches Geschenk zwar, aber vergänglich ist auch ihr Ausharren hier. Ich denke, diese Botschaft wird sie zu schätzen wissen.“
Jean lächelte stolz. „Ich kann auch nochmal mit ihr sprechen. Vielleicht kann ich unauffällig herausfinden, was sie freuen würde.“ Auf jeden Fall kannte er die Scherze, die er an ihrem Feiertag aufführen würde, die Lieder, die ihr am besten gefielen.
Fürst Marcello nahm Messer und Gabel wieder auf. Sie saßen gerade beim Secondo piatto, bei salbeigewürztem Kalb. Marcellos Regung war das Signal, dass die Besprechung vorerst abgeschlossen war, so langte auch Jean wieder zu. Das Saltimbocca war köstlich, wie alles, was an hohen Tafeln gespeist wurde. Er war fast froh, dass er auch immer wieder die Kost der Dienerschaft teilte, sonst würde er sich ganz an das verwöhnte Leben gewöhnen.
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Eine halbe Woche später reiste Jean recht überhastet per Kutsche nach Lavanya. Der junge Gaukler war lange nicht mehr in seiner Heimatstadt gewesen, doch da er sich dort auskannte, hatte Fürst Marcello ihn zur Familie der Blumenbinder gesandt. In der Hoffnung, dass die Kutsche diesmal keinen unglücklichen Achsbruch erleiden würde, durchquerte Jean das Sumpfgebiet nah am See und träumte von einem Abend in den vertrauten Tavernen, vielleicht gar mit einigen alten Freunden. Auch bei seiner Familie müsste er vorbeisehen und berichten, wie es ihm auf Casa Charada bisher ergangen war. Leider würde er niemandem von dem Wichtigsten erzählen können, das er im Sumpfland gefunden hatte.
Sein erstes Ziel in Lavanya war jedoch das große Anwesen der Sticelli. Als eine der sechs mächtigsten Familien von Celyvar besaßen sie sogar in der Stadt, wo Platz rar war, mehr Fläche als ganz Casa Charada einnahm. Neben dem Tor standen Wachen, auf deren Schild die Spiegelstare unter drei Sternen ihre Flügel streckten. Blau, rot und violett blitzten Wappenröcke und Banner.
Nachdem er vorgesprochen hatte, mit dem Hinweis, dass Fürst Marcello Passa-Matta di Marai ihn in einem Schreiben angekündigt hatte, musste Jean noch eine Stunde warten, bevor man ihn zu Inès-Claire Sticelli vorließ, die ihn mit warmem Lächeln und kühlem Blick in einem von Blumengirlanden gefüllten Wintergarten empfing.
Jean verneigte sich und nannte erneut seinen Namen und den seines Auftraggebers. „Ich komme in einer unglücklicherweise dringlichen Sache und hoffe, dass Ihr uns beistehen könnt, Mylady.“
„Du hast gute Manieren“, stellte die Dame im schlichten Arbeitskleid fest. Sie saß zurückgelehnt auf ihrem Stuhl und rückte die Halbmondbrille zurecht. „Dabei bist du ein Junge, zum Späßemacher erzogen!“
„Hier bin ich als Botschafter des Fürsten Passa-Matta, nicht als Gaukler“, erwiderte er höflich.
„Nun gut, Botschafter.“ Belustigt wies sie auf den niedrigeren Stuhl auf seiner Seite des Sekretärs. „Was wünscht der Herr der Sumpfburg?“
Jean nahm Platz und erzählte von dem traurigen jungen Mädchen und dem Bestreben von dessen Onkel, ihm eine Freude zu machen.
„Verstehe“, murmelte Inès-Claire Sticelli, als er ihr anschließend einige wage Skizzen zuschob.
„Lässt sich etwas davon machen?“
„Auf Rosen würde ich verzichten. Unsere sind bestimmt für Feste, wo die höchsten Adeligen sie erblicken.“ Sticelli sortierte einige Zeichnungen aus. „Für hübsche Tulpen ist es etwas spät, doch das hier könnte funktionieren. Und dies …“ Sie legte die Hände flach auf die Papiere und sah ihn an. „Die Familie Sticelli wird liefern.“
Jean erhob sich. Nun wäre es an der Zeit, zu gehen. Doch er hielt inne. Wenn er ginge, wäre jede Chance vertan.
„Ist noch etwas?“, fragte Inès lauernd.
„Tatsächlich. Verzeiht, wenn ich mir zu viel herausnehme, doch es geht um eine alte Geschichte, in die Eure Familie verwickelt war. Ein Streit um den Posten des Handelsaufsehers in Katalia.“
Er sah Inès-Claire an, die seinen Blick ohne die geringste Regung erwiderte. Natürlich, sie war eine mächtige Frau. Elfen wie sie ließen ihre Gedanken nicht erkennen.
„Worauf willst du hinaus?“ Die Halbmondbrille spiegelte das Licht und verbarg ihre Augen.
Jean neigte den Kopf. „Den Posten hat nun ein Capi inne, nicht wahr? Mich interessiert, aus welchem Grund die Sticelli einer geringeren Familie nachgegeben haben. Falls“, fügte er rasch hinzu, „diese Geschichte überhaupt stimmt.“
Sticelli schwieg eine ganze Weile. Sie lehnte sich zurück. Ihr Blick schien prüfend, nachdenklich. „Mich interessiert, wie ein einfacher Gaukler oder Gesandter davon hörte.“
„Von einem Freund“, erklärte Jean sich zögerlich. Er wollte die Kiebitzleute nicht in Gefahr bringen. Und ihm fehlte auch immer noch ein Beweis, dass Alain Pavanneaus Geschichte überhaupt stimmte, das war ihm bewusst. „Einer, der damals großes persönliches Interesse an dieser Geschichte hatte und erlittenes Unrecht sah.“
Der schmale Mund seines Gegenübers verzog sich zu einem Lächeln. „Interessante Freunde hast du, kleiner Zilpzalp. Nun flieg, geh zu deiner Familie oder kehre zu deinem Herrn zurück. Die Blumenkrone für die junge Louise wird bald eintreffen, mit einem vertrauenswürdigen Boten.“
Jean akzeptierte mit einem Nicken, dass das Gespräch offenbar beendet war. Hatte er die Sticelli beleidigt? Doch warum der Hinweis auf einen Boten, der doch selbstverständlich war? Hoffnung durchzuckte ihn. Vielleicht war es das Versprechen, dass er seine Antwort erhalten würde!
Von Unruhe ob der Unsicherheit erfüllt, ging er zu seiner Familie. Sein Vater wirkte zufrieden mit seinen Fortschritten, antwortete jedoch nur einsilbig. Sicher war er wieder mit anderen Dingen beschäftigt. Jean blieb nicht lange bei seiner Familie. Stattdessen suchte er einige Freunde aus der Ausbildung auf und zog mit ihnen durch die Straßen, bis die warme Sommernacht wieder in den Morgen überging. Dann suchte er mit pochendem Kopf und leichtem Taumel den Ort auf, wo die Kutsche der Passa-Matta ihn pünktlich vorfand.
Inzwischen war er den Schlafmangel gewohnt, den eine durchwachte Nacht mit sich brachte. Den Schlaf holte er nach, als der abergläubische Kutscher vor dem Sumpf schon früh hielt, um am nächsten Tag weiterzufahren.
Jean schlief ruhig in dieser Nacht. Die Sümpfe und das Kiebitzvolk fürchtete er längst nicht mehr. Stattdessen freute er sich, zu ihnen heimzukehren, eine lange vergessene Hoffnung im Gepäck.
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„Denkst du denn, die Sticelli werden uns helfen?“, fragte Indro in der nächsten Nacht. Die beiden Jungen saßen auf einem Findling an der Sumpfgrenze, am Hügel unterhalb von Casa Charada.
„Ich bin nicht sicher, was ihre letzten Worte bedeuteten. Doch wenn es war, wie dein Vater sagte, so wissen die Sticelli etwas. Ich bezweifele, dass sie die Einmischung der Capi mit Wohlwollen betrachten. Also ist es in ihrem Interesse, die Wahrheit zu offenbaren!“
„Ganz so leicht, wie du es dir denkst, wird es vielleicht nicht“, bremste Indro ihn aus. „Die Capi sind gefährliche Gegner, Jean! Sie haben Spione überall. Vielleicht wissen sie gar, dass du mit der Sticelli gesprochen hast!“
„Es waren doch nur wir zwei im Wintergarten …“
„Du bist ein Narr, und damit meine ich nicht dein Arbeitsgewand! Spione können sich überall verbergen. Sie haben Mittel und Wege, alles herauszufinden. Auch was hinter verschlossenen Türen gesprochen wurde. Ich würde nicht darauf setzen, dass die Sticelli sich mit ihnen anlegen wollen.“
Jean schwieg. Natürlich wusste er von Spionen und Intrigen und Geheimnissen. Einem solchen Vorfall waren die Pavanneau doch zum Opfer gefallen. Er hatte nur nie daran gedacht, dass er sich selbst in jenes Netz begab. „Ich wollte nur helfen.“
Indro nahm seine Hand. „Das weiß ich, und es zeugt erneut von deinem großen Herzen. Nur bitte versprich mir, dass du vorsichtig sein wirst!“
Jean sah auf ihre verschränkten Finger. Die Monde am Himmel waren zunehmend, die Sterne hell. Indro bemerkte den Blick ebenfalls und ließ demonstrativ nicht los. Jean zog seine Hand nicht zurück.
„Versprich es mir, ja?“, bat Indro erneut, als seien ihre verschlungenen Finger nicht der Rede wert.
„Ich verspreche es“, sagte Jean.
Ihre Blicke versanken ineinander. „Indro Pavanneau“, murmelte Jean wie in einem Traum.
„Ja?“
„Ich will dich aus dem Sumpf befreien.“
„Das tust du bereits.“
Ihre Lippen fanden sich im Schatten fern aller Zeugen.