Nach den Feierlichkeiten, die bis tief in die Nacht gedauert hatte, fiel Jean schwer in seine Kissen. Nur flüchtig rasten wirre Gedanken vorbei, an Indro, Blumenkronen und Versprechungen, bevor der Schlaf Einzug hielt.
Kein Traum hatte ihn ereilt, als Jean auch schon von starken Händen aus dem Schlaf geschüttelt wurde. Blinzelnd erkannte er Fürst Marcello im Lichte einer Öllampe, das Gesicht hart vor Sorge wie am Tag ihres ersten Treffens.
„Jean! Jean, wach auf!“
„Herr?“
„Du musst fort, Jean. Spione der Capi. Du musst fort, das Land verlassen.“
War es ein böser Traum? Schlaftrunken setzte Jean sich auf, strich sich das Haar aus der Stirn. „Was …? Spione?“
„Die Mächtigen dulden nicht, dass Gaukler sich in ihre Ränkespiele einmischen. Und deine Kiebitzmär ist mehr als Einmischung!“
Schlagartig war Jean wach. „Ich weiß nicht, wovon …“
„Jetzt ist nicht die Zeit, sich dumm zu stellen!“, unterbrach Fürst Marcello ihn. „Denkst du denn, du kannst dich Nacht um Nacht aus meiner Burg schleichen, ohne dass ich irgendwann davon erfahre? Jean le Picco, sag nicht, dass du mich so sträflich unterschätzt hast!“
Er schluckte hart, sein Mund war trocken. „Verzeiht mir …“
„Es gibt nichts zu Verzeihen. Ich kenne die Torheit der Jugend. Zunächst habe ich sie geduldet, doch mir scheint, als hättest du mehr Mut und Verstand bewiesen als andere es getan hätten.“ Marcello hatte inzwischen von ihm abgelassen und begann, Jeans wenige Habe aus dem Schrank in einen Beutel zu stopfen. „Die Narrenkappe brauchst du nicht, sie wird dich nur verraten.“
„Schneidet die Glöckchen ab“, bat Jean. „Ich brauche die Mütze, nur die Mütze!“ Sie war doch Teil seines Lebens, seine Krone. Niemals durfte er sie zurücklassen!
Marcello kam der Bitte nach, doch gleichzeitig mahnte er: „Dieses Leben liegt nun hinter dir. Vielleicht solltest du mit einem Zirkus ziehen. Los, steh auf, Junge. Uns bleibt wenig Zeit, bis sie dich finden. Ich habe Ottone befohlen, die Verzeichnisse der Zimmer und Bewohner zu verbergen, doch gerade jetzt suchen sie jeden Raum ab!“
„Sie … Spione …“ Jean erhob sich schwankend.
„Es ist ein Dutzend“, erklärte Marcello. „Bewaffnet und sicher geübt mit diesen Waffen. Ihr Befehl ist es, dich zum Schweigen zu bringen, Zilpzalp!“
Ein Schauer lief über Jeans Rücken. Mörderische Häscher. Seinetwegen.
Fürst Marcello reichte ihm den Umhang und Stiefel. Jean hatte in Hemd und Hose geschlafen, wie immer in letzter Zeit, für den Fall, dass Indro nachts vor seiner Tür stehen sollte. Nun schlüpfte er mit mechanischen Bewegungen in die Schuhe. Als er damit fertig war, drückte der Hausherr ihm das gepackte Bündel in die Hände.
Dann standen sie sich schweigend gegenüber, sahen einander beklommen an.
„Viel Glück“, brach Fürst Marcello das Schweigen. „Ich weiß nicht, was dich erwartet. Vielleicht kannst du etwas schreiben, wenn du in Sicherheit angekommen bist. Aber denk daran, dass Briefe gelesen werden können.“
Jean nickte wie betäubt. Alles erschien ihm noch immer wie ein Traum. Flucht. Häscher. Das Land verlassen?
„Wohin soll ich denn gehen?“
„Das fahrende Volk nimmt Gaukler immer gerne. Sie bringen dich durch Meleris, Lirhajn, vielleicht bis Kivehara.“ Fürst Marcello legte Jean eine Hand auf die Schulter. „Es gibt viele Wege. Handwerker, die Gehilfen suchen. Du kannst Krieger werden, Fischer, Bauer … du kannst beim Zirkus bleiben. Du darfst nur keine Aufmerksamkeit auf dich ziehen.“
Jean atmete tief durch. Er stand nicht vor dem Nichts, das war eine wichtige Erkenntnis.
„Fliehe jetzt, Jean le Picco“, beschwor Fürst Marcello ihn. „Lauf zur Grenze und sieh nicht zurück.“
„Mein Vater …“, murmelte er und wusste nicht mehr, was er sagen sollte. Würde dieser Jeans Verschwinden überhaupt bemerken?
„Ich schreibe ihnen“, versprach Marcello. „Du musst gehen, jetzt!“
Jean stolperte aus seinem Zimmer. Den eindrücklichen Griff von Marcellos Händen auf seinen Schultern spürte er noch, als er im Laufschritt zu einem der kleineren Türen eilte. Auf dem Innenhof sah er eine Person mit Fackel, das Gesicht von einem Tuch verhüllt, neben einer dunklen, großen Kutsche. Fackeln flackerten auch durch die Fenster im ersten Stock gegenüber, wo er Gestalten von Tür zu Tür eilen sah.
Marcello war auf dem Gang in die andere Richtung gelaufen, nun bog er bereits um die Ecke. „Hallo!“, rief er etwas lauter als nötig. „Was sucht Ihr hier?“
Jean sprintete los. Die Späher suchten ihn bereits hier. Die Häscher ließen sich nicht hinhalten.
Er lief zur Treppe, eilte hinunter, während eine Stimme dem Fürsten antwortete. Worte verstand Jean nicht, doch er hörte, dass die Stimme näherkam. Der Späher war im Gang!
Der Beutel auf seiner Schulter wog schwer. Sein Atem hallte von den Wänden der gewundenen Treppe wider. Es war kalt, fast eisig. Jean fröstelte. Er hätte ein Wams überziehen sollen. Doch dafür war keine Zeit gewesen.
Unten angekommen lief er in einen dunklen Gang. In einem solchen hatte er Indro damals getroffen. Nahe der Tür duckte er sich hinter eine Säule und lauschte.
Schritte knirschten auf dem Kies. Wie erwartet gab es auch bei diesem Seitenausgang eine Wache. Die Häscher waren nicht dumm.
Jean kaute auf seiner Lippe herum, beruhigte seinen Atem konzentriert. Die Schritte verstummten. Der Späher wartete.
Jean schlich zurück. Er fand eine nicht verschlossene Tür und schlich in ein Zimmer. Keine Fenster. Natürlich, eine Burg war kein Ferienhaus, es gab keinen Ausblick im Erdgeschoss. Damit auch keinen Fluchtweg. Jean setzte den Beutel ab, kramte. Er fand seinen Becher, Wasserschlauch, einen frischen Laib Brot, der von Fürst Marcello stammen musste. Besteck, anderen Kleinkram. Eine Kette mit dem Anhänger seiner Familie. Wenn Fürst Marcello recht hatte, würde Jean das Eichhörnchen-Wappen nicht mehr brauchen. Er schloss die Faust entschlossen darum. Falsche Sentimentalität war hier fehl am Platz!
Den Beutel verschloss er wieder und trat an die Tür. Er schlich bis zum Ende des Ganges, kontrollierte, dass die nächste Tür nicht verschlossen war. Dann warf er den Anhänger mit aller Kraft auf den hinteren Gang. Ein splitterndes Klirren verkündete, dass das teure Erbstück zerbrochen war. Jean warf sich hinter die erste Tür, gleich darauf hörte er Schritte auf dem Gang. Der Späher stürmte vorbei, hielt. Er musste den Anhänger gefunden haben. Jean lauschte auf das Geräusch einer ins Schloss fallenden Tür, dann spähte er auf den Gang.
Niemand zu sehen. Jean wartete nicht, er rannte zum Ausgang. Leise schlüpfte er hinaus in die Nacht. Kalter Wind strich über die Gräser außerhalb Casa Charadas. Weiter unten bogen sich die Sumpfbüsche in der Brise. Jeans Stiefel strichen durch nachttaufeuchtes Gras. Er kannte den Weg, war ihn oft genug gelaufen. Im Sumpfland selbst würde es gefährlicher werden. Dort gab es trügerische Untiefen, Dornengestrüpp, reißende Strudel.
Jeans Lauf stockte. Wollte er die Häscher denn zum Kiebitzvolk führen? In den Randbereichen wusste er dank Indro, wohin er seine Füße setzen konnte. Vielleicht genügte das, um die Häscher abzuschütteln. Doch dann würden sie im Tageslicht den Sumpf durchkämmen. Die Kiebitze waren in größerer Gefahr als Jean. Auf ihr angebliches Verbrechen stand der Tod. Sie ahnten nicht einmal von der Bedrohung, und viele waren krank.
Also kehrte Jean um. Er umrundete Casa Charada. Noch immer war sein Ziel die Grenze, doch er würde den Sumpf meiden. Ihn deutlich meiden! Dass die Häscher seine Spuren fanden, war diesmal beabsichtigt, denn es würde sie davon abbringen, in den Sumpf zu gehen.
Ob das reichte, um die Kiebitze zu schützen? Wenn die Häscher seiner Geschichte wegen hier waren, würden sie sich irgendwann fragen, wie er davon erfahren hatte …
Darum konnte er sich jetzt jedoch nicht kümmern. Indro würde sich die Gefahr hoffentlich erschließen, sobald er merkte, dass Jean geflohen war.
Indro. Während er die Burg umrundete, dachte Jean mit schmerzender Brust an seinen Freund. Er konnte sich nicht verabschieden. Würde es bei diesem einen Kuss bleiben? Für immer?
Er verdrängte den Gedanken, als Rufe laut wurden. Ein Späher brüllte, dass Jean im Gang gewesen sein musste. Die Frist seiner List war um. Fackeln bewegten sich auf die Wiesen vor der Burg, folgten seinen Spuren gen Sumpf, dann wieder hügelauf.
Jean rannte. Sein Atem rasselte in der kühlen Luft. Nur blasse Mondsicheln beleuchteten seinen Weg gen Süden. Er lief in das Hügelland am Fuß des Gebirges. Dort lag die Grenze zu Lirhajn. Freiheit, wo die Häscher ihn nicht weiter verfolgen dürften, denn Bewaffnete mit Wappen aus Celyvar könnten gar einen Krieg auslösen! Sicher würde er erst in einer Siedlung sein, wo es auch Zeugen dieser Grenzübertretung gäbe. Doch immerhin!
Er lief in die Schatten der Nacht. Rufe folgten ihm, wichen konzentrierter Stille, als die Verfolger ihn jagten. Jean kämpfte sich hangaufwärts. Er musste fort vom Sumpf, die Feinde so lange wie möglich ablenken. Matschige Wiese wurde zu erdigem Geröll. Der Weg wurde steiler. Jean tauchte in den Schatten magerer Kiefern, schlug Haken, überwand kleinere Hänge. Seine Hände wurden dreckig. Die Stimmen der Verfolger verteilten sich im Wald hinter ihm, fächerten sich auf. Jean suchte den Weg an die Bergflanke, einen der vielen schmalen Wege, die in das Vorgebirge führten. Trampelpfade, Wildwechsel – kein Elf würde dieses trostlose Gebiet freiwillig durchqueren.
Jeans Atem ging abgehackt und kurz. Seine Seiten schmerzten. Ihm war sogar schwindelig. Doch die Flucht würde andauern. Er hörte Pferde hinter sich wiehern. Die könnte er auf schmalen Bergwegen abschütteln, aber sie bedeuteten, dass die Verfolger ausgeruhter waren.
Fackeln blitzten in der Nacht auf, verschwanden wieder hinter Baumstämmen. Jean zog sich auf einen Felsen und fröstelte im kalten Wind. Die Nacht war unheimlich still, keine Rufe begleiteten seine Feinde, die schlichen, um ihre Beute nicht zu früh aufzuschrecken. Es waren bloß drei Fackeln, sicher, um kleinere Spuren sehen zu können.
Ruhig atmen, sagte sich Jean. Ein und aus. Er musste nachdenken. Kopfloses Rennen würde ihn nicht retten. Um einem Dutzend bewaffneter Reiter zu entkommen, würde er mehr brauchen als die Kraft in seinen Beinen.
Sein Atem wurde ruhiger. Jean ballte die Hände zur Faust, sammelte Entschlossenheit, und ließ dann mit dem Ausatmen los, die Stärke verinnerlicht, die Ruhe wie einen Mantel um sich.
Ein letzter Auftritt in Celyvar. Jean ging jeden Trick seines Arsenals durch. Ablenkung und Täuschung, Erwartungen enttäuschen, überraschen. Es war, als wären die Prinzipien der Gaukler für eine Flucht im Schatten gemacht – vom Gelächter der Zuschauer einmal abgesehen.
Er würde sich nicht fangen lassen! Während der Wind an seinem Mantel zupfte, als wollte er ihn bitten, in Celyvar zu bleiben, fasste Jean einen Plan.