Inspiration:
Dieses erste Kapitel war ursprünglich eine Kurzgeschichte zur "Crikey!"-Challenge. Der Prompt war "Kiebitz" - der Vogel des Jahres 2024 - und ergänzend "Tierische Gauklergeschichten". Zusätzlich habe ich mich von einem Märchen der Gebrüder Grimm inspirieren lassen, von dem ich leider nur eine Nacherzählung habe, folgendes: "Als die Vögel ihren König wählen wollten, weigerte sich der Kiebitz und wurde darum in den Sumpf verbannt." Sein charakteristischer Ruf soll 'Kein König, kein König' bedeuten.
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HYPHURION – Die Chronik der Eisenwelt
Das Kiebitzlied
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Zwischen Rualin und Pacalle, den südwestlichen Regionen Celyvars, gab es nichts. Nicht einmal eine feste Grenze! Im Norden trennte die Fluma Rualins heimische Wiesen von dem Vorgebirge Pacalles, doch wenn man um den Abreccio-See herumging, gelangte man in Niemandsland.
Jean le Picco war nicht glücklich darüber, dass sein Weg ihn ausgerechnet in dieses Hinterland führte. Die Kutsche hatte schon kurz nach Lavanya den Geist aufgegeben, als der Boden neben der Straße sich in sumpfige Feuchtwiesen verwandelt hatte. Achsenbruch. Das geschah selten, aber es geschah. So musste der junge Mann seine Ausrüstung in einem großen Sack auf dem Rücken tragen wie ein gemeiner Bauer. Bei jedem Schritt klimperten die Glöckchen seiner zukünftigen Uniform im Gepäck, und er sagte sich, dass dieser erste Auftrag nur der Anfang war.
In einem kleinen Anwesen der Familie Passa-Matta, einem Sommerhaus, würde der Gaukler die ersten Schritte tun, doch früher oder später würden einflussreichere Adelige sicherlich auf ihn aufmerksam werden. Neue Aufträge würden nach einem Späßetreiber verlangen und schließlich würde er ein Hofnarr werden. Er hoffte, dass dies an einem Hof des höheren Adels wäre, bei einer Familie, die sich anders als die Passa-Matta nicht vom politischen Parkett fernhielten. Denn als Hofnarr wäre er vielleicht ein Clown, jedoch auch ein Politiker. Satire war für die Ohren hoher Herren bestimmt, um die Missstände im Land aufzuzeigen. Eine heilige Aufgabe, der sich Jean wie jedes Mitglied seiner Familie verpflichtet hatte.
Mit einem raschen Schlag tötete er eine Sumpfmücke, die die verschwitzte Haut des einsamen Reisenden für einen gedeckten Festtagstisch gehalten hatte. Sie hatte recht, hatten ihre Verwandten sich doch bereits gründlich gesättigt. Doch Jean le Picco war vielleicht bereit, sich zur Belustigung anderer Elfen herabzusetzen, doch so tief, sich den Mücken kampflos hinzugeben, war er noch nicht gesunken.
Noch nicht.
Seufzend stapfte er weiter. Schweiß rann in Strömen seinen Rücken herab. Der celyvarische Sommer hatte sich ankündigen lassen und zog ein wie ein Herzog in eine Bauernstube. Alles war sogleich von seiner Präsenz erfüllt: Die Luft, die von summenden Insekten umschwärmten Blüten, die Wälder des einsamen Sumpflands. Zu allem Überfluss wurde Pacalle vor ihm hügelig und unwegsam. Jeans Ziel lag laut der Wegbeschreibung in Sichtweite des Flusses, jedoch leicht zu verfehlen, da es sich zwischen den Hügeln scheu verbarg. Sicherlich würde ihm ein Bote entgegenkommen, denn man hatte ihn schon gestern erwartet. Zu seinem ersten Auftrag zu spät zu kommen, missfiel Jean. Sicher würden seine Auftraggeber Verständnis zeigen, wenn sie von dem Kutschenunglück erfuhren, doch bis dahin würden sie sich allerlei ausmalen. Und der tadellose Ruf des lepiccolischen Eichhörnchenwappens litt darunter, selbst wenn sich alles aufklären würde. Die Gefühle von Sorge und Ärger blieben. Die Verantwortung, die er gegenüber seinen Vorfahren hatte, lastete deshalb heute besonders schwer auf Jeans Schultern.
Oder war es doch nur das Gepäck?
Als es erneut dunkel wurde, stellte sich Jean widerstrebend darauf ein, eine Nacht im sumpfigen Randgebiet des Sees zu verbringen. Er hatte gehofft, so nah beim Herrenhaus würde seine Reise ein Ende finden. Doch stattdessen rollte er nun seine Decke aus und suchte eine halbwegs trockene Stelle bevor es allzu dunkel wurde. Keine leichte Aufgabe bei diesem Weg, der parallel zum Seeufer, teils sogar auf Stelzen, durch die gluckernde Umarmung des Sumpflands führte.
Er war gerade dabei, einen Platz für ein Feuer freizuräumen, als er in der aufziehenden Düsternis etwas Eckiges bemerkte, das sich schaukelnd den Weg herauf bahnte. Eine Kutsche? Jean ließ den Feuerstein sinken und trat auf den Weg, dem Unbekannten entgegen.
Nur dass es kein Fremder war, jedenfalls nicht völlig. Im letzten Licht der Sonne schälte sich das weiße Wappen mit dem stehenden Löwen aus dem Grau der ersten Nachtfinger. Das Bild der Familie Passa-Matta befreite sich ein letztes Mal vom Zugriff der Dunkelheit, um Jean als Licht der Hoffnung zu winken.
„Heda!“, rief er dem Kutscher zu, und fügte ein wenig lahm hinzu: „Freund.“
Er wusste nicht, wie misstrauisch das Volk in diesem Land war. Rechneten sie hier mit Banditen?
Der Kutscher zügelte die beiden Pferde, die das Räderwerk zogen, und hob die Laterne, die bisher dunkel an einem Haken gebaumelt hatte. Mit einem Feuerzeug - es war wohl doch kein einfacher Diener - entzündete er das Licht.
Jean trat vor, die Hände leicht ausgebreitet. „Guten Abend.“
„Jean le Picco?“, fragte der Kutscher.
„Der bin ich.“ Er deutete eine Verbeugung an. „Ich nehme an, Ihr kommt von den Passa-Matta.“
„Wir haben Euch schon vor einigen Tagen auf Casa Charada erwartet. Als Ihr nicht eintraft, begannen wir, uns Sorgen zu machen.“ Die Augen des Mannes waren zusammengekniffen. Er hatte ein faltiges Gesicht mit ledriger Haut. Ein Hausverwalter, wie Jean zunächst gedacht hatte, war er wohl nicht. Oder die Passa-Matta gaben sich mit der Auswahl der Diener in ihrem Sommeranwesen nur wenig Mühe.
„Meine Kutsche erlitt einen Bruch, noch im Wiesenland“, berichtete Jean. „Mein aufrichtiges Bedauern, dass ich meinen zukünftigen Herren Sorgen bereitet habe. Ich reiste, so schnell ich kann, doch ich musste zu Fuß gehen.“
„Hm.“ Nicht gerade die höflichste Antwort. Der Kutscher stieg nun ab, stapfte schwerfällig vor und drückte Jean die Lampe in die Hand.
„Ich ...?“ Verwundert sah er darauf. Sein Gegenüber hatte sich noch immer nicht vorgestellt, so wusste Jean nicht, wie sie zueinander standen. Sollte er hier einen Diener zurechtweisen oder die Merkwürdigkeiten eines Vorstehers akzeptieren?
„Zünde das Feuer an, Bursche“, brummte der Kutscher, welcher die Pferde ein Stück vor führte und sich dann daran machte, die Kutsche zu sichern und die Tiere aus dem Geschirr zu befreien. Dabei erklärte er: „Was anderes als der Rauch kann diese Mücken nicht vertreiben. Wir müssen heute hier rasten, es ist zu dunkel, um zurück zu reisen. Das Sumpfland ist trügerisch – und dann gibt es immer noch jene, die im Sumpf hausen.“
„Hier wohnt jemand?“, fragte Jean mit einem Schauder, während er Reisig zusammenlegte, Holz aus seinem Bündel holte und die Flamme der Lampe an etwas Stroh hielt, um das Feuer zu entzünden. Das ging sehr viel schneller, als mit den Feuersteinen zu hantieren.
„Sehr wohl. Davon hört man in so feinen Städten wohl nichts.“
„Um ehrlich zu sein, habe ich das Haus meines Vaters bisher nur selten verlassen“, gab er zu. „Ich habe die meiste Zeit entweder dort oder in der Gauklerschule gelebt.“
„Das ist deine erste Reise außer Haus?“, fragte der Kutscher in einem neuen Tonfall. Überrascht, doch auch mit neuem Respekt.
„So kann man es sagen. Eigentlich sollte ich sie nicht allein bestreiten, doch ... Nun, das Schicksal hatte andere Pläne.“
„Hm.“ Der Kutscher hatte die Pferde angebunden, setzte sich ans prasselnde Feuer und holte aus einer Ledertasche Brot, Würste, Käse und sogar Wein. Jeans Augen wurden groß. Nach mehreren Tagen, die er von seinen mageren Vorräten gezehrt hatte, die nicht für eine derartig lange Reise gedacht waren, erschien ihm dies wie ein Festmahl. Der Kutscher teilte alles und reichte Jean die Hälfte.
„Ich ... habe leider nur noch Trockenfleisch und Rosinen anzubieten.“ Beschämt breitete er diese aus. Immerhin wollte er die Gastfreundschaft aufrechterhalten, wenn auch nur an einem Feuer in der Wildnis und mit einem Fremden als Gast.
„Für einen Gaukler bist du nicht sehr lustig“, stellte der Kutscher grimmig fest.
„Das liegt daran, dass ich momentan nicht arbeiten“, sagte Jean. „Erst, wenn ich die Glockenmütze und ... Ohne die Uniform könnte man meine Worte als Spott und Hohn, gar als Königsverrat lesen, wenn ich nicht aufpasse! Doch wenn Ihr eine Kostprobe wünscht, edler Herr ...“ Er stand auf, machte einen übertriebenen Kratzfuß und deutete auf seine Handvoll Rosinen. „Tretet ein in meine Halle, Wanderer, labt euch an Speis und Trank! An nichts soll es Euch fehlen in der Gastfreundschaft des le Piccos! Lasst Euch von den Musikern verwöhnen, heute spielen die Nachtvögel des Sumpfes! Zu Eurem Vergnügen stehen hunderte Jungfrauen bereit, zierliche, schwirrende Wesen der Lüfte, die Euch noch Tage später jucken dürften! Wählt Euer Bett zwischen Stein und kalter Pfütze, an nichts soll es Euch mangeln. Und habt Ihr Glück, mein Herr, so erspart Euch morgen früh ein Regen die Mühsal, Euch selbst frisch zu machen. Ja, solchen Luxus habt Ihr noch nie gesehen!“
Jean hob den Blick. Der Kutscher sah ihn unverwandt an. Der Gaukler schluckte. Es war schwierig, jemanden zu erheitern, dessen Humor er noch nicht kannte. Hatte der Kutscher überhaupt Humor?
Dann stieß dieser ein einzelnes, belustigtes „Ha!“ aus.
Jean lächelte erleichtert und verneigte sich erneut. Dann setzte er sich, um zu Essen. Sein Magen knurrte.
„Die le Piccos haben nicht gelogen, als sie sagten, dass sie ein zwar junges, doch sehr großes Talent schickten.“
Jean horchte auf. „Das haben sie gesagt?“
„Wieso? Willst du etwa behaupten, dass wir nicht den besten Gaukler der Schule bekommen?“
„Nun, versteht mich nicht falsch - ich arbeite hart und sehe mich als durchaus passable an, vielleicht mehr als das. Doch ich fürchte, wenigstens ein Teil meines Talents habe ich von meinem Vater geerbt, sozusagen, der aufgrund einiger Schulden, über die ich nicht näher zu sprechen befugt bin, bei den anderen Mitgliedern meiner Familie etwas gut hat. Es gibt einige, die besser singen als ich oder anzüglichere Späße machen. Ich ... kann nur mein Bestes geben.“
„Sieh mal einer an, bescheiden bist du auch noch. Dann ist's ja gut, dass die Sumpfleute dich nicht getötet haben.“
„Die Sumpfleute?“ Die schon wieder! Jean war sich vom Tonfall des Kutschers nicht sicher, ob es nicht doch nur ein Schauermärchen war. „Sie hätten mich doch nicht getötet, oder?“
„Mein Junge, sieh dir an, wo die Kutsche steht. Merkst du, dass sie den Feuerschein vom Sumpf abschirmt? Das liegt daran, dass sie dich gefunden und vermutlich getötet hätten, wenn du sorglos eine Flamme entzündest.“
Das würde immerhin erklären, warum der Kutscher selbst am Abend ohne Lampe gefahren war. Jean schluckte. „W-wer sind die Sumpfleute? Ich habe noch nie von ihnen gehört.“
„Das weiß ich. Sonst wärst du nie zu Fuß zu meinem Haus gekommen.“
Jean fuhr zusammen. Mein Haus? „Ihr seid Fürst Marcello Passa-Matta? Bitte verzeiht …“ Er wollte aufspringen und sich verbeugen, doch der Hausherr ließ ihm die Zeit nicht.
„Man nennt sie das Kiebitzvolk. Einst waren sie Adelige, aber das ist bald einhundert Jahre her.“
Jean, halb im Aufstehen gefangen, lauschte und schluckte. Dass der Hausherr der Passa-Matta persönlich ihn abholte, hatte er nicht erwartet. Andererseits, es war eine eher arme Familie. Vielleicht hatten sie sich keinen Kutscher leisten können. Wären sie wirklich so mittellos?
„Setz dich, Bursche.“ Der Mann schmunzelte. „Es gibt keinen Grund, nervös zu sein. Ich habe beschlossen, mich dir erst zu offenbaren, wenn ich deinen Charakter kenne. Ein Narr schienst du zu sein, und das nicht im Sinne deiner Ausbildung. Aber nun sehe ich, dass dir bloß Erfahrung fehlte. Jedoch nicht das Glück - meine Diener wagen sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr in dieses Land. Sie fürchten sich vor dem Kiebitzvolk. Alleine wärst du hier zugrunde gegangen.“
Jean schluckte und ließ sich wieder ins Moos sinken. „Dann sind es Adelige, die sich seit hundert Jahren in diesem Sumpf verstecken?“
„Ja.“ Der Hausherr nickte. „Sie sprachen sich gegen König Giamo Scricciale aus. Gegen jeden König.“
„Was ... was wollten sie denn dann machen?“ Jean lachte unsicher. „Wahlen?“
„Anarchie. Keine Steuern und Abgaben. Das Gesetz des Stärkeren - denn stark wähnten sie sich. Doch die Kiebitze waren nicht stärker als alle jene Adelige, die treu zum König standen. Die Familie wurde verbannt, ihr Name aus den Büchern gestrichen. Ihr Wappen, das, wie du dir denken kannst, einen Kiebitz zeigte, wurde zerbrochen.“
Jean schluckte. „Und nun?“
„Nun? Nun verbergen sie sich in diesem Wald vor den Häschern und planen, wie es heißt, ihre Rache.“
Unsicher sah Jean in die Dunkelheit. Bäume rauschten. Wasser gluckerte. Waren da flüsternde Stimmen? Eine Gruppe wilder Rebellen, die ihren Angriff besprach?
Der Hausherr sah ihn an und schüttelte den Kopf. „Das Stadtleben liegt hinter dir, Jean. Hier bist du im Kiebitzland. Doch du brauchst dich nicht zu fürchten. Ihre Angriffe kündigen sie stets über Rufe an.“
„Sie rufen vorher? Wollen sie ihre Opfer denn nicht überraschen?“
„Nein, mein Junge. Sie sind viele, sie brauchen die Überraschung nicht. Wichtiger ist ihnen ihre Botschaft. Kiju-wit, kiju-wit - Kein König, kein König.“
Jean schluckte. Kein König. Das war etwas, das könnte ihn auch den Kopf mit dem Glöckchenhut darauf kosten. Als Gaukler war er zwar auch ein Kritiker, nicht nur ein Jongleur, doch es gab Grenzen, die auch ein Narr kennen musste.
In dieser Nacht schlief er unruhig, während Fürst Marcello Passa-Matta neben ihm am Feuer saß, das blanke Schwert auf den Knien. Mehrmals schreckte Jean auf, weil er glaubte, den Kiebitz-Ruf zu hören, doch es war jedes Mal nur ein Traumecho, das ihn verfolgte.
Als sie am nächsten Morgen schon früh aufbrachen und die Kutsche knarzend und ruckelnd über die von Pfützen gezeichneten Wege fuhr, ahnte er, dass seine Arbeit hier weniger friedlich sein würde als angenommen.
„Du hältst dich tapfer“, sagte sein neuer Herr jedoch, wie um ihn zu trösten. „Du machst deiner Familie alle Ehre, Jean le Picco.“