Es war wieder Sonntag, 18 Uhr. Mit gezücktem Bleistift und einem Berg jungfräulichem Papiers hockte sie gebannt vor dem Bildschirm ... und las:
"Er/Sie fühlte sich absolut hilflos ..."
Ja, mey, was schreib ich denn da? Noch während sie die Neuronen in ihrem Gehirn anfeuerte, um brauchbare Energie herauszubekommen, die sie in ihre Fingerspitzen leiten könnte, sah sie einen roten Punkt aufleuchten.
Oh, eine Nachricht? Ach, in der Taverne. Hm, vom Dichtervirus ist da die Rede. Das klingt interessant. Hab eh keine Idee, da schau ich mal schnell vorbei ... Was, hochgradig ansteckend? Ehrlich? Naja, manchmal scheint das gut zu sein. Die Leute wirken alle sehr fröhlich und schwelgen in Erinnerungen, wie sie zu dem Dichtervirus kamen ...
Oh, ein 1000-Wörter Kommentar - gedichtet? Klasse, echt jetzt. Schnell mal lesen ... So einen hätte ich auch gerne mal, denkt sie sich. Naja, muss sich spontan ergeben. Jemand, der inspiriert ist und auch Zeit hat ...
... sowas lässt sich nicht erzwingen.
Apropos, nicht erzwingen. Da war doch was?
*Lücke erscheint im Denken*
Ach, ja, die 60 Minuten!
Oh, nein! Schon sieben Minuten verloren - und noch keine Idee!
Da fühlte sie sich absolut hilflos.
Auch die eigenen Texte lassen sich nicht erzwingen.
Schade eigentlich. Also manchmal, nicht immer.
So sind sie, die kreativen Ideen. Da hatte sie schon mehrfach drüber gejammert. Braucht man sie, verstecken sie sich. Hat man keine Zeit, lassen sie einem keine Ruhe, denkt sie mal wieder. Erinnert sich ans Schweigeretreat kürzlich: Zwei Songs am ersten Tag. Drei Kapitel eines ihrer Bücher am zweiten. Eine Idee samt ausformulierten ersten drei Kapiteln am dritten ... einige Videos und anderes...
... und auch damals hatte sie sich absolut hilflos gefühlt: SCHREIBEN VERBOTEN!
Tja, die Werke, die unzweifelhaft zu ihren schönsten gehört haben würden, bleiben nun verschollen.
Alle.
Wirklich alle?
Nun ja, alle bis auf eine winzige Zeile.
An die erinnert sie sich noch wie heute.
Die erste Zeile des Refrains ihres ersten Stille-Songs:
"There is no prize to win ... "
...
...
...
Noch während sie in ihrer Erinnerung nach weiteren Fetzen, Melodie oder Rhythmus kramte, erblickte sie aufleuchtende Punkte und Nachrichten. Neugierig blätterte sie durch die Chats ...
... da fiel das Wort Slam ...
... gemeinsam schreiben ...
... schreiben!?????!!!!!!
Sie zuckte zusammen, als sie sich erinnerte, dass sie ja eigentlich einen Text verfassen wollte, für den sie nur bummelig 60 Minuten Zeit hatte. Aber schon wieder hatte sie den Versuchungen der Schreibwelt nicht widerstehen können. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie weitere zehn Minuten verloren hatte ...
Ihr Körper verspannte sich, im Bauch begann unangenehmes Kribbeln. Eins der Schlechtegewissenmonster erinnerte sie daran, dass sie einfach nicht ihrem Vergnügen folgen sollte.
Schreiben ist nicht schreiben.
Also los jetzt, dachte sie, und zuckte ihre Schultern hoch. Wenigstens die letzten beiden Drittel sollte sie sich ernsthaft an die Arbeit machen. Wie stünde sie sonst da, zwischen all den anderen wunderbaren kreativen Ideen?
Lautlos stöhnend spürte sie wieder diese lähmende Hilflosigkeit, die ihr einfach keine kreative Idee erlauben wollte.
Was tun?
Vielleicht ... vielleicht gäbe es was im Chat?
Fragen könnte sie ja mal ...
... oder ein bisserl lurken. Nur so ganzganz kurz. Kann ja nicht schaden.
Oder?
OMG! Zwei sind schon fertig, und ich hab noch nicht mal richtig angefangen, dachte sie und haute nun endlich in die Tasten. Davon kam aber auch keine Idee. Statt dessen brachte es nur ein dilettantisches Durcheinander von Buchstaben auf ihren Bildschirm.
Der Papierstapel schaute unbeteiligt und bleich zu.
Nachdenklich begann sie, ein Blatt zu falten, zu rollen und zu knittern.
Dann glättete sie es wieder.
Das ist heute nicht mein Tag, dachte sie. Oder nicht meine Stunde.
Ich werd dann wohl mal bis zur nächsten Challenge warten ...
Mit diesem Gedanken savte sie und klickte auf "LESEN".