Unter seinem Fenster wartete Iris, probte leise einige Töne, bevor sie sich energisch Gehör verschaffte. Auch der letzte in dem kleinen Gebirgsdorf sollte wissen, dass sie Anspruch auf ihn erhob. Wehe, sollte es jemand wagen, ihr in die Quere zu kommen!
Der letzte Ton war noch nicht verklungen, als die Turmuhr zur Mitternacht schlug. Erschöpft von ihrem Gesang ließ Iris sich ins Gras fallen, spürte ihren Körper, den Fluss des Atems, ihre Zähne. Jede Nacht dasselbe, dachte sie, und gab sich dem Prozess der Verwandlung hin. Ihre Ohren wurden etwas spitzer, ihre Barthaare länger, ihre Beine dehnten sich als seien sie aus Gummi, während sich ihr Rücken krümmte. Mit dem letzten Glockenschlag war die Verwandlung perfekt. Mit einer Pranke schlug sie in die Erde, bewunderte die langen Krallen.
Über ihr wurde ein Fenster geöffnet. Oh, nein, bitte nicht jetzt! Schnell drückte sie sich in den Schatten der Hauswand, daran entlang und um die Ecke, bevor sie es wagte, der Straße die hundert Meter bergauf zu folgen, in den schützenden Wald hinein.
Sie war noch nicht ganz dort, als sie lautes Bellen vernahm und das Hecheln der Speichellecker. Widerliche Kreaturen! Die beiden Rottweiler waren das widerliche Beiwerk, das sie in Kauf nehmen musste, wenn sie um ihren Auserwählten warb. Manchmal hielt sie ihn für ziemlich absonderlich und fragte sich, warum sie ausgerechnet ihn umgarnen musste! Hätte es nicht jemand sein können, der freundlicher zu Katzen ist? Jemand vielleicht mit einem Faible für riesige Werkatzen, die es leicht mit einem Säbelzahntiger aufnehmen können?
Ihre Häscher waren ihr dicht auf den Fersen, als sie den Weg verließ, über ein paar Felsen sprang und sich auf eine alte Buche rettete. Unter die Krone konnten sie ihr nicht folgen. Fürs erste war sie hier sicher. Tatsächlich hatten die Köter ihre Fährte verloren. Dämlich sind sie auch noch, dachte sie, und nahm sich zum wohl hundertsten Mal vor, nie wieder so spät zu ihrem nächtlichen Gesang aufzubrechen.
Kurz vor Morgengrauen erst sprang Iris von dem Baum herunter. Die Hunde hatten sich längst davon gemacht. Ihre Krallen wurden kleiner und kleiner, die Barthaare kürzer, ihre Beine dünner ... bis sie ihre normale Gestalt hatte. So lief sie nach Hause, huschte schnell hinein, bevor Melli aufstand.
Wie gut, dass die nichts bemerkt hatte! Was sie wohl von ihrer Gefährtin denken würde? Wer weiß ... vielleicht fände sie es gar nicht so schlimm, wenn sie von ihrem Fluch erfahren würde. Aber dass Iris Nacht für Nacht zum Haus der Bellmanns schlich, in der Hoffnung, den Älteren einmal doch anzutreffen? Vermutlich würde Melli das nicht verstehen, Katzenliebhaberin, die sie war.
Iris schlich zum Schlafzimmer und sprang auf die Decke, legte sich auf Mellis Brust und leckte ihre Nase.
"He, was soll das?" Das Mädchen schubste Iris zur Seite. "Du bist ja ganz ausgekühlt? Wie kommt das denn, Frollein?" Doch sie hob ihre Decke einladend an. Eine Einladung, die Iris gerne sofort annahm. Sie kuschelte sich an Melli und schlief sofort ein.
Im Traum erschien ihr wieder die Hexe: "Hundertmal verflucht sollst du sein, in deiner wahren Gestalt erweichst du keinen Stein." Iris knurrte und fauchte, aber es nützte nichts. Nur der alte Bellmann verfügte über einen Gegenzauber, der sie erlösen könnte. Das wusste sie genau. Wenn er doch bloß hören wollte! Iris seufzte. Eine Katze hatte es nicht leicht, den Hundefreund zu überreden. Schon gar nicht in Katzensprache. Ob er sie jemals verstehen würde? Sie hatte es so satt, ihr Angorafell immer wieder gegen diese Tigerstreifen auszutauschen. Und so riesig zu werden! Wie sollte sie Melli das erklären? Würde sie ihre Katze dann noch lieben?