Dies ist die Fortsetzung zum vorherigen Kapitel.
Dirks Handy vibrierte auf dem Nachttisch und riss ihn aus dem Tiefschlaf. Er brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass er in einem Hotel war. Beinahe hätte er sich umgedreht, um in aller Gewohnheit dem Menschen neben ihm einen Kuss auf die Stirn zu drücken. Aber es waren nicht die Locken seiner Frau, die unter der Bettdecke hervorschauten, sondern die Kurzhaarfrisur des Mannes, der gestern, ja was eigentlich? Seine Erinnerungen waren lustvoll, aber auch vernebelt. Er konnte nicht mehr genau konstruieren, was passiert war. Hatte er wirklich Sex mit einem Mann? Ausgerechnet mit Frieder, jemand, der wohl nicht mal Teil seines Freundeskreises werden würde, weil er dafür viel zu still, zu ordentlich und zu introvertiert war? Wenn er Sex mit einem Mann hätte ausprobieren wollen, hätte er locker im Fitnessstudio, in dem er trainierte, jemanden finden können. Warum Frieder? Gelegenheit macht Liebe? Die Tragweite dessen, was in der Nacht passiert war, breitete sich langsam in seinem Kopf aus. Er hatte Sex mit einem Kollegen. Schlimmer noch: Er war in der Führung, der andere ein Mitarbeiter, wenn auch nicht bei ihm im Team. Wie könnte er ihm jemals wieder in die Augen sehen? Wäre er erpressbar? Doch noch mehr: Wenn seine Frau davon erfahren würde, was würde sie dazu sagen? Frieder hatte erzählt, dass er einen Freund hat, wie würde der damit umgehen? Oder war Frieder auch jemand, der einfach mit jedem in die Kiste ging, wie die Schwulen, die beim Pumpen im Studio damit sogar prahlten? Und was hatte Frieder überhaupt mit ihm gemacht? Das war bestimmt kein Safer Sex? Musste er jetzt Angst haben, sich irgendwas eingefangen zu haben?
Dirk musste raus aus diesem Zimmer, raus aus diesen Gedanken, weg von den Befürchtungen, die sein Gehirn ihm präsentierte. Er zog seine Sportsachen an, die er extra eingepackt hatte, weil er sowieso morgens joggen wollte. Bevor er das Zimmer verließ, schaute er noch einmal zurück auf das Bett: Frieder schlief so friedlich wie ein Engel, dass man ihm mitnichten hätte böse sein können.
Der Wald präsentierte sich mit bunten Herbstfarben und frischer als erwartet. So lief er nicht nur gemütlich, er rannte schier den Pfad entlang, hinauf auf den Hügel, von dem man eine schöne Aussicht in die Landschaft hatte. Bereits nach zwanzig Minuten erreichte er klatschnass verschwitzt sein Ziel. Kleine Nebelfelder verfingen sich in den Tälern, es sah wunderschön aus. Doch er konnte es nicht genießen, zu sehr lastete die letzte Nacht auf ihm. Wenn die Flucht weg von etwas nicht hilft, dann braucht es eben die Flucht nach vorne. Er entschied, mit Frieder zu sprechen, sog noch einmal die frische Luft in seine Lungen und rannte den Weg zurück ins Hotel.
Frieder gähnte und räkelte sich, als Dirk das Zimmer betrat. „Oh, schon so früh wach und aktiv? Guten Morgen!“
„Das ist kein guter Morgen, wir müssen reden.“ Dirk musste genau hinsehen, um das Fragezeichen zu erkennen, das sich in der sparsamen Mimik des gerade Aufwachenden zeigte. „Was heute Nacht passiert ist.“
„Achso. Das.“
Tat der so, als sei „nichts“ gewesen?
„War es“, stotterte Dirk seine drängendste Frage, „war es, äh...“
„Safe?“ half der Schlanke nach. „Ja!“ Zum Beweis griff er auf den Fußboden und hob das gefüllte Kondom in die Höhe.
In all seiner Unsicherheit hielt sich der Verschwitzte an der Wand fest. „Ich habe gar nicht...“
„Ich habe da Erfahrung. Keine Sorge. Und was eine ordentliche Menge, lange keinen Sex mehr gehabt, oder? Wobei, sportliche Männer produzieren da vielleicht etwas mehr.“ Frieders monotone Stimme passte überhaupt nicht zu dem, was er gerade von sich gab.
Nur mühsam kam Dirks Schlagfertigkeit zurück. „Äh, können wir meine Frau aus dem Spiel lassen?“
„Geht es jetzt noch um deinen letzten Sex mit dir oder überhaupt?“
„Beides!“
„Also gut, du hast Sex mit deiner Frau, und sollte ich sie jemals kennenlernen, bin ich auch nur ein ganz klein wenig eifersüchtig.“
„Eifersüchtig?“ Angst ließ seine Knie weich werden. Was würde Frieder sich hier eigentlich trauen?
Doch der rollte nur mit den Augen. Sein Humor war wohl doch zu trocken. Also entschied er sich für Klartext: „Also, das ist so: Ich hatte eine geile Nacht und du auch.“ Er schwenkte das Kondom noch einmal zum Beweis. „Dass du anziehend wirkst, kennst du von meinen Kolleginnen zu Genüge. Die wollen dich alle im Bett haben. Nun ja, der Zufall wollte es, dass ich das Vergnügen hatte – und ich musste nicht mal danach betteln. Aber Sex ist Sex und Liebe ist Liebe. Wie du das mit deiner Frau klärst, ist mir egal, wie ich das mit C-J“, er sprach die Buchstaben englisch aus, „kläre, ist dir egal. Wir haben eine Absprache dafür, und sie ist ganz einfach.“ Wieder schwenkte er das Kondom.
Das war mehr Information, als der Sportler in diesem Moment verarbeiten konnte.
„Und bevor du jetzt unter die Dusche gehst, was zugegebenermaßen schade ist, weil du verschwitzt sehr sexy aussiehst, gehe ich noch kurz auf die Toilette.“ Er schob die Bettdecke nach unten und ging prächtiger Morgenlatte an Dirk vorbei ins Bad.
Durch die geschlossene Tür fragte Dirk: „Wer ist eigentlich C-J?“
„Christian-Jürgen, mein Freund. Aber er hasst diesen Doppelnamen, deshalb nennen ihn alle C-J.“ Dann ging die Toilettenspülung und das Wasser am Waschbecken.
„Wer hätte es gedacht, wie mein Cousin. Der kann ihn auch nicht leiden.“
Frieder öffnete wieder die Tür. „Nicht wie dein Cousin. Es ist dein Cousin. Zumindest habt ihr den gleichen Nachnamen. Und mit Verlaub, da unten“, er blickte auf das erotische Zentrum seines Gegenübers, „habt ihr auch Ähnlichkeit.“
Zum Glück musste Dirk keine Präsentation halten, denn so sehr wie heute hat es ihm schon lange nicht mehr die Stimme verschlagen.