Meister Johari war ein nachdenklicher Mann. So nachdenklich sogar, dass er sich selbst zu einem der nachdenklichsten Zeitgenossen seiner Zeit zählte. Er fing beim Aufstehen damit an, überlegte was diesen Morgen von all den anderen unterschied, er versucht vorauszusehen, was an jedem seiner Tage geschehen würde. Er war kein Freund der Planung, denn seine bisherige Lebenserfahrung zeigte ihm deutlich, dass keiner seiner Pläne je aufgegangen war. Diese Tatsache raubte unserem Meister schon so manch friedliche Nacht. Seine Gedanken kreisten, während sie händeringend nach einer Erklärung für die Unplanbarkeit seiner Tage suchten. Da Meister Johari an seiner Vorgehensweise nichts zu bemängeln fand, zog er damals also den Schluss, dass es an der Zeit selbst läge. Die Zeit ist ein unzuverlässiges Konstrukt, die es ihm unmöglich machte seine Pläne einzuhalten.
Obwohl Meister Johari ein großer Nachdenker war, hatten seine Erkenntnisse ihm bisher wenig Anerkennung oder Verständnis erbracht. So traf er sich einst mit seinem ältesten Freund. Als er ihm wie unzählige Male zuvor seine neuste Erkenntnis mitteilte, reagierte dieser weder wie von Meister Johari erwünscht, noch kam die ihm schon so vertraute Reaktion seines Freundes.
Die Worte seines Freundes waren viel klarer und direkter als bisher, als dieser zu ihm sprach: „Wir alle wissen, wie nachdenklich du bist, dass ist offensichtlich. Aber es stimmt mich traurig, dass du nicht erkennst, was alle um dich herum schon verstanden haben. Du bist ein unglücklicher, einsamer Grübler. Lass doch das viele Nachdenken sein und fange an zu Leben.“
Für gewöhnlich versuchte dieser in langen, oft sehr verworrenen Reden zu verstehen zu geben, dass er die neusten Ansichten nicht teilte, stimmte eine tröstende Entschuldigung an und beschwor ihn, dass seine vielen Gedanken schon irgendwann Früchte tragen würden.
Diese ungewohnten Worte trafen Meister Johari sehr. Woher nahmen sich all die Leute das Recht zu bewerten wie es im ging? Sahen sie denn nicht, was er sah? Er ging in seiner Wohnung auf und ab, wütend über all das, was er sich nicht erklären konnte. Schließlich blieb Meister Johari an seinem Fenster stehen und sah hinaus. Und je versank er in seinen Gedanken. Stunden vergingen während er dort am Fester stand und das Nachdenken vergaß.
Mein lieber Freund,
die Worte die du zuletzt am mich gerichtet hast, haben mich sehr getroffen. Wahrlich deshalb, weil so viel Wahrheit in ihnen steckte. Heute schreibe ich dir, meinem Freund der so offen zu mir war, folgende Erkenntnis, zu der er mir verhalf:
Ein jeder kennt sich selbst nie gänzlich.
Es gibt Eigenschaften und Verhaltensmerkmale, die jedem bekannt sind, Anderen und einem selbst. Es gibt jene Eigenschaften und Merkmale, die einem selbst verborge bleiben, andere jedoch bewusst wahrnehmen. Und obwohl du mein Freund wohl Dinge über mich weißt, die mir selbst verborgen bleiben, weißt auch du vieles nicht von mir. Denn so wie es Dinge gibt, die nur anderen bewusst sind, so existiert auch in mir etwas, dass keinem außer mir bewusst ist.
Und schließlich bliebe da noch das was mir zugegeben am schwersten fällt es zuzugeben: Die Unkenntnis. Jenes das weder ein anderer noch man selbst über sich weiß.
Ich muss dir danken. Vor deinen Worten war ich ein Nachdenker. Ich erzwang die Gedanken. Sollten sie mir doch die alles umfassende Erkenntnis verschaffen. Nun finde ich sie im Leben.
Dein Johari
__________________________________________________________________________________________
Kurze Anmerkung zum Text:
Für alle Kenner und um "Noch nicht Kenner" von ihrer Unkenntnis zu befreien - mein Text bedient sich inhaltlich von Teilen eines Modells in der Sozialpsychologie, dem Johari Fenster. Es wird unter anderem zur Demonstration über die Unterschiede in der Selbst - und Fremdwahrnehmung herangezogen.
__________________________________________________________________________________________