Unsicher sieht der graue Wolf zum düsteren Eingang. "Ich weiß nicht ..."
Der Knochenknurpsler sitzt neben ihm und kratzt sich mit einer Hinterpfote am Ohr. "Keine Panik! Stell es dir wie einen Albtraum vor."
"Das tue ich!", beteuert der Graue. Er ist ein Stück kleiner als der Knochenknurpsler, hat glatteres Fell und ist auch weniger bräunlich. (Die Fellfarbe besteht beim Knochenknurpsler aber vermutlich überwiegend aus Schlamm.) Außerdem ziehen sich vier dunkelrote Narben mitten über seinen Rücken, auf denen kein Fell wächst.
"Siehst du?", fragt der Knochenknurpsler. "Das Ganze ist also halb so schlimm!"
"Wir haben sehr unterschiedliche Auffassungen von Albträumen", stellt der Graue fest. Seine Ohren zucken nervös.
Der Knochenknurpsler knurrt und rollt mit den Augen. Dann ändert er die Taktik. "Du willst doch wissen, was wir unseren Lesern hier anzubieten haben, oder, Marv?"
"J-ja, schon ..."
"Und du willst sichergehen, dass wir hier die perfekte Mischung aus Drama, Gemetzel und Humor haben, nicht wahr?"
"Deshalb wollte ich ja einen Testcharakter reinschicken!"
"Und dann konntest du dich nicht entscheiden, wen du für die erste Runde wählen wolltest", fährt der Knochenknurpsler fort. "Und hier sind wir nun."
"Ich habe mir das irgendwie anders gedacht", murmelt Marvin kleinlaut.
"Sieh es als gute Möglichkeit, deine Wolfslore zu nutzen!", schlägt der Knochenknurpsler vor.
"Wolfslore?" Marvin spitzt die Ohren. "Heißt das etwa ...?"
"Ja, da drin darfst du deinen Sternengesang und deine Blutmond-Verwandlung nutzen."
Marvins Blick verfinstert sich. "Hört auf, das so zu nennen! Du lässt es wie eine Sailor-Moon-AU klingen! Das eine ist ein Gebet, das selten erhört wird, und das andere die Gabe eines Königswolfs, um sein Rudel zu schützen!"
"Ja, jaah!" Der Knochenknurpsler gähnt gelangweilt. "Klingt nach Sailor Moon, wenn du mich fragst."
"Ich lasse nicht zu, dass du das Erbe der Sternwölfe derartig in den Schmutz ziehst!", knurrt Marvin und springt auf.
Ein breites Grinsen teilt das dunkle Gesicht des Knochenknurpslers, als der kleinere Grauwolf mit angelegten Ohren durch die Pforte in die dunkle Halle tritt.
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Kaum, dass Marvins Pfoten den Boden der Halle berührt haben, flammen Fackeln entlang der Seiten auf. Mit donnernden Schlägen fallen die Tore hinter ihm ins Schloss und quetschen ihm beinahe die Schwanzspitze ein.
Blinzelnd versucht der Wolf, etwas zu erkennen.
Doch die ersten Schemen, die sich aus der blendenden Helligkeit schälen, sind nicht dazu angetan, ihn zu beruhigen. Mit gesträubtem Fell knurrt er. Menschenwohnungen!
Im ersten Raum des Parcours erheben sich zehn kleine Wohnhäuser. Es gibt Zäune, Wege und dürres, blasses Gras. Neben den Fassaden stapeln sich Müllsäcke. Verfärbter Schneematsch hält sich in wenigen Winkeln, ein Sinnbild der zerstörten, schmelzenden Natur in der Nähe jedes Menschenreviers.
Während Marvin noch mit hämmerndem Herzen dasteht wie ein Reh im Scheinwerferlicht, öffnen sich knarzend die Türen der Häuser und heraus treten die riesigen, schwerfälligen Gestalten auf zwei Pfoten und mit kräftigen Vorderpfoten, in denen sie seltsame Äste tragen.
"Wooolf!", schreien sie drohend wie aus einem Mund. Dann stürmen sie mit Geschrei vorwärts.
Marvin reißt die Augen auf und wetzt dicht am Boden zur Seite. Die Rute wirbelt den Staub zwischen seinen Hinterpfoten auf. Steine prasseln gegen seinen Kopf und seine Seite, aber er springt unbeirrt über einen Zaun.
Ein lauter Knall zerreißt die Luft und der Holzbalken neben Marvin splittert unter der Wucht eines Einschlags.
Panisch japst der Wolf und wirft sich unter einen nahen Busch. Auf dem Bauch robbt er vorwärts und winselt dabei ängstlich. "Oh, Jupiter, lass mich hier nicht sterben! Lunis, ich flehe dich an, rette mich! Hilfe!"
Die Menschen trampeln den Zaun nieder und stechen mit etwas ungelenken Bewegungen in den Busch, in den der Wolf abgetaucht ist. Metallische Zähne zerreißen Blätter und Äste und bohren sich in die trockene Erde darunter.
Marv ist allerdings bereits ein Stückchen weiter und tapst so leise wie möglich unter dem Busch hervor und um die nächste Hausecke. Dann zögert er keine Sekunde, sondern sprintet wieder los, hinter den Häusern entlang zur anderen Seite dieses ersten Raumes.
Dort gibt es ein weiteres, viereckiges Tor. Der Wolf wirft keinen Blick zurück und jagt hindurch.
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Keuchend hält er an. Seine Pfoten treffen auf angenehm kühlen Schnee. Flocken treiben durch die Luft und tanzen um die Atemwolken, die der hechelnde Wolf ausstößt.
Zunächst lässt er sich bäuchlings in die weiße Pracht fallen, um sich abzukühlen. In seinen Ohren klingelt der Schuss noch nach. Sein Herzschlag beruhigt sich nur allmählich.
"Nie wieder", stellt er fest. "Ich höre nie wieder auf den Knochenknurpsler!"
Dann zuckt er zusammen, als ihm klar wird, dass der Parkour noch nicht abgeschlossen ist. Alarmiert sieht er sich um.
Vor seinem Blick erstrecken sich endlose, schneebedeckte Hügel mit vereinzelten Tannen und kleineren Wäldchen. Von den Wänden kann er nur die hinter sich erkennen, die weiß angestrichen ist, um in der hellen Umgebung zu verblassen. Die Türen haben sich hinter ihm geschlossen.
Vorsichtig steht er auf. Im gleichen Moment erklingt ein lautes, hohes Heulen.
Wolfsgeheul. Marv spitzt die Ohren und lauscht auf das Lied:
"Still im Eis - Seht, wer zu uns sich wagt.
Still im Eis - Nun, Freunde, auf die Jagd!
Still im Eis - Versperrt den Weg zum Wald.
Still im Eis - Sein Herz verstummt schon bald."
Nervös schluckt Marvin. Er erkennt den Ruf wieder - es handelt sich um gewöhnliche Grauwölfe, Kanonikos. Ihr Gesang ist wenig ermutigend.
Er antwortet mit einem dünnen, nervösen Heulen:
"Hey, Leute ... ich bin einer von euch ...
Wir können doch über alles reden ...?"
Allerdings erhält er keine Antwort außer dem Klagen des Windes. Auf den Hügelkuppen erheben sich wie Dornen schwarze Schatten. Marvins gelbe Augen zucken über die Linie des Horizonts, als er versucht, ihre Zahl abzuschätzen.
Zu viele.
Viel zu viele!
Nervös trappelt er auf der Stelle. "Knochenknurpsler? Kannst du mich hören? Komm schon, das ... das muss doch nicht sein!"
Stille.
"Ich weiß, das sind keine echten Wölfe, aber ... Ach, lass mich jetzt einfach hier raus. Testrunde abgeschlossen!"
Noch immer kommt keine Antwort. Marvin schnürt den Hang hinunter und trabt durch ein flaches Tal. Die Wölfe sind außer Sicht, aber er weiß, dass sie nun beginnen, den Ring um ihn zu schließen.
Ratlos weicht er zur linken Seite auf und sprintet schneller durch den Schnee, dicht am Boden und immer durch die Talsohlen, um unsichtbar zu werden.
Plötzlich erscheinen zehn Wölfe an einem Hang über ihn und grinsen auf ihn herunter.
Marv bleibt stocksteif stehen. "Ähh ... dann habt ihr das wohl geahnt." Er wirbelt herum und hetzt auf den nächsten Hügel. Blutgieriges Japsen verrät ihm, dass auch dort bereits Jäger sind. Also macht er einen flinken Haken, huscht in ihrem Rücken hindurch und rennt auf ein weites, offenes Feld ...
... voller Wölfe.
"Sternlose Nacht!", flucht Marvin und sucht panisch nach einem Ausweg. Er entdeckt einen schwarzen Felsen, der mitten aus dem Schnee aufragt, und springt darauf zu. Während eine wahre Flut an Wölfen auf ihn zurennt und ihn einkesselt, kann er auf den verdächtig praktischen Stein springen und mühsam auf die Spitze kraxeln. Dann späht er nach unten, wo Wölfe mit wilden, gelben Augen am Felsen hochspringen und nach ihm schnappen.
Marvin atmet tief durch und legt die Ohren entschlossen an. "Also gut, Knochi. Du sagtest, das würde hier funktionieren ..."
Marvin legt den Kopf in den Nacken und schickt sein eigenes, wortloses Lied zu den Sternen über sich. Leicht klagend trägt seine Stimme über die Schneelandschaft, übertönt sogar das Knurren von unten.
Und die Sterne ... antworten!
Ein vielstimmiges Geheul donnert durch die Luft und am Himmel entflammen Polarlichter in glühenden Strahlen. Marvin reißt die Augen auf und das Licht unzähliger leuchtender, geisterhafter Wölfe spiegelt sich in seinem Blick. In silbrigen und goldenen Linien gezeichnet rennt ein großes Rudel vom Himmel herunter und über die Pfade aus Lichtern zur Erde. Ihre Augen strahlen in hellem Rot. Wie eine Flut gleiten sie in das realere Rudel am Boden und reißen die Wölfe mit sich.
Aber Marvin ist noch nicht fertig. Während die Sternwölfe, seinem Ruf folgend, den Felsen umspülen, senkt der kleine Grauwolf den Kopf und schließt die Augen.
"Jupiter ...", murmelt er leise. "Bitte."
Ein großer, runter Vollmond erhebt sich über den Horizont. Doch er ist nicht weiß, sondern blutig rot, kurz vor einer Mondfinsternis.
Marvin hebt den Blick und seine vorher gelblichen Augen erstrahlen im gleichen Rot, das nun die weißen Hügel wie zum Sonnenuntergang verfärbt.
Ein Schauer geht durch Marvs Fell und er stößt sich vom Gestein ab. Höher und weiter, als ein gewöhnlicher Wolf springen könnte, fliegt er über die Köpfe der Kanonikos. Seine Pfoten setzen im Schneegestöber auf und er rennt mitten zwischen geisterhaften Sternwölfen und jaulenden Grauwölfen hindurch. Schneller als der eisigste Windhauch rast er über die Hänge und immer weiter geradeaus. Keiner der Kanonikos kann ihm folgen, doch die größeren, glühenden Sternwölfe setzen sich mit ruhigen Sprüngen an seine Seite.
Endlich sieht er mehrere schwarze Stämme vor sich. Der Wald, von dem die Grauwölfe gesungen haben. Marvin überwindet den letzten Hügel, der ihn von seinem Ziel trennt, und will sich schon freuen.
Da sieht er die bläuliche Eisfläche vor sich.
Die Sternwölfe gleiten schwerelos über den zugefrorenen Fluss und verblassen. Am Himmel wird der Blutmond von der Mondfinsternis verschluckt und im gleichen Moment stolpert Marvin und seine überwölfische Geschwindigkeit löst sich auf.
Er tapst an den Rand des Gewässers.
Eis ... Winter ... ein Krachen ... schrille Schreie ... Stille ...
Winselnd weicht er zurück und schließt die Augen. "N-nein ..."
Als er sich umdreht, sieht er die Wölfe wie eine schwarze Woge nahen. In einem Halbkreis nähern sie sich dem Fluss, um Marvin jeden anderen Ausweg abzuschneiden.
"Dafür werde ich Knochenknurpsler die Zähne stutzen!", murmelt Marvin und wendet sich der Eisfläche zu.
Vorsichtig setzt er eine Pfote auf das Eis.
"Jupiter, schütze mich ...", flüstert er. Aber der Blutmond ist erloschen.
Das Eis knackt bedrohlich. Marvin hält inne. Panisch sieht er auf den Fluss, schätzt seine Länge, dann sieht er zurück.
Er legt die Ohren an und gibt sich einen Ruck. Mit einem todesmutigen Sprung fliegt er über die Eisschollen. Unter seinem Gewicht geben sie sofort nach. Marvin rutscht über Eis, eine Pfote tritt ins Wasser. Er jault auf, krabbelt flach über die Scholle. Mit panischem Blick und weit aufgerissenem Maul rennt er vorwärts. Scharfkantige Zacken zerschneiden seine Ballen. Er springt über die Lücken, die sich zwischen den Schollen auftun. Unter dem Weiß offenbart sich tintenschwarzes, aufgewühltes Wasser. Plötzlich kippt das Eisstück, auf dem er läuft, zur Seite und wirft ihn in die eisige Tiefe.
Die Kälte trifft ihn wie ein physischer Schlag. Marvin schnappt nach Luft und schluckt Wasser. Panisch strampelt er zurück zum Licht, doch sein Kopf stößt nur gegen Eis. Die Schicht schließt sich über ihm.
Seine Hinterpfoten versagen ihm den Dienst. Mit hämmerndem Herzen und ohne Luft tastet er nach einer Lücke. Die Strömung des dunklen Flusses reißt ihn mit sich. Da, plötzlich, bricht seine Pfote über die Wasseroberfläche. Sofort stößt er den Kopf hinterher und ringt um Atem. Die Strömung schleudert ihn gegen die Seite der nächsten Scholle. In seinem Kopf dreht sich alles, doch er schlägt die Zähne in das Eis, während sein Körper unter Wasser gezogen wird. Mit reiner Willenskraft hält er sich über Wasser. Die Kälte nimmt ihm den Atem. Blut läuft über sein rechtes Auge. Sein Körper wird taub.
Die Schollen stoßen krachend gegeneinander. Die Scholle mit Marv bockt, doch plötzlich spürt er Widerstand unter den Pfoten. Blind und ohne Gespür stößt er sich ab und kommt auf die Scholle. Er sieht Ufer neben sich und wirft sich dorthin. Nur mit den Vorderbeinen, da die Hinterpfoten sich nicht mehr bewegen lassen, zerrt er sich auf das Ufer.
Hechelnd und zitternd liegt er auf der Seite. Nur langsam dringt das frustrierte Jaulen der anderen Wölfe an sein Ohr. Er ist ihnen entkommen!
Doch nun muss er sich der Kälte stellen. Sein klatschnasses Fell spürt er nur noch auf den Schultern, der restliche Körper ist taub. Humpelnd und unsicher tapst er in den Wald. Zwischen den Stämmen findet er immerhin Schutz vor dem eisigen Wind. Eine verwässerte Blutspur zieht sich durch den Schnee hinter ihm. Kraftlos, halb robbend zieht er sich weiter.
"K-k-knochenknurpsler ... b-bitte ..."
Vor seinem verschwommenen Blick schält sich die nächste Tür aus dem Dickicht der Tannen. Mit tiefhängendem Kopf tritt Marvin zu ihr. Die Bäume dahinter entpuppen sich als bloße Zeichnung, als er die Tür erreicht. Er zittert so heftig, dass er kaum noch eine Pfote vor die andere setzen kann. Mit der einzigen Hoffnung, dass es dahinter wärmer ist, schleppt er sich durch die Pforte.
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Ein dunkler Raum oder eine Höhle. Marvin kann es gar nicht genau erkennen. Er schnappt bibbernd nach Luft.
Dann leuchten vor ihm zwei gelbe Augen mit geschlitzten Pupillen auf. Sie schweben ein ganzes Stück über ihm in der Luft und ihr Abstand lässt auf ein großes Gesicht schließen.
Ein tiefes, grollendes Knurren lässt den halb erfrorenen Wolf erstarren. Seine Augen weiten sich.
"Oh, nein ..."
Brüllend und fauchend schlägt ihm eine gewaltige Flamme entgegen. Marvin ist viel zu entkräftet, um dem Feuerstoß auszuweichen.
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"Das war doch gar nicht schlecht."
"Was. War. DAS?!" Marvin kommt auf die Beine und sieht sich panisch um. Sein Herz rast. Sein Fell ist gesträubt.
Allerdings ist sein Fell trocken. auch von den Verletzungen spürt er nichts. Er befindet sich wieder vor dem Eingang zum Deathrun.
Ihm gegenüber sitzt der Knochenknurpsler und macht ein paar Notizen auf einem angesabberten Notizblock. "Zwei von drei Räumen. Ich würde dir gratulieren, wenn ich nicht wüsste, dass der erste Raum reines Geplänkel gewesen ist."
Marvin schnappt immer noch nach Luft und versucht, seinen Herzschlag zu beruhigen. Sein Fell ist gesträubt. "Du hattest einen DRACHEN! Woher?! Und war war mit diesem Riesenrudel los? Wie-wieso die Menschen?!"
"Auf einer Skala von 1 bis Entsetzlich, wie würdest du dein Erlebnis einordnen?", fragt der Knochenknurpsler interessiert.
"NIE. WIEDER!"
"Weichei", brummt der Schlammwolf. "Na gut, du bist fertig. Schick mir das nächste Opfer rein!"
Zittrig erhebt sich Marv auf die Pfoten und taumelt durch das Sumpfland fort von der Arena.
"Hast du gehört?", ruft der Knochenknurpsler ihm hinterher.
Er bekommt keine Antwort. Marvin knurrt ein unschuldiges Schilfrohr an, das seine Seite gestreift und ihn zu Tode erschreckt hat, dann kippt er in eine morastige Pfütze.
"Uh-oh", murmelt der Knochenknurpsler. "Sylas, bist du hier? Wir müssen den Wolf reparieren, bevor Lyssa oder der Autor was mitbekommen!" Dann senkt er die Stimme und murmelt: "Ganz vergessen, dass der ja nichts aushält."