Beitrag zur Sixty-Minutes-Challenge zum Prompt "Am Ende des Winters"
25.02.2001 Hanau
Tränen rinnen Katha über die Wangen.
„Mir ist so kalt“, flüstert sie, die Hände um den kleinen Leib geschlungen.
„Ich weiß.“ Es gibt keine Worte des Trosts, die ich ihr geben kann. Mir scheint, als ob ich sie in den letzten Tagen alle verbraucht habe. Stumm schließe ich meine Schwester in die Arme, drücke sie an mich und versuche sie zu wärmen.
„Ich kann versuchen, ein Feuer anzuzünden“, murmle ich, wohl wissend, dass ich nach Dutzenden von Versuchen doch wieder aufgeben werde.
„Ich will nach Hause, Anna“, wimmert das kleine Mädchen in meinem Schoß. Sie fiebert. Ich kann die Hitze, die ihr winziges Gesicht ausstrahlt, zwischen meinen Händen spüren.
„Du musst etwas trinken, Katha“, ermahne ich sie und halte ihr die Wasserflasche an die Lippen. Sie dreht den Kopf weg. Ihre Lippen sind gesprungen, ihre Haut trocken.
„Ich will zu Mama und Papa“, heult sie. Die Tränen quellen unter ihren geschlossenen Augenlidern hervor und laufen heiß zwischen meinen Fingern hindurch.
„Wir können nicht.“ Ärgerlich wische ich meine eigenen Tränen fort. Ich darf keine Schwäche zeigen! „Sie werden dich und mich wieder trennen und wegschicken. Das lasse ich nicht zu.“
Auf meinem Schoß schüttelt Katha den Kopf. „Nein, dorthin will ich nicht, aber ich will zu Mama und Papa.“ Sie versteht es nicht. Wie soll sie auch? Sie ist ja erst fünf. Nur ein Kind, das nichts von dem weiß, was um sie geschieht. Ich bin ihre große Schwester. Ich bin für sie verantwortlich. Aber wie soll ich sie schützen? Wie soll ich uns nur hier fort bringen aus dieser Hütte im Wald, wohin wir uns geflüchtet haben, weil unsere Familie von einem Moment auf den anderen zerrissen ist. Eigentlich verstehe ich es auch nicht. Wie hat es soweit kommen können? Es soll alles einfach wie vorher sein. Den Schmerz überlebe ich schon. Aber ich will sie nicht verlieren. Nicht Katha, nicht sie. Nicht den kleinen Schatz, der mich die letzten Jahre hat überstehen lassen und den sie mir haben nehmen wollen. Ich konnte es doch nicht zulassen, oder? Sie alleine unter fremden Menschen. Sie braucht mich, braucht uns, eine Familie, die für sie da ist.
Länger kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. „Ich auch“, wispere ich eine Aussage, die ich noch Wochen zuvor niemals gesagt hätte. Aber wie hätte ich auch ahnen können, dass es jemals soweit kommen würde? Und dann ist da diese andere Seite in mir, die nur einen ohnmächtigen Zorn auf meine Eltern verspürt. Zorn, weil ich und nicht sie es gewesen sind, die Katha da raus geholt haben. Noch jetzt sehe ich den erstarrten Blick meiner Mutter, die nichts sagt, nichts tut, sondern mich nur ansieht, während das Auto immer weiter davon fährt. Und mein Vater…Auch er, der doch mein Held gewesen ist, hat mich nur in den Arm genommen und mir gesagt, dass ich jetzt stark sein muss. Auch er hat zugelassen, dass sie uns mitnehmen. Ich glaube, dass dies die Seite der Erwachsenen ist. Die Seite des Kindes in mir schreit nach der Sicherheit eines Vaters, der mich in den Arm nimmt und mir sagt, dass alles gut wird. Sie schreien in mir, streiten sich und führen einen immerwährenden Krieg um die Oberherrschaft. Zwei Seiten. Ein Krieg. Eine Person. Und ich weiß nicht mehr, wer ich bin.
Stumm wiege ich Katha in meinem Armen.
„Soll ich dir eine Geschichte erzählen?“, frage ich.
Sie öffnet die Augen und starrt mich an.
„Was denn für eine Geschichte?“
Ich beiße mir auf die Unterlippe und ärgere mich, dass ich mir vorher keine Geschichte überlegt habe.
„Eine Geschichte eben.“
„Nein.“ Meine Schwester schließt die Augen.
„Ich mag den Winter nicht“, erklärt sie zusammenhangslos, „Er ist so kalt.“
Es ist tatsächlich kalt. Vor ein paar Tagen hat es geschneit, aber ich habe gelernt, dass Kälte und Wind sehr viel schlimmer sind. Wenn ich mich aus der Hütte wage, knirschen die gefrorenen Blätter und mein Atem dampft in der Luft. Zwar sind die Bäume nicht mehr als kahle Wesen, die sich im Wind rütteln und schütteln und Katha mit ihrem Tanz Angst einjagen, aber die Sonne dringt trotzdem kaum zu uns hinab, so wenig scheint sie. In der Nacht kuscheln wir uns aneinander, um uns zu wärmen. Wir sind abhängig voneinander. Ohne Katha wäre ich nie hier.
„Was ist denn deine Lieblingsjahreszeit?“ Mit einem Lächeln streiche ich ihr über das Haar, das fettig und verfilzt ist.
„Sommer“, antwortet sie ohne zu zögern, „Dann muss ich nicht so früh ins Bett und wir fahren an den Strand in Urlaub, oh und wir machen Lagerfeuer. Magst du den Sommer?“
„Sicher“, erwidere ich, auch wenn es eine Lüge ist. Der Sommer ist die Zeit, wo meine Mutter sich auf einmal daran erinnert, dass wir doch eine Familie sind und ganz viele Ausflüge plant, die zumeist eh im letzten Moment an irgendwelchen Kleinigkeiten scheitern. „Aber noch mehr mag ich den Frühling.“ Den Frühling, wo das Leben erwacht, die Tage länger werden und draußen die Kirschbäume in den Alleen blühen. Es kommt mir manchmal so vor, als ob sich die Familie, nachdem wir den Winter über aufeinandergehockt haben, entspannt und für einige kostbare Monate Frieden herrscht. Dieser Winter war schrecklich. Aber folgt auf einen blutigen Winter ein friedlicher Frühling, oder schleppen wir alle die Wunden der Vergangenheit mit in die Zukunft?
Ich erzähle Katha von dem Tag, an dem sie geboren ist, versuche ihr meine Liebe durch Beschreibungen der Vergangenheit zu offenbaren, weil die Zukunft für mich ungewiss und die Gegenwart nicht begreifbar ist.
In meinem Armen schläft sie ein, während der Wind durch die klapprige Hütte heult und an der Tür rüttelt. Ich bin unglaublich stolz auf sie. Die erste Nacht hatte sie solche Angst, dass sie nicht einschlafen wollte. Die Kälte zieht durch die Holzbalken zu uns hinauf. Ich habe zwar an Decken aber nicht an eine Matratze oder eine andere Form der Unterlage gedacht. In den Büchern finden sie immer Stroh oder Reisig. Bücher erzählen nicht von der eisigen Kälte, dem Loch, das ich für unseren Klogang habe ausheben müssen und den klammen Fingern, mit denen sich kein Feuer anzünden lassen will. Jetzt würde ich mit all diesen Büchern allzu gerne einen Scheiterhaufen anzünden, der uns einfach nur warm werden lässt.
Besorgt lausche ich auf Kathas unruhige Atemzüge, auf das fiebrige Husten und beobachte wie sich ihr Pullover vom Schweiß dunkel färbt.
„Katha?“ Ich rüttle ihre Schulter, das Herz rasend. Ihr Atem ist so still. Es ist, als wäre ich alleine hier. Panik. Verdunkelt meine Wahrnehmung. Schweiß rinnt in Bächen meinen Nacken hinab. Katharina. Schwestern.
„Katha?“ Stoff zerreist in meinen Händen, so fest zerre ich an ihrer Schulter.
Ein Husten.
Ich atme wieder.
„Katha!“
Sie richtet sich auf und blickt mich an.
„Was ist denn?“
Ich sinke zurück auf unser Lager, verberge mein Gesicht in meiner Jacke. Ich muss doch stark sein, für sie.
„Hey.“ Ihre kleine Hand schiebt sich in die meine. „Nicht weinen, ja?“
Ich lächle, wische mir die Tränen, die nicht sein dürfen, weg. „Ich weine doch nicht.“
„Du lügst.“ Ihr kleiner Körper kuschelt sich an den meinen. Ich kann die Wirbel ihres Rückens spüren, die sich gegen meinen Bauch pressen. Als eine Geste des Schutzes lege ich meinen rechten Arm über sie, wo unsere Hände sich irgendwo vor ihrem Bauch berühren und sich ineinander verschlingen. Eins.
„Sie dürfen dich nicht nehmen. Das lasse ich nicht zu“, flüstere ich, auch wenn sie mich nicht länger hört. Das ist mein Schrei, mein Versprechen und mein Gute-Nacht-Gebet. Es ist das Einzige, was ich ihr jetzt geben kann und doch mehr als genug.
Irgendwann schlafe auch ich vor Erschöpfung ein…
…und erwache davon, dass die Tür der Hütte sich öffnet.
Ich will mich aufrichten, aber da ist die Person schon über uns und nimmt mich in ihre Arme.
„Anna.“ Diese Stimme. Niemanden habe ich mir mehr gewünscht, niemanden für unwahrscheinlicher gehalten.
„Fabi.“ Nur mühsam gelingt es mir, die Augen zu öffnen, als wäre jede Kraft aus ihnen geschwunden. „Du bist doch in Nürnberg.“
„Fabi.“ Katha schlingt ihre dünnen Arme um unseren großen Bruder und vergräbt ihr Gesicht in seinem Pullover.
„Ich kann doch meine Mädchen nicht alleine lassen.“
„Fabi.“ Nun rinnen mir die Tränen offen über die Wangen. Ich kann nicht länger eine Stärke vorspielen, die ich nie besessen habe.
„Ich habe es doch versprochen“, flüstert er, „dass ich auf euch aufpasse.“
Und in diesem Moment weiß ich, dass alles gut werden wird. Mein großer Bruder ist da und durch die offene Tür fällt helles Sonnenlicht.
Irgendwann endet auch die schlimmste Eiszeit.
Vielleicht auch in meinem Herzen.
Irgendwann.