Beitrag zur Sixty-Minutes-Challenge zum Prompt "Sandkastenliebe"
13.3.2020, Lübeck
Laut hallt der Name meiner Tochter über den Spielplatz des Kindergartens. Doch der blonde Lockenkopf in der roten Regenjacke taucht nicht auf. Ich werfe ein schiefes Lächeln zu der Erzieherin, die soeben einem Kind aufgeholfen hat.
Die junge Frau grinst und deutet zum Klettergerüst, das halb hinter der Ecke des Geräteschuppens verschwindet. „Sie versteckt sich bestimmt wieder.“
Natürlich. Mit einem Seufzen schreite ich über den Rasen zum Klettergerüst inmitten einer großen Sandfläche. Einige Kinder, die dieses Spiel zwischen Mira und mir schon kennen, feixen und rufen meiner Tochter Warnungen zu. Zwischen den Holzbalken des kleinen Turms blitzt es rot auf. Möglichst geräuschvoll nähere ich mich und rufe dabei immer wieder laut: „Mira! Wo hast du dich nur versteckt?“ Um ihr den Spaß zu bieten, schaue ich zunächst an der Wippe vorbei und kommentiere lautstark, dass sie hier wohl doch nicht ist.
Doch das vertraute Kichern fehlt, im Holzgerüst bleibt es still.
Nachdenklich runzle ich die Stirn, während ich immer näher komme.
„Mira?“
Ich klettere über die Holzabsperrung der Sandkiste. Der Sand rieselt zwischen meine Stiefel und reibt an meinen Fußsohlen. Ich bin froh, wenn ich endlich wieder barfuss über den Meeresstrand laufen kann. Was sicherlich bald sein will, jetzt wo der Frühling mit raschen Schritten näher kommt.
Meine Hand berührt das Holz und ich bewege mich möglichst leise bis zu dem Turm, in dem sich meine Tochter verschanzt hat.
„Kuckuck!“, rufe ich, als ich die Öffnung erreicht habe und spähe hinein. Mira sitzt mit dem Rücken zu mir, neben ihr ein fremder Junge. Ihre schmalen Wirbel zeichnen sich unter dem roten Regenmantel ab. Sie erscheint mir immer noch so klein und zart. Ich kann kaum glauben, dass sie nächstes Jahr bereits in die Schule kommt. Es scheint erst gestern gewesen zu sein, als der Arzt sie mir in die müden Arme gelegt hat. Meine Tochter.
„Mama!“, protestiert sie, „Du bist viel zu früh. Du sollst wieder gehen!“ Mira dreht sich nicht einmal um, stattdessen ist sie völlig vertieft in etwas, was ich nicht sehen kann. Der fremde Junge wirft mir einen fast feindseligen Blick zu, als wäre es ein Verbrechen, ihr Spiel zu unterbrechen.
Ich schiebe meinen Jackenärmel zurück, um auf die silberne Armbanduhr zu blicken, die mein Mann mir zu unserem fünften Jahrestag geschenkt hat. „Es ist genau 12 Uhr, Liebling. Die Spielzeit endet um diese Zeit und das weißt du auch.“
Ich kann sehen, wie sich ihr Körper unter dem Mantel anspannt und der Kopf herabsinkt. Ihre Stiefel kratzen über das Holz, als sie sich langsam umwendet. Flehend sehen ihre blauen, großen Kinderaugen zu mir auf.
„Bitte Mama. Kann ich zum Mittagessen bleiben?“ Eifrig deutet sie auf den Jungen. „Timon bleibt auch und auch Lana und Maxi, Hannah und..“ Fragend sieht sie zu Timon. „Isst Mio auch Mittag?“
Die Worte des Jungen werden von einer Niesattacke unterbrochen. „Ich weiß es nicht“, nuschelt er.
„Gesundheit“, lache ich, denn jetzt verstehe ich, worin das Problem besteht. Ich bin froh, dass meine Tochter, die häufig etwas einzelgängerisch ist und sich mit mehreren Kindergartenkindern nicht sonderlich gut versteht, nun einen Spielkameraden gefunden hat. Und dennoch müssen wir jetzt nach Hause.
Ich stemme die Hände in die Hüften und tue extra empört. „Und wozu habe ich dann den Pfannkuchenteig gemacht?“
Ihre Augen fangen an zu strahlen. „Es gibt Pfannkuchen?“, versichert sie sich.
„Ja.“
Misstrauisch runzelt die Stirn. „Aber nicht die von Papa, oder? Sondern Omas Re-rezept. Das mit den Äpfeln.“ Sie wendet sich Timon zu. „Das von Papa schmeckt nämlich nicht“, erklärt Mira ihm, „Mama kann die viel besser.“
„Na, dann bin ich froh, dass ich heute für das Mittagessen verantwortlich bin. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn Papa dich heute abgeholt hätte.“
Meine Tochter beißt sich auf die Unterlippe. Ich kann sehen, wie es in ihr arbeitet. Hin und her gerissen blickt sie abwechselnd zu mir und zu ihrem Spielkameraden.
„Können wir nicht noch fünf Minuten spielen?“, bettelt sie.
Lächelnd schüttle ich den Kopf. „Die anderen räumen doch auch schon auf.“
Sie legt den Kopf schief und setzt ihr allerliebstes Lächeln auf. Bei meinem Mann funktioniert dies häufig, aber ich bin mittlerweile abgehärtet. Dennoch schmilzt mir bei diesem Anblick das Herz. Ich bin so glücklich, sie und meinen Mann zu haben und liebe meine Tochter über alles.
Nachdenklich mustere ich den Jungen, dessen Gestalt hinter ihr im Schatten des Holzturms verschwindet.
„Was haltet ihr davon, wenn ihr euch heute Nachmittag zum Spielen trefft?“
Mira beginnt zu strahlen. „Oh ja!“, jauchzt sie.
„Dann kann ich dir Maja vorstellen“, bestürmt sie ihren neuen Freund, „Du brauchst keine Angst haben. Sie schleckt dir nur gerne das Gesicht ab. Aber nur, weil sie dich mag.“
Zögernd nickt der Junge. „Ich muss meine Mama fragen.“
„Mach das“, ermuntere ich ihn. „Unsere Telefonnummer steht ja in der Kindergartenliste.“
„Ich würde sehr gerne kommen“, erklärt Timon und blickt strahlend zu meiner Tochter. Na da haben sich aber zwei gefunden, denke ich. Es wäre wirklich schön, wenn Mira in ihrem letzten Kindergartenjahr noch einen guten und ihr ebenbürtigen Freund finden würde. Vielleicht könnten die beiden ja auch in eine Klasse kommen, damit sie die aufregende Schulzeit gemeinsam erleben können. Doch darüber kann ich später auch noch nachdenken. Noch kenne ich den Jungen schließlich kaum. Und auch wenn ich der Menschenkenntnis meiner Tochter gewöhnlich vertraue, können sich auch Kindermeinungen schnell ändern. Was Alex wohl sagt, wenn unsere Tochter ausnahmsweise einen Jungen nach Hause bringt? Ich bin mir jetzt schon sicher, dass der eine oder andere Spruch nicht fehlen wird.
„Hast du denn schon Hunger?“, fragte ich Mira und breite meine Arme aus.
Meine Tochter umarmt ihren neuen Freund, springt auf und stemmt die Hände in die Hüften. „Ich habe doch immer auf Pfannkuchen Hunger.“ Mein Mann würde sagen, dass sie mir in diesem Moment ähnelt, aber ich finde, dass sie diese Haltung eindeutig von ihm hat. Dieses überzeugende, die Körperhaltung…Ich bin jetzt schon gespannt auf dass, was einmal aus ihr werden wird. Aber ich bin sicher, dass meine Mira ihren Weg finden wird.
„Na klar“, entgegne ich, „Und deswegen habe ich sie auch gemacht. Extra für dich.“
Ein Kichern ertönt, dann springt Mira aus dem Turm und in meine Arme. Ihre schmalen Arme klammern sich um meinen Hals, ihr Körper presst sich gegen den meinen und ein kleiner Schmatz findet seinen Weg auf seine Wange.
„Ich habe dich lieb, Mama“, flüstert sie.
„Ich dich auch, mein Schatz“, entgegne ich und streiche ihr mit der freien Hand über die blonden Locken.
Mira winkt ihrem neuen Freund ein letztes Mal zu, dann begeben wir uns Arm in Arm auf den Heimweg.