Ausschnitt aus dem zweiten Kapitel des Romans.
Ich beobachte meinen älteren Bruder, während ich ihm helfe, den Frühstückstisch abzuräumen und versuche, seine Stimmung zu erahnen. Ist er traurig, weil wir fahren? Oder erleichtert? Wahrscheinlich beides. Wir schweigen, während wir Marmeladen, Nutella und Honig in Schränken verstauen und die Spülmaschine einräumen. Nur das Klappern des Geschirrs und der Schränke, sowie das Knarren der alten Dielen durchdringt die Stille.
"Ich bin froh, dass du deine Familie hast, Anna", meint er plötzlich. Das schmutzige Glas, das ich soeben einräumen wollte, noch immer in der Hand, drehe ich mich zu ihm um. Fabian stellt Avedis' unbenutzten Teller zurück in den Schrank, bevor er mich anblickt.
"Und auch Katha ist das, auch wenn sie das nicht unbedingt zeigt."
Die Kante des Küchenwagens drückt spitz in meinen Rücken, als ich mich dagegen lehne. In diesem Moment merke ich das kaum.
"Letztendlich wollen wir doch alle nur das beste füreinander. Wenn du mit deiner Familie glücklich bist, dann freut mich das. Katha dagegen mag mit ihrem Job glücklich sein."
Und womit bist du glücklich, großer Bruder, überlege ich. Es ist eine Frage, die ich mir häufig stelle. Eigentlich jedes Mal, wenn ich ihn sehe. Ich muss zurückdenken an diesen einen Tag in Dänemark. Drei Hände, aufeinander zugestreckt, ineinander verschlungen und einander haltend. Wir werden immer aufeinander aufpassen, haben wir uns damals versprochen, die Herzen voller Träume über die Zukunft, fern von den Sorgen der Vergangenheit, die wir in diesem Moment weit fort wähnten. In Wahrheit, das verstehe ich jetzt, hat sie uns nie verlassen. Und wie gut kann man ein neues Haus auf alten Trümmern bauen? Manchmal habe ich Angst, dass all dies nur eine Illusion ist, die sich allzu bald auflösen wird. Dass die Liebe zu Daniel, unsere kleine Tochter all dies mich verlassen wird, so wie vieles zuvor.
Ich merke, dass mein Bruder mich anstarrt.
"Tschuldige", murmle ich, "Ja, du hast Recht."
Zufrieden nickt er, bevor er mir eine Hand auf die Schulter legt.
"Ich will nur, dass es dir gut geht und dass du glücklich bist" Leicht amüsiert muss ich grinsen. Ein leiser Aufschnauber, den ich sofort bereue, als ich seinen verletzten Blick sehe, entkommt meinen Lippen.
Fabi verschränkt die Arme vor der Brust. "Was ist?"
Immer noch grinse ich. "Ich finde es süß, wenn du versuchst, mich zu beschützen."
Versuchst. Es ist egal, ob wir uns nur dreimal im Jahr sehen. Noch immer sind wir sind gut darin, in Minen zu treten und die leichten Nuancen in den Worten des anderen zu erkennen. Auch wenn ich dies noch nicht einmal bewusst ausgedrückt habe, hört er doch das 'Du versuchst es zwar, aber es gelingt dir nicht' heraus. Einmal waren wir in Frankreich im Urlaub und haben in einem Laden einen Glaser gesehen, der aus Glas wunderbare Kunstwerke in schillernden Farben herzustellen vermochte. Gefleht und gebettelt habe ich, bis mein Vater mir ein steigendes Pferd aus Glas gekauft hat, immer den Hinweis 'sei bloß vorsichtig' auf den Lippen. Im ersten Monat nach dem Urlaub war es bereits kaputt. Isi hatte es hinunterfallen lassen und ich stand fassungslos vor den Scherben. Von außen hatte das Pferd so stark und majestätisch gewirkt, aber es hatte nur diesen einen Stoß gebraucht, um nichts als Scherben übrig zu lassen. Bei uns ist es genauso. Das Schlimme ist, dass ich nicht wieder aufhören kann, wenn ich einmal begonnen habe. Das sind dann die Momente, wo ich mich selbst einfach nur verabscheue.
"Es ist schön, dass du auch mal Verantwortung übernimmst, großer Bruder", entgegne ich und bereue diese Worte schon in demselben Moment. Ich will nicht streiten, sondern einfach nur jene Sicherheit zurück erhalten, die ich seit meiner frühsten Kindheit selten erlebt habe. Aber die Erinnerungen sind zu stark. Sie legen sich über jedes Bedauern und halten den Schmerz meiner Kindheit auf ein Podest, das "Sieger" heißt.
Inmitten von benutztem Geschirr, Miras wild verstreutem Spielzeug und einer unordentlichen Küche stehen wir uns gegenüber, die Körper zueinander gewandt, aber unsere Geister prallen voneinander fort. Die Vergangenheit hat eine Mauer gebaut, die wir beide nicht durchbrechen können. Ich würde so gerne auf ihn zugehen, ihn einfach in den Arm schließen und ihm sagen 'Ich liebe dich', doch mein Körper ist wie erstarrt. Es ist, als wären wir wie zwei Schachfiguren in Schwarz und Weiß, nur Marionetten der Vergangenheit, die uns immer wieder aufeinander zustößt, damit wir uns gegenseitig schlagen und niederwerfen.