Beitrag zur Sixty-Minutes-Challenge zum Prompt "Zu neuen Ufern"
Hanau, 03.08. 2006
Als es an meiner Zimmertür klopft, sehe ich von meinem Schreibtisch auf.
„Herein.“
Die Tür wird geöffnet und mit einem breiten Grinsen tritt mein Bruder ein.
„Hey.“ Ich lächle ihn kurz an, bevor ich mich wieder meiner Zeichnung zuwende. „Hat Mama sich wieder beruhigt?“
Fabian tritt hinter mich. „Du weißt genau, dass sie sich niemals beruhigt.“
„Da hast du auch wieder Recht.“ Ich bin froh, dass mein Bruder zu Besuch ist. Nicht nur dass er meinen altersschwachen Laptop wieder zum Laufen gebracht und sich dabei über die Massen alter Dateien aufgeregt hat, er entspannt auch mich. Endlich gibt es in diesem Haus jemanden, mit dem ich wirklich reden und in den Wald flüchten kann.
„Sie hat gefragt, was du am Wochenende vorhast.“
Ich verdrehe die Augen. „Ich habe ihr schon mehrfach gesagt, dass ich ein Blockseminar habe.“
„Hast du das.“ Der Ton in seiner Stimme veranlasst mich dazu, mich umzusehen. An die Heizung gelehnt, steht Fabi da, als ob ihm dieser Raum gehöre, als ob er wieder ein Teil der Familie wäre. „Mit welchem Thema denn?“
„Das steht es in meinem Terminkalender“, erwidere ich und runzle die Stirn. „Ich glaube äh Modellbau.“
Fabian greift nach dem hellgrünen Kalender mit den Rankenmustern und schlägt ihn auf. „Merkwürdig“, murmelt er, „Hier steht etwas von Digitaler Darstellung, was auch immer das sein soll.“
„Ja, dann das“, seufze ich, „Dann ist Modellbau das Blockseminar danach.“
Er räuspert sich. „Sehr geehrte Frau Lassen. Mir scheint, als ob Sie ihr Studium nicht mit dem benötigten Ernst betreiben.“
„Sehr geehrter Herr Khudaverdiyan. Ich glaube angesichts ihrer eigenen Studienleistung dürfen Sie sich kein Urteil über die meinige erlauben.“
„Nun, im Gegensatz zu Ihnen habe ich meinen Master bereits und…“
„Und deine vier Semester zusätzlich erlauben dir ein besseres Urteilsvermögen, was?“
Fabi geht nicht darauf ein, aber seine Augen blitzen. Mein Bruder hat dieses undefinierbare Grinsen im Gesicht, das selbst die Traurigkeit, die immer in seinem Blick liegt, wenn er hier ist, vergessen lässt.
„Und aus genau diesem Grund erkenne ich genau, dass Ihre Gedanken von etwas anderem gefangen genommen werden. Ich glaube das hier, kann die Situation wohlmöglich klären.“
Aufmerksam sehe ich ihn an. In diesem Augenblick zeigt er den Brief, den er zuvor hinter seinen Rücken verborgen haben musste.
„Ist das?“ Ich springe von meinem Schreibtisch auf, hechte zu Fabi und muss kurz darauf beobachten, wie der Brief außerhalb meiner Höhe gehalten wird.
„Bitte Fabi.“
Mein Bruder stupst gegen meine Nase. „Wir werden ihn gemeinsam öffnen, okay?“
Ich lasse meine Hände sinken, als mir der Gedanke kommt, dass da ja auch noch die andere Möglichkeit gibt.
„Was ist, wenn es eine Absage ist?“, frage ich ihn.
Immer noch lächelnd schiebt Fabi mich auf meinen Schreibtischstuhl und drückt mich hinab.
„Niemand wird es wagen, meiner reizenden Schwester eine Absage zu erteilen. Sonst kriegt er es mit mir zu tun.“
„Sehr witzig.“ Ich starre zu dem Brief in seinen Händen hinauf und beiße mir auf die Unterlippe. „Nur schade, dass das die Schreiber der vorigen Briefe nicht wussten. Sie sagen doch kaum hundert Leuten zu.“
„Ach Anna.“ Er streicht mir über das Haar, eine seltene Geste. Fast automatisch entspanne ich mich. „Ich habe dich doch nicht umsonst ermutigt, es zu versuchen.“
Er greift über meine Schulter hinweg, nimmt sich eine Schere von meinem Tisch und reicht mir diese mitsamt dem Brief.
Ich starre auf den Umschlag, auf der das Logo der Hochschule für bildende Künste Hamburg prangt. Es ist nicht der erste Brief, den ich erhalten habe, aber auch die Erfahrung kann mir die Nervosität nicht nehmen. Es ist wieder eine Absage, davon bin ich überzeugt. Was aus meiner Mappe kann sie denn überzeugt haben?
Mit zitternden Fingern schiebe ich das Blatt Papier von mir und ignoriere, dass ich dabei die Kohlezeichnung darunter völlig verwische.
Es ist Fabian, der mir die Schere aus den verkrampften Fingern nimmt und den Umschlag öffnet. Ich knabbere an meinen Fingernägeln und blicke zu ihm auf. Ein strahlend weißes Blatt Papier kommt zum Vorschein, durch das schwarze Druckschrift schimmert.
Mein Bruder sieht mich an. Ich bin so dankbar, dass er jetzt bei mir ist, auch wenn ich nicht in der Lage bin, es auszudrücken.
Er räuspert sich. „Sehr geehrte Frau Lassen, wir freuen uns, Ihnen einen Studienplatz im oben genannten Studiengang anbieten zu können. Alle wichtigen Informationen…“ Er bricht an und sieht mich an.
Wie erstarrt sehe ich zu ihm auf.
„Anna.“ Er schüttelt meine Schulter. „Das ist eine Zusage.“
„W-Was? Eine Zusage?“ Ich lange nach oben und reiße ihm den Wisch aus der Hand. Ihre Bewerbung für das 1. Fachsemester Bildende Künste/ Bachelor zum Wintersemester 2006/2007 lautet die Überschrift. Darunter folgt der Text, den Fabi bereits verlesen hatte.
Stumm falle ich ihm in die Arme. Seine starken Arme umfassen mich, drücken mich an seine Brust und halten mich.
„Du hast es geschafft, Anna“, flüstert er.
Überglücklich nicke ich, den Kopf immer noch in seinem Pulli vergraben. „Zwar nicht Nürnberg aber immerhin.“
Er haucht mir einen Kuss auf die Stirn. „Ich wollte nie, dass du zu mir kommst, Anna. Du sollst deinen eigenen Weg gehen und mir nicht folgen.“
„Du hast Recht. Jetzt muss ich es nur noch Mama und Papa beibringen.“ Das ist ohne jeden Zweifel der unangenehmste Teil. Noch ganz genau weiß ich, wie stolz Papa war, als ich die Zusage für mein Architekturstudium in Frankfurt bekommen habe. Von meinen Bewerbungen an Kunsthochschulen in ganz Deutschland habe ich ihnen beiden nichts erzählt. Nur Fabi. Nur meinem großen Bruder.
Er stößt mich von sich, bis wir wieder eine Armlänge voneinander entfernt sind, dann beugt er sich herab, bis wir auf einer Höhe sind.
„Anna. Vergiss die beiden einfach, ja. Mach deine Entscheidung nicht von ihrem Urteil abhängig.“ Er tippt auf den Brief in meiner Hand. „Das ist dein Traum. Erfüll ihn dir. Du hast schon zu lange so viel aufgegeben. Lass die ganze Scheiße hier hinter dir.“
Ich senke den Kopf, starre auf das Blatt in meiner Hand. Wenn ich den Studienplatz annehme, bedeutet das einen Bruch mit den Erwartungen meiner Eltern und ist ein erneuter Beweis dafür, dass mein Leben zum Scheitern verursacht ist. Fabian hatte nie solche Skrupel. Er ist einfach gegangen, kaum dass er mit der Schule fertig war. Nicht leise, nein. Mit viel Geschrei, Gebrüll und Schützengräben von Argumenten, zwischen denen ich zu vermitteln versuchte. Aber ich konnte ihn nicht halten, nie blieb er länger als für kurze Besuche. Für mich, die jüngere Schwester, war das eine Qual.
„Katha wird ganz alleine sein“, fasse ich den eigentlichen Grund, weshalb ich die ganze Zeit über geblieben bin, in Worte. Meine kleine Schwester ist erst zwölf. Ich will nicht, dass sie das gleiche durchmachen muss wie ich.
„Sie wird es verstehen“, erklärt er, auch wenn das nichts erklären kann.
„Ich habe es nicht verstanden, Fabi. Warum du gegangen bist.“
Er geht nicht darauf ein. Natürlich nicht. Mein Bruder ist ein Meister darin zu flüchten. „Es zerstört dich, Anna. Du hast mir vorgeworfen, egoistisch zu sein. Ja. Aber manchmal muss man egoistisch sein, um sich selbst zu schützen. Opfere dich nicht für das Wohl der Familie.“
Auch wir bewegen uns in festgefahrenen Linien. Es sind immer wieder dieselben Argumente, die er und ich gebrauchen und uns gegenseitig vorwerfen. Manchmal wünsche ich mir, dass jemand das Feld unserer Beziehung einmal zuschütten und neu ausbreiten würde. Aber es geht nicht. Wir sind wir und das können wir nicht ändern.
Die Freude über die Zusage ist unter einem Berg von Sorgen begraben worden.
Mein Bruder bemerkt die Veränderung. Wenn er will, kann er sehr aufmerksam sein.
Er nimmt mir das Blatt aus der Hand, legt es auf den Schreibtisch und umfasst meine Hände mit den seinen. Ernst sieht er mich an.
„Du steuerst dein Leben, Anna. Jeder hat Winde, nachdem er sein Leben ausrichten muss. Du bist jung, Anna. Fliege mit dem Wind deiner Träume, solange es dir noch möglich ist.“
Ich drücke seine Hände, versuche zu äußern, was mir mit Worten nicht gelingt und spüre die Last der Verantwortung schwer auf mir lasten. Irgendwie finde ich schon einen Weg.