Diese Szene entstand im Rahmen der Challenge "Gleich und doch anders" von Maria und Lyndis..
Challenge-Buch: https://belletristica.com/de/books/22879-challenge-buch-gleich-und-doch-anders/chapter/98606-vorwort-die-challenge
Die Promptgeschichte wurde von meinem Hauptprofil Limayeel eingereicht
https://belletristica.com/de/users/1291-limayeel#profile
Es ist ein Auszug aus der Geschichte: "Das Tor des Mondes (Novelle, die Callinger-Saga 1), Kapitel VII" (https://belletristica.com/de/books/17308-das-tor-des-mondes/chapter/70342-vorwort)
25. Mai 2016, Hanau
Eine Krähe steigt mit lautem Krächzen auf und kreist über uns. Als dunkler Schatten zieht sie ihre Kreise vor der Wolkendecke, die sich zunehmend verdunkelt. Feuchtigkeit dampft zwischen den Bäumen im Lichte der letzten Lichtstrahlen.
Wir stehen uns gegenüber. Weit hinter uns bimmeln die Kirchturmglocken. Von den Bäumen wird der Klang verschluckt. In Wirklichkeit sind es keine fünfhundert Meter.
Wir schweigen.
Er trägt noch den schwarzen Anzug, unpassend in dem Wäldchen. Die Schuhe sind ganz verkratzt und verschlammt.
Ich sehe wahrscheinlich nicht besser aus. Stolpernd und fluchend bin ich ihm gefolgt. Die Pfade, die mir früher so vertraut gewesen sind, sind lange überwuchert und die Wildnis hat das gewonnen, was wir ihr einst abgerungen haben. Wie von selbst sehe ich hinauf zu der dicken Eiche, deren Stamm wir auch zu dritt niemals umfassen konnten. Unter den grünen Blättern und Ästen ragen verfaulte Bretter hervor, Überreste einer alten Plattform. Haben andere Kinder diesen Platz für sich erobert, nachdem wir ihn verlassen hatten?
Er folgt meinem Blick nicht, sieht mich nur an. Bruder. Als Kind kannte ich jede Einzelheit seines Gesichts, aber das Gesicht des Mannes ist das eines Fremden.
„Was tust du hier?“
Ich antworte nicht. Wie soll ich ihm Worte geben, die ich selbst nicht finden kann?
Den Stock in seiner Hand bemerke ich erst jetzt. Es ist ein stabiles Stück Holz, eben jene, wie er sie früher immer gesammelt hat, um aus ihnen Wurfspeere und Schwerter zu schnitzen. Für mich selbst hatte er damals einen Bogen aus Haselnuss geschnitzt, den ich auch noch besaß als das Holz zu spröde und ich zu kräftig geworden war, um ihn noch länger zu spannen.
„Du willst, dass ich zurückgehe. Soll ich ebenso sterben wie Papa?“ Die Worte schmerzen, auch wenn ich weiß, dass die Trauer aus ihnen spricht. Sie verbindet uns. Er will es nur nicht wahrhaben.
Ich hebe die Hand, strecke sie ihm entgegen und lasse sie auf halbem Weg wieder sinken.
„Er ist auch mein Vater.“
„War“, entgegnet er trocken, den Blick auf den Boden gerichtet.
Ich gehe nicht darauf ein. Eben noch saßen wir nebeneinander auf einer Bank in der Friedhofskapelle, starrten auf den Sarg, vor dem ein Bild von unserem Vater zwischen den Fuchsien, die unsere Mutter ausgewählt hatte, stand. Jetzt sind wir hier. In dem Wald hinter dem Haus, wo wir aufgewachsen sind. Wo wir Räuber und Gendarm gespielt, ein Baumhaus gebaut und uns gegenseitig Geheimbotschaften geschrieben haben. Aber in diesem Moment sehen wir nicht das Baumhaus, wir sehen ein leeres Kinderzimmer und Blutspuren im weißen Schnee. Verziehen hat er es mir nie. Ich war auf einmal erwachsen geworden.
„Wahrheit.“
Er schnaubt auf. „Deine Wahrheit? Oder die ihre, deren Argumente du wiederkäust? Du hast sie doch geschickt. Sein Schlaganfall war kurz nach ihrem Besuch. Es war wieder einer der idiotischen Versuche, die Familie zu vereinen.“
„Ja“, flüstere ich heiser, spreche die Schuldvorwürfe, mit denen ich mich insgeheim seit Erhalt der Nachricht quäle, aus, lasse sie Wirklichkeit werden,
Er schüttelt den Kopf.
„Geh zurück in dein eigenes Reich. Zu deinem Mann, deinem Kind und komme nicht wieder her.“
Jedes einzelne Wort ist ein Schlag, der Schmerzen in meinem Inneren verursacht. Liebe ist es, die mich den Blick dennoch erhoben halten lässt. Ich sehe ihn an. Immer noch.
„Es stimmt nicht, was du eben gesagt hast.“ Die Hände, die ich eben noch unruhig geknetet habe, werden ruhig. Wie erstarrt stehen wir uns gegenüber. Ich fahre in meinen Worten fort. Mein Bruder unterbricht mich nicht. „Dass die Familie immer schon zerbrochen und unsere Beziehungen in jeder Hinsicht zum Scheitern verurteilt war.“ Ich halte inne, sehe ihn an, meinen Bruder. „Sie ist zerbrochen, als du uns aus deinen Gedanken und deinem Herzen verbannt hast und einfach gegangen bist.“
Zwischen uns liegen nicht mehr als Blätter, ein paar Äste, was uns trennt, sind Verletzungen, die wir uns gegenseitig nie haben vergeben können. Ich überbrücke die Distanz mit einem schnellen Schritt. Wenn Vergessen und Vergeben nur ebenfalls so leicht wäre.
„Ich habe sicherlich nicht alles richtig gemacht, aber ihn liebe ich genauso wie du.“ Noch einen Schritt. „Aber du bist gegangen, Fabian. Wie du immer gehst, wenn es Schwierigkeiten gibt. Den Zorn in dich hineinfressend und all jene von dir weisend, die dir nur helfen wollen.“ Wieder hebe ich die Hand, strecke sie nach ihm aus, nach dem Gesicht, das ich früher so oft mit Küssen bedeckt habe
Ich spüre seinen Blick auf mir, den Schmerz, der mir aus ihm entgegenbrüllt. Wir beide trauern. Aber die Trauer vereint uns nicht, wie ich es gehofft hatte. Über die Jahre sind wir uns fremd geworden.
Er hebt seine Linke und für einen Augenblick weiß ich nicht, ob er meine Hand wegschlagen oder sie ergreifen wird. Doch dann lässt er sie sinken, dreht sich um und geht an mir vorbei.
Ich bleibe stehen. Der Schmerz ist ein Dolch, der mir die Worte nimmt. Stumme Tränen rinnen mir über die Wangen, während mein Bruder im Dickicht verschwindet. Er geht zurück zum Friedhof, wo seine Frau und seine beiden Söhne warten. Mit ihnen wird er fortfahren, fern in die bayrische Provinz. Mir bleiben nur Erinnerungen und Fotos, die nichts mehr als Abklatsche der Wirklichkeit sind.
Stumm hebe ich den Stock auf, den er fallen gelassen hat, streiche über die Rinde, versuche die Wärme seiner Hände einzufangen und festzuhalten. Aber alles, was ich vorfinde, ist nasses rottendes Holz, aus dem alles Leben gewichen ist. Ruckartig lasse ich den Stock fallen, wende mich ab und verlasse den Platz meiner Kindheit, auf dessen Spuren mein Bruder mich geführt hat. Wenn ich ankomme, wird er fort sein. So wie immer. Weil wir beide verlernt haben, miteinander zu reden und uns zuzuhören.
Über mir beginnt es zu donnern und kurz darauf setzt der Regen ein. Er wird jede Fußspur fortwaschen, bis nichts mehr von unserer Begegnung im Wald zeugt. Nur der Schmerz erinnert mich weiter daran. Mit jedem Schritt erneut.
Ich weine.