Beitrag zur Sixty-Minutes-Challenge zum Prompt "Besuch aus der Vergangenheit"
21.3.2020, Lübeck
Die Uhr tickt. Das leise Geräusch erfüllt den Raum, gibt ihm Rhythmus und einen Hauch von Leben, der anzeigt, dass jemand da ist, der diese glänzende Uhr aufzieht und sie pflegt. Tick. Tack. Für den Moment ist es das lauteste Geräusch. Fast kommt es Anna vor, als ob dieses Ticken mit dem Herzschlag ihrer Mutter übereinstimmt. Es mag leise sein, doch ist es stetig und unüberhörbar. Tick. Tack.
Die Uhr steht auf dem Fensterbrett zwischen zwei Blumentöpfen, aus der jetzt die ersten Pflanzen sprießen. Sie weiß nicht, wie sie heißen. Ihre Mutter würde es wissen. Früher hatte sie Anna immer mit hinaus genommen. Über Wiesen und Felder waren sie gelaufen und ihre Mutter hatte ihr die verschiedenen Pflanzen und ihre Besonderheiten erklärt. Früher. Es war eben früher. Jetzt ist die lebhafte Stimme von Wiebke Lassen fast vollständig verstummt. Der überschwängliche Lebensmut ist einer Stille gewichen, die Anna als bedrohlich empfindet. Tick. Tack. Nach der Stille war stets der Sturm gefolgt und Anna fürchtet diese Stürme noch heute.
Tick. Tack. Mit einem Seufzen erhebt sie sich von dem Holzstuhl und beginnt in dem Zimmer umher zu laufen. Ihr Blick fällt auf das ordentlich gemachte Bett, die bunte Blümchentapete und den Teller Kekse auf dem kleinen Tisch. Zuletzt bleibt er an den Fotos über dem Bett hängen. Nur kurz streift ihr Blick das Abbild jenes Mädchens ganz rechts, dann wendet sie sich den anderen zu. Fabians Lächeln, Katharina beim Fußballspielen, ihr Vater am Grill. Momente eingefangen in schwarze Rahmen.
„Dein Vater war hier.“ Die Stimme ihrer Mutter durchbricht die Stille und übertönt für einen Moment selbst das Ticken der Uhr. Doch nur für den Moment. Wieder ein Augenblick der Stille, in dem Anna sich zu ihrer Mutter umwendet und sie anblickt.
„War er das.“ Nur schwer gelingt es ihr, diese Worte auszusprechen.
„Ja!“ Die Augen der alten Frau leuchten. „Wir haben Rommé gespielt, ganz so wie früher.“
Anna lässt sich auf die Bettkante sinken, wobei sie darauf achtet, nur auf dem Holz zu sitzen.
„Wir haben Rommé gespielt, als er mich seinen Eltern vorgestellt hat, habe ich dir das schon erzählt?“
Das Nicken ihrer Tochter nimmt die Frau in dem Korbstuhl nicht wahr. Sie kichert. „Ich hatte Angst zu gewinnen. Es ist doch unhöflich, den Vater des Freundes zu besiegen, dachte ich mir. Und dann hat Ralf doch gewonnen. Ganz zum Schluss. Wir alle waren so überrascht. Wir dachten, er hätte ein schlechtes Blatt. Ja ja, so ist er, dein Vater.“
Für einen Moment kann Anna ihn vor sich sehen, wie er am Tisch ihres Einfamilienhauses sitzt und seiner Tochter Rommé erklärt. Sie schiebt die Erinnerung fort. Es ist leichter alles zu vergessen, als die schönen und die schlechten Erinnerungen voneinander zu trennen.
Wie stets wenn sie ihre Mutter besucht, ist es, als würde die Vergangenheit zur Gegenwart werden. Und wie immer ist sie froh, wenn sie aus der Tür hinaustreten und nach Hause fahren kann, wo ihr in dem Lächeln ihrer kleinen Tochter die Zukunft entgegenstrahlt. Hier, in dem Zimmer ihrer Mutter lauern nur Erinnerungen, die sie mehr als alles andere vergessen will.
„Wer hat denn heute gewonnen, Mama?“, fragt sie leise.
Verwirrung legt sich auf die Züge ihrer Mutter. „Ich weiß es nicht.“ Nervös beginnt sie, ihre Hände zu reiben. „Ich weiß es nicht. Weißt du noch, wie Fabian die Karten einmal in den Mülleimer geworfen hat, weil du ihn immer besiegt hast? Es war die Tonne draußen, deswegen haben wir sie nicht gleich entdeckt. Wir haben uns doch alle gefragt, wo die Karten waren! Dein Vater hat sie gefunden, das weiß ich noch. Heute mussten wir die Karten auch erst einmal suchen. Jemand hat sie versteckt.“
Immer wieder gleiten Annas Finger durch den Ring ihres Autoschlüssels, an dem ein Fischanhänger hängt, den ihre Tochter aus Filz mit ihr geschnitten hatte.
„Mama?“, fragt sie erneut, „Was war am 17. Mai vor drei Jahren für ein Tag?“
„Im Mai sagst du?“ Schweigen. Tick. Tack. „Der Mai ist immer besonders schön!“, erklärt sie. Ihr Blick verliert sie irgendwo in den grauen Betonwelten, die sich hinter dem Fenster auftun. „Da blühen die Felder so wunderbar, weißt du? Und die Hecken bei den Schneiders fangen an zu blühen. Wir sollten sie mal wieder besuchen, nicht wahr. Frauke geht es nicht so gut, das hat mir ihr Mann vor ein paar Tagen erst erzählt. Dein Vater geht samstags immer mit ihm angeln. Ich frage mich, warum sie in letzter Zeit keinen Fisch gefangen haben.“ Wieder liegt da diese Verwirrung in ihrem Blick. Es schmerzt Anna, ihre Mutter so zu sehen und wie immer fühlt sie sich hilflos. Sonst ist ihre Mutter immer so stark und unnahbar gewesen, jetzt ist sie einfach alt. Der einst so lebhafte Geist dreht sich nur noch um die Gestalten der Vergangenheit, die in diesem Raum für immer gefangen sind und nicht mehr unter dem freien Himmel wandeln.
„Ich habe dir eine Frage gestellt, Mama“, beharrt Anna.
„Oh, die habe ich wohl vergessen. Sagst du sie mir, Schatz?“
Die Frau auf dem Bett zuckt zusammen, als sie dieses Kosewort hört. Wieder einmal kann sie es nicht ertragen. Anna springt auf. Ihre Schritte werden schneller, rastloser, als sie immer und wieder dieselben Bahnen abläuft.
„Du bist heute so hibbelig. Nun setz dich doch einmal“, kommentiert ihre Mutter sogleich.
Anna geht nicht darauf ein.
„Was war am 17. Mai 2016, Mama?“
Wiebke schüttelt über das Verhalten ihrer Tochter den Kopf. „Das hast du eindeutig von deinem Vater! Der konnte auch nie stillsitzen. Ich weiß noch, als er…“
„Papa ist tot, Mama!“
Die Frau in dem Korbstuhl erstarrt. Ihre Blicke wenden sich der jüngeren zu. Eine Hand wird halb erhoben, dann sinkt sie wieder herab auf die rote Plüschdecke, in die eine Pflegerin sie gewickelt hat.
Sanftheit und Liebe liegen in ihrem Blick, als sie ihre Tochter mustert. „Hast du wieder einen Albtraum gehabt, Schatz? Na komm, das ist gar nicht wirklich passiert. Du hast nur geträumt.“
Ganz langsam streckt sie die Arme zu ihrer Tochter aus. Der Ehering an ihrem Finger schimmert in dem Licht, das durch das Fenster hereinfällt.
Anna steht an der anderen Seite des Zimmers, den Körper halb zu ihrer Mutter hingedreht und halb zur Tür gewendet.
„Mama, ich…“ Die Worte ersterben, noch bevor sie diese ausspricht. „Ich…“ Erneutes Schweigen, das nur durch das Ticken der Uhr unterbrochen wird. Tick. Tack. Das Geräusch verursacht Anna eine Gänsehaut, bringt so viele Dinge wieder an die Oberfläche ihrer Erinnerung, die sie nur vergessen will.
Noch immer sind die Arme ihrer Mutter ausgestreckt, der Kopf zu ihrer Tochter gewandt. Liebe liegt in ihrem Blick, ihrer Haltung, ihrer Stimme, als sie erneut beginnt, sie von den vermeintlichen Albträumen zu trösten. Doch es ist eine Liebe, die Anna nicht ertragen kann. Zu oft wurde ihr diese bereits versagt, zu oft hat sich ihre Mutter um anderer willen von ihr abgewendet, als dass sie sich jetzt auf ihren Schoß setzen und immer noch das kleine süße Mädchen spielen könnte.
„Es tut mir leid“, flüstert sie. Ihre linke Hand ist zur Faust geschlossen, sie spürt die Kanten des Autoschlüssels und den weichen Filz des Anhängers, der sich sanft zwischen die härteren Kanten legt. Mit der anderen umfasst sie den Türgriff. „Ich muss gehen.“
Ein letzter Blick zu den geöffneten Armen ihrer Mutter, dann fällt die Tür hinter ihr ins Schloss.
Keuchend lehnt Anna sich gegen die Wand und schenkt der Pflegerin, die vorbeigeht, ein knappes Lächeln. Tick. Tack. Noch immer kann sie es hören. Das Ticken ihrer Vergangenheit, das sie niemals verlassen wird, egal wie oft ihre Tochter sie anlächelt und ihr Ehemann sie küsst. Sie sind da. Die Wunden. Und sie werden niemals verschwinden, egal wie weit und wie oft sie flieht.
Aber sie wird fliehen.
Immer und immer wieder.