Beitrag zur Sixty-Minutes-Challenge zum Prompt "Zerbrechlichkeit"
Lübeck, 2.7.2014
„Du hast es gleich geschafft.“ Beruhigend redet Alex auf mich ein, doch die Worte dringen kaum durch meinen schmerzumwirbelten Verstand. Er drückt meine Hand und streicht mir die Haare aus der schweißnassen Stirn, als wolle er mir so zeigen, dass er auch in diesem Moment bei mir ist. Für mich ist dies kaum wahrnehmbar. Mein Körper erzittert unter der Macht der Wehe, die sich gleich der Brandung ihren Weg durch meinen Unterleib sucht. Stöhnend klammere ich mich an meinen Ehemann, quetsche seine Finger zwischen den meinen.
„Ich kann nicht mehr“, stöhne ich und spüre erleichtert, dass die Wehe abklingt und ihre Intensität verliert.
Auf wackligen Beinen erhebe ich mich und laufe langsam im Kreis, wobei Alex mich stützt. Nervös befeuchtet er seine Lippen mit der Zunge, sein Blick wandert im Sekundentakt von meinem Gesicht zu meinem prallen Bauch. Fast ein wenig belustigt erkenne ich, dass er mit dem für ihn so ungewöhnlichen Wortschwall nicht nur mich sondern vielmehr sich selbst beruhigt. Mein Mann ist angespannter als ich.
„Möchtest du noch ein Bad?“, fragt er zum wiederholten Mal, aber ich schüttle nur den Kopf. Das Einzige, was ich will, ist dass es endlich vorbei ist. Das dünne Hemd klebt schweißnass an meinem Körper, die Haare hängen wirr um mein rotes Gesicht, mein ganzer Unterleib ist verkrampft und das kleine Wesen in mir drängt sich ins Leben. Ich kann die kleinen Füße spüren, die gegen meine Bauchdecke trommeln. Zwischendurch ist das Kleine ruhiger geworden, als wäre es ebenso wie ich erschöpft, aber mittlerweile ist davon wenig zu merken. Mein Erstgeborenes ist willensstark, erscheint es mir.
„Geht es wieder?“ Besorgt beugt sich Alex über mich, legt die Hand auf meinen Bauch und beginnt ihn sanft zu massieren, während ich mich an der Wand des Kreißsaales abstütze und aus dem kleinen Fenster blicke. Der Sommerwind, der die Vorhänge aufbauscht, bringt keine Erholung mit sich, sondern wirbelt die stickige Luft nur neu auf. Es ist ungewöhnlich heiß diesen Sommer und die Sonne prallt mit voller Wucht auf das Eckzimmer ein.
„Ich glaube schon“, beginne ich, als eine erneute Wehe mich erfasst. Keuchend suche ich Halt an der Wand, die rau unter meinen Fingern liegt.
„Anna.“ Wieder redet er auf mich ein, die Hände verzweifelt erhoben und ich muss lachen und weinen zugleich, vor Schmerz, vor Anspannung, vor Freude über diesen Anblick und zugleich voller Erwartung.
„Du machst alles nur komplizierter.“ Ich keuche auf, taste mich bis zu dem Geburtsstuhl und lasse mich vorsichtig hineingleiten.
„Komm Kleines“, murmle ich, während ich mit den Händen meinen straffen Bauch massiere, „Gleich ist es soweit.“ Flüssigkeit rinnt meine Beine hinab und durchtränkt den Stoff des Hemdes.
„Sollte die Hebamme nicht langsam nach dir schauen?“ Alex blickt zur Tür, wo Bilder von neugeborenen Babys mit Dankessprüchen hängen.
Seltsamerweise verspüre ich keine Angst. Zuvor als die Fruchtblase geplatzt ist und Alex voller Panik auf der Fahrt zum Krankenhaus den Motor zweimal abgewürgt hat, da war diese unbestimmte Furcht da, die mir eingeflüstert hat, dass trotz aller Sicherheit doch etwas passieren könnte, dass dieses kleine Wesen bei der Geburt sterben könnte und dass statt Glückwünschen Beileidsbekundungen unseren Briefkasten fluten würden. Jetzt jedoch erfüllt mich ein tiefer innerer Frieden, der seltsam ist, wenn man den Schmerz bedenkt, der alles andere übersteigt, was ich jemals erlebt habe. Aber da ist das Kind in mir und ich kann seine Tritte spüren, die Bemühungen und Anspannungen, wie es sich mit jeder weiteren Wehe ein Stück weiter hervor kämpft. Das ist die natürlichste Sache der Welt und trotz des Schmerzes kann ich nicht anders als daran zu denken, was für ein Wunder das alles ist. Gleich wird ein neues Leben diese Welt betreten, ein Leben, das aus nichts mehr als einem winzigen Spermium und einer Eizelle entstanden ist.
„Ich hole jetzt die Hebamme“, verkündet mein Ehemann und schreitet zur Tür.
„Alex“, will ich rufen, doch der Rest des Satzes wird von meinem Schrei verschluckt. Ich werfe den Kopf in den Nacken, starre die Decke an und schreie den Schmerz hinaus.
Ich höre Stimmen, Schritte, jemand beugt sich über mich, doch mein Blick ist beschränkt auf die Deckenlampe über mir. Auf dieses Licht fokussiere ich mich, halte mich daran fest und schreie dieser den Schmerz entgegen, der mir alle Kraft raubt.
„Es ist bald geschafft“, meint eine Frau, „Der Muttermund ist weit geöffnet, ich kann das Köpfchen schon sehen.“ Die Hebamme, denke ich.
Jemand umfasst meine linke Hand und öffnet die Faust. Alex massiert meine angespannten Finger, redet auf der rechten Seite auf mich ein, während die Hebamme vor mir hockt.
„Alex…“ Ich lenke meinen Blick auf ihn, meinen Ehemann, suche Halt in dem Gesicht, in das ich mich vor vier Jahren verliebt habe.
Mein Becken hebt sich, ich stemme die Beine auf den Boden, um irgendeinen Halt zu finden. Fast schlage ich Alex, als meine Hände im Reflex nach vorne bewegt werden.
„Du bist stark, Liebling“, meint er – ob er mich oder unser Kind meint, weiß ich nicht. Beschwörend spricht er auf mich ein, während die Schmerzen in meinem Unterleib immer stärker werden. Tränen rinnen mir über die Wangen. Ich merke es kaum.
In diesem Moment spüre ich, wie etwas zwischen meinen Beinen hindurchgleitet und nur wenige Augenblicke später erklingt ein erster Schrei. Erschöpft schließe ich die Augen, lausche nur auf den Schrei meines Kindes, das seine Ankunft lautstark verkündet.
„Ich gratuliere Ihnen zu einer gesunden Tochter.“ Überwältigt blicke ich auf das kleine Wesen, das die Hebamme mir soeben zwischen die Brüste legt. Das kleine rote und runzlige Gesicht verzieht sich, vielleicht weil die frische Luft so ungewohnt ist.
„Blaue Augen“, wispere ich und lege meine Hand auf den kleinen Kopf meiner Tochter. Er passt hinein, so winzig ist dieses Wesen. Schorf und ein wenig Blut finden sich zwischen den feinen Haaren, aber all das stört kaum. Ich spüre die Nähe meiner Tochter, die ich soeben geboren habe und eine tiefe Liebe zu diesem Kind entbrennt in mir. Neun Monate war sie ein Teil von mir und jetzt darf ich sie endlich, endlich in meinen Armen halten.
Stolz sehe ich zu Alex auf.
„Das ist deine Tochter, Geliebter.“
„Unsere Tochter, Geliebte.“ Seine Stimme bricht bei diesen Worten. Tränen tropfen auf mich hinab, auf das schmutzige Klinikhemd und mein Gesicht.
Immer wieder streiche ich über das kleine Köpfchen, den Körper meiner Tochter, deren Augen sich langsam schließen und deren Schreien versiegt. So winzig, so zerbrechlich und so angewiesen, dass wir sie versorgen. Schon jetzt kann ich mir nicht mehr vorstellen, ohne sie zu leben. Schon jetzt hat sie mein Herz erobert und das Glück über diesen Moment lässt die Schmerzen, die noch immer in meinem Körper wüten, fast unwichtig erscheinen. Tränen rinnen in Bächen über mein Gesicht, Tränen darüber, dass ich das Glück dieses Moments erleben durfte.
„Sie ist unser kleines Wunder.“ Alex’ Hand liegt auf meinem Kopf, die meine auf dem unserer Tochter.
Mira.