Anna rückt noch einmal die Tischdeko zurecht, neigt den Schopf und mustert sie prüfend. Zupft an der Tischdecke, rauscht ins Bad, um vor dem Spiegel an ihrer Frisur herum zu zupfen. Seit ihrer ersten Begegnung vibriert sie vor Anspannung, hinter der irgendetwas namenlos Bestürzendes lauert. Nichts, das mit Verliebtsein oder Flugzeugen im Bauch zu hat. Sie setzt sich an den Rand der Badewanne und denkt an die erste Begegnung zurück.
Auf dem Flohmarkt, der sich dem Ende zu neigte.
Die Leute an den Ständen nebenan räumten schon zusammen, sie aber saß in ihrem Klappstuhl zurückgelehnt und las dieses Buch. Die Sonnenbrille gegen die tief stehende Sonne auf der Nase und die Ballerina beschuhten Füße auf dem Tapeziertisch abgelegt. Nur dieses eine Kapitel noch.......
„...., okay?“
„Okay, gut. Ich hol‘ schon mal das Auto.“ Damit schwirrte Sonia, ihre beste Freundin, davon und sie versank erneut in die Welt, in die sie die Lektüre entführte.
Bis er plötzlich da stand.
Sie hatte ihn nicht herankommen gehört. Und er sah sich nichts in der Auslage an, wühlte in keinem der Kartons mit den Büchern, die sie für fünfzig Cent oder einen Euro verkauften.
Er sah sie an.
So fühlte es sich zuerst an. Aber als sie über den Buchrand linste, bemerkte sie, dass seine volle Aufmerksamkeit dem Buch galt.
Sie lächelte vorsichtig. Wachsam, bei so gut aussehenden Männern musste man wachsam bleiben. Die Sonne beleuchtete sein kurzgeschnittenes Haar wie ein Weizenfeld im Sommer.
„Kann ich Dir helfen?“, fragte sie ihn. Und sich selbst, warum sie es wagte, ihn zu duzen. Er strahlte etwas aus, das das eigentlich verbat.
„Das Buch, das Sie lesen. Ich würde es Ihnen gerne abkaufen.“ Zwar klang er charmant, aber in seiner Stimme schwang eine kleine Überraschung.
So, als hätte er nicht erwartet, sie zu sehen.
Wie romantisch der Gedanke war.
Oder, als hätte er nicht erwartet, das Buch zu sehen.
Sie versuchte, seines umwerfenden Aussehens zum Trotz, zu flirten. „Es ist kein Liebesroman“, scherzte sie, „Auch, wenn der Titel es impliziert.“ Sie nahm die Füße vom Tisch und beugte sich im Stuhl leicht vor.
„Die brennenden Seelen. Ich weiß, Anna.“
Sie fühlte, ihre Gesichtszüge entgleiten.
Woher wusste er ihren Namen?
Das sollte nicht das Einzige bleiben, das erschreckend ist.
Ein richtiger Flirt war ihr kleiner Wortwechsel nicht gewesen.
Obwohl sie sich beide alle Mühe gaben.
Am Ende schenkte sie ihm das Buch, ohne zu begreifen, warum. Sie hat es nicht ausgelesen. Sie vermisst es seit der Sekunde, in der sie es ihm in seine kraftvolle schlanke Hand gab.
Und dann lud er sie zum Essen ein. Während Sonia mit dem Kombi angefahren kam, die Heckklappe öffnete und gelegentlich verstohlen zu ihnen rüber schaute. Schon für den nächsten Abend.
Obwohl sie fröhlich umher hopsen müsste, wie man das macht, wenn man ein Date mit einem umwerfenden Typen hat, war sie fiebrig nervös. Händeringend war sie vor ihm im Restaurant gewesen, hat nichts essen können und lustlos in ihrem Salat herumgestochert.
Sich abgemüht mit etwas, das Konversation heißt.
Und ihm schien es nicht besser zu ergehen. Er bestellte gar nicht erst etwas anderes als Wasser. Davon aber gleich zwei Flaschen und entschuldigte sich mit einer Magenverstimmung.
„Vielleicht sollten wir uns ein anderes Mal...“, versuchte sie es diplomatisch.
Seine meerblauen Augen füllten sich mit Erstaunen. „Nein“, er machte eine abwehrende Handbewegung, „Bloß nicht. Ich bin so froh, dich endlich gefunden zu haben.“
Was war das denn jetzt wieder?
Eine besonders blöde Anmache?
Weshalb erschien es ihm dann so ernst?
„Ich würde zu gerne wissen, wie das Buch weitergeht“, meinte sie lahm, ehe sie nach ihrem Weinglas griff und daran nippte.
„Das ist nicht schwer zu erraten“, er zwinkerte ihr zu, „sie erobern Antiochia. Dann Jerusalem. Sie werden leiden. Man kann es in jedem Geschichtsbuch nachlesen.“
Irgendwie war sie verärgert. „Ja, das weiß ich. Aber das ist ein Roman. Ich litt mit den Menschen, deren Leben in diesem Roman erzählt wird. Ich möchte wissen, wie es mit ihnen weiter geht“, sie verengte die Augen, „Einen Grund muss das ja haben. Dass du das Buch so unbedingt haben wolltest, Marco.“
Sie weiß noch, dass er nickte. Dabei mit der Stoffserviette spielte. So als dächte er über etwas nach. Als er zu einer Entscheidung gekommen war, lachte er sie an. Routiniert, wie ein Steward. „Was hältst Du davon, wenn wir ins Kino gehen?“
Um nicht reden zu müssen?, dachte sie. Aber sie stimmte zu und so landeten sie im Pärchensitz des Residenz-Lounge-Kino am Kaiser-Wilhelm-Ring, und sie am Ende in seinen Armen. Aber etwas Unausgesprochenes schwebte zwischen ihnen. Trotz dieses Kusses, der sich anfühlte, als hätte sie tausend Jahre auf ihn gewartet. Wie eine Erlösung. Lang wie Ozeanwellen.
Und nun sind sie verabredet.
Freuen sollte sie sich. Und sie fiebert dem ja auch entgegen.
Derartig, dass sie nicht schlafen konnte. Sie stand die halbe Nacht im silbrig irisierenden Mondnebel und webte verzweifelt an den Fetzen einer Erinnerung. Oder eines Traumes?
So sieht sie jetzt auch aus, denkt sie verdrossen, als sie sich die Augenringe mit Puder korrigiert.
Eine Überraschung wollte er mitbringen, hat er gesagt. Sie klappt die Puderdose zu und verstaut sie in dem weißen Weidenkörbchen, das auf dem Badezimmerschrank steht.
Eine Überraschung, also.
Sie ist nicht sicher, ob sie eine Überraschung verkraften kann.
Nicht mal mehr sicher, ob sie sich weiterhin mit ihm treffen soll.
Die Gefühle sind so verwirrend. So verstörend. So....
Da! Es klingelt.
Sie wippt kurz auf den Fußballen, dann rast sie in die Diele, drückt den Knopf für die Haustür. Atemlos lauscht sie dem Summen, dann seinen festen, zielgerichteten Schritten die Treppen hinauf.
Kurz hält er inne. Als zögerte er.
Dann noch vier Schritte, und er steht vor ihrer Tür.
Sie reißt sie auf. Muss hochsehen in sein Gesicht. Seltsam, wie groß er ist.
In seinem graublauen Blick liegt...was? Liebe?
Er lächelt sanft, obwohl sie sieht, dass sein Mund ein harter ist. Einer, der Entschlossenheit signalisiert.
Und jetzt begreift sie es. Etwas Magnetisches wirft er auf sie hinab.
Etwas, wovon sie sich nicht lösen kann, das eine Verbundenheit ausdrückt, die schon so lange da ist. Weshalb er ihren Namen kennt.
„Hallo“, haucht sie und lässt ihn hinein.
Seinen Namen hat sie nicht zuvor gewusst. Marco. Er hat so gar nichts Italienisches an sich. Sie hatte eine andere Assoziation. Dachte an einen anderen Namen, als sie ihn das erste Mal ansah.
„Das liegt daran, dass du ja nur Bücher über den ersten Kreuzzug liest, Anna“, lachte Sonia an dem Abend des Flohmarktes. Als sie endlich bei ihr zuhause waren. Die Schuhe abgestreift auf dem Sofa lümmelnd. Die Beine untergeschlagen, saß Sonia da und zuckte knapp mit dem Daumen zum Bücherregal, „Nur historische Romane. Und ausschließlich über den ersten Kreuzzug. Kein Wunder, dass Dir als erstes so ein komischer mittelalterlicher Name in den Sinn kommt.“
„So wurde ich getauft. Marco“, lächelt er schief, als habe er ihre Gedanken gelesen. Seine Diamantenaugen huschen über den festlich gedeckten Tisch. Er legt das Buch darauf ab und holt ein Kästchen aus seiner weiten Hosentasche. Schräg, was er an hat. Eine weite beige Leinenhose, die offenkundig zu einem Sommeranzug gehört, und darauf ein weißes Leinenhemd. Die langen Ärmel bis zu den Ellenbogen hoch gerollt. Die hervortretenden Venen auf seinen Unterarmen faszinieren sie.
„Marco. Nach meinem Geburtsort San Marco Argentano. Der Name, der dir auf der Zunge liegt, Anna, ist nur der alberne Spitzname, den mir mein Vater gab, als ich noch ein Kind war. Weil ich so groß bin, wie diese alberne Legendenfigur.“
Er kommt so nahe auf sie zu, dass sie seine Aura spürt. „Ja“, keucht sie, als er sie in der Taille umfängt.
„Du willst wissen, wie es ausgeht?“
„Das Buch?“, kiekst sie.
„Wir wankten aneinander vorbei, jeder von uns gefangen, in dem, was man uns lehrte. So vertrautest du mir nicht. So wenig, wie ich dir. Wir führten uns an den Nasen herum, stellten uns eine Falle nach der anderen. Ich sehe dich noch vor mir, wie du aufatmetest, als ich fortzog. Mit den anderen. Wir eroberten Antiochia.“ Er nimmt sie fester in den Arm, zwingt sie, ihn anzusehen, „Ich eroberte Antiochia. Die anderen strauchelten von Sonnenangst gepeitscht durch die Wüste und nahmen Jerusalem im Sturm. Ich kam zurück in deinen Palast. Kurz nur, um deinem Vater den Eid zu erneuern. Wir umkreisten uns wie Katzen.“
„Mein Lebensstörer“, silberne Tränen rinnen ihre Wangen hinab. Die Erinnerung schlagen wie Wellen über ihr zusammen, „Als wir uns das letzte Mal sahen. Beim Rundgang durch die kaiserlichen Gärten...“
....“sah ich deine schöngehenden Beine in goldenen Wickelgamaschen. Du warst kaum verhüllt durch das musselinene Unterkleid. Während der starre Mantel, den du offen stehen ließest, mit schräg gewebten Reihen rosa farbener Sperber versehen, hinter deinem schmalen Körper wie eine Pfauenschleppe durch das Unterweltslicht des Mondes zog.“
Er hatte sie an sich gezogen und wollte sie küssen. Damals. In einem der sieben Gärten von Konstantinopel. Aber sie war ihm entschlüpft. "Dein Normannenlächeln ist schwer erträglich", hatte sie wenig kaiserlich geschimpft und war von dannen gerauscht. Nur, um weinend in ihr Bett zu sinken. Wo sie ihn verflucht hatte, den Feind. Den Barbaren. Den Sohn des Erzfeindes ihres Vaters. Nichts wert. Gierig, verdorben....
Sie hört nicht zu weinen auf. „Es tut mir leid“, stammelt sie, aber er lächelt gar un-normannisch und tut es ab. „Wir waren gleich blind.“
Er klappt das Kästchen auf, das die ganze Zeit in seiner Hand gelegen hat. „Die Überraschung. Weißt du noch?“
Vorsichtig tastet sie danach, sieht hinein. „Ein Rubin?“, ihre Augen weiten sich vor Staunen, „Der Rubin?“
Er nickt. „Eben der. Wenn wir ihn zurückbringen nach Antiochia, zum Turm der drei Schwestern, können wir von vorne anfangen.“
„Hier in dieser Zeit? Um es besser zu machen?“, presst sie mit erstickter Stimme hervor.
Er schüttelt vage den Kopf. Zieht sie wieder zu sich heran. „Nein“, haucht er auf ihrenScheitel, „wir gehen zurück in unsere Zeit und vermeiden die Fehler von damals.“
„Das wird die Geschichte verändern“, japst sie.
„Aber nicht sehr.“
Sie weiß, dass er untertreibt, denn es würde alles verändern.
Sie sieht hoch und streicht ihm mit dem Finger um die Winkel seines sonst so gnadenlosen Mundes. „Halt mich fest“, bittet sie ihn.
Er hält sie. Fest, im regungslosen Glück der Pause, ehe sie aufbrechen. Ehe seine Weltenunruhre, unsägliches Erbe seines Vaters, wieder losbricht, mit Kampf, Gefahr, Intrigen, Feilschen, Lügen.
Wenn sie es neu machten, das Leben, es ein zweites Mal versuchten, die Fehler vermieden und ihren Herzen folgten, fänden sie Frieden.
„Meine Seele brannte“, schluchzt sie auf seine Brust, „Als es hieß, du wärest tot.“
„Meine, als ich starb, Anna.“ Unvermittelt nimmt er sie bei der Schulter und schiebt sie ein Stück von sich fort. „Aber das eine sage ich Dir, Caesarissa, wenn du mir noch einmal das hochnäsige Brokatgeschöpf vorspielst, lege ich dich übers Knie.“
„Dein Normannenlächeln ist unerträglich.“ Unter Tränen lacht sie und hopst ans Fenster. Späht hinaus, schwingt herum und heißt die glückseligen Schwingungen des Verliebtseins willkommen. „Dann lasse uns aufbrechen.“