„Was soll die Scheiße?“ Das klang zutiefst empört.
Ich drehte mich zu der Stimme um, sodass ich zuerst nicht bemerkte, dass die Pflanze ihren Druck auf Lina verringerte. Vor dem Hügel stand ein Typ. Groß, schlank, etwa in meinem Alter. Er trug Jeans und ein helles Leinenhemd. Die Ärmel hatte er bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt.
Ich weiß nicht, warum ich in diesem Moment der Panik Augen für seine muskulösen Unterarme hatte, auf denen die Sehnen deutlich hervortraten. Ja, ich hatte eine Schwäche für solche Unterarme, besonders, wenn sie leicht gebräunt waren, aber das war nicht die Situation für so etwas.
Im Schock, dachte ich, fühlt man die eigenartigsten Dinge.
Er kam näher. Sein Gesicht war eine einzige Verärgerung, als er seine McDonalds-Tüte und den Trinkbecher auf dem Boden abstellte.
„Was habt ihr euch dabei gedacht, hier hereinzukommen?“ Vorsichtig schob er die Ranken auf Seite und kam langsam, ohne die Pflanze zu berühren, auf der schwarzen Erde näher und kniete sich neben mich und Lina.
Die Umklammerung, in der sie sich befand, war nicht mehr so fest, aber losgelassen hatte die Pflanze nicht.
Es sah aus, als wollte er Lina helfen, aber zuvor fuhr er mich barsch an. „Geh von ihm runter.“
Ihm? Okay, dich verlagerte meine Pobacken und schob Pflanze und Blüten so lange von mir weg, bis ich auf der nassen schwarzen Erde saß.
Mein Hintern war pitschnass, und selbst vorne sah die Hose aus, als hätte ich rein gepisst. Der Typ schob sich das verschwitzte blonde Haar aus der Stirn, das in einem Wirbel stehen blieb.
„In die Kacke hast du dich selbst manövriert“, herrschte er Lina an.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Sein Verhalten hatte etwas Herablassendes, als wären wir ungezogene Kinder, und das missfiel mir. Ich öffnete eben den Mund zu einer scharfen Entgegnung, aber ohne mich anzusehen, hob er die Hand und brachte mich zum Schweigen.
Er sprach mit jemandem anderen als mir. „Lass sie los“, bat er sanft, „Nun lass sie schon los.“
Er sprach mit der Pflanze und offenbar war sie männlich und hatte einen Namen.
„Davide“, jetzt klang er schon sauer, „Lass sie los, verdammte Axt!“
Und tatsächlich, das Summen verstummte, und Linas Fesseln lösten sich. Ich sah ihr Herz schnell im Halse schlagen. Je weniger sie an den Boden gekettet war, desto fahriger wurden ihre Bewegungen, bis sie schließlich frei stand und vom Hügel hinunter stolperte. Zweimal fiel sie dabei hin. Sie weinte wie ein kleines Mädchen.
„Lina!“, rief ich ihr nach, aber sie torkelte benommen aus unserem Sichtfeld. Ich hörte sie schluchzen, dann war sie weg.
Mit offenem Mund musste ich ziemlich entgeistert aussehen. Knochentrocken pappte mir die Zunge am Gaumen. Ich fühlte den Schweiß zum Rücken hinablaufen. Ich sah ihn an. Er sah schon weniger verbiestert aus, robbte aber von der Stelle, auf der ich hockte vor mir her und bereitete mir einen rankenfreien Weg zum Rand hin zum Pfad aus Kieselsteinen. Unsere Augen trafen sich für einen Moment. Mir stockte der Atem. Zornesstarres Blau seiner Augen wandelte sich in schimmerndes Silber. „Sieh zu, dass du nicht auf ihn trittst“, befahl er ruhig.
Mein Herz begann, sich zu beruhigen. Die Angst wich der Neugierde und wenn jemand Licht in das Dunkel bringen würde, dann er.
„Ihn?“, fragte ich wachsam.
Er nickte, scheuchte mich aber vom Hügel. „Los, mach schon.“
Vorsichtig und mit bedächtigen Bewegungen kletterte ich hinunter und stand auf dem Kiesel.
„Darf ich“, ich deutete auf den McDonalds-Becher.
„Klar“, er kam mir nach und strich sich die Erde von der Hose, während ich trank. Dankbar nahm ich mehrere Schlucke der süßen Pampe. Cola war normalerweise nicht mein Ding.
„Danke“, ich hielt ihm den Becher hin, „Ich heiße Jana.“
Er nickte, als wäre er tief in Gedanken versunken. Der Becher schwebte einen Augenblick zwischen uns, bis er ihn endlich nahm, aber nicht trank. „Leandro“, stellte er sich abwesend vor, starrte aber weiterhin auf die blütenbestreuten Ranken.
Erst als er den Blick losriss, schien er mich wieder wahrzunehmen. Er musterte mich lange, als unterzöge er mich einer Untersuchung, was sich ganz und gar unbehaglich anfühlte.
Dann lotste er mich zu einer Bank zwischen zwei Feigenbäumen. „Ich kann dich nur bitten, darüber Stillschweigen zu bewahren“, befahl er in einem Tonfall, der die Bitte ad absurdum führte, „Und hoffen, deine Freundin hält auch das Maul.“
Er hatte einen schönen Mund, entschlossen, mit Pagenecken, die ihm die Härte nahmen. Ich fing an, mir einzugestehen, dass mein erhöhter Puls nicht mehr viel mit dem Pflanzenüberfall auf Lina zu tun hatte.
„Was bedeutet das denn alles“. Ich zuckte mit der Hand zum Hügel, auf dem es aussah, als schliefe das Grün.
Leandro öffnete die Futtertüte und griff sich einige kalten Fritte hinaus. „Das ist mein Bruder“, sagte er genervt, „Davide.“
Ich hatte keinen Schimmer, was ich auf einen solchen Blödsinn entgegnen sollte, stellte aber fest, dass ich wie ein Schulmädchen auf meinen Handflächen saß. Ich zog die Hände hervor.
War er verrückt?
Als er die drei Fritten gegessen hatte, erzählte er in gelangweiltem Singsang weiter. „Er lässt sich dauernd den Körper klauen. Irgendeine der Betahexen hat es auf ihn abgesehen und lockt ständig irgendwelche hässlichen Vögel, mit ihm die Gestalt zu wechseln. Bisher haben wir das immer rückgängig machen können, aber die Hexe ist stinksauer auf ihn“, er wies resigniert mit der Hand auf den Hügel, „Und das da ist das Ergebnis.“
„Eine Hexe?“, fragte ich nicht mehr ganz so ablehnend. Ich hatte meine eigene mysteriöse Herkunft, die ich mit niemandem teilte.
Aber mit einem Mal wirkte er verlegen, als hätte er sich auf ein Terrain geredet, auf das er nicht wollte. Er ließ den Blick durch das Gewächshaus schweifen und kam wieder bei dem Hügel an. „Das mit deiner Freundin tut mir leid. Ich gebe ihm normalerweise kleine Nager oder so was. Aber je länger sein Zustand andauert, desto mehr wird er von seinem Instinkt beherrscht. Warum er dich nicht angegriffen hat, verstehe ich nicht."
Seine Augen kehrten prüfend zu mir zurück.
„Och“, ich hob gespielt verlegen die Schulter, „Vielleicht, weil er fühlt, dass wir demselben Mysterium entstammen.
Darauf kniff er diese strahlenden Diamantenaugen zusammen. „Das heißt?“
„Ich bin eine Alpha-Hexe“, ich zwinkerte ihm zu, „Wenn du willst, kann ich versuchen, euch zu helfen.“
Eine Weile schwebte das Schweigen zwischen uns. Ich dachte, er verlangte vielleicht nach einem Beweis, aber realistischer war es, dass er dasselbe fühlte wie sein Bruder.
„Was hast du denn jetzt vor“, griff ich den Faden wieder auf.
Er räusperte sich und rieb sich über das Gesicht. „Der Arsch, der jetzt in Davides Körper herum stolziert, ist Botaniker. Er wird herkommen.“
„Und dann?“ Vergnügen schlich sich in meine Stimme.
„Wir müssen versuchen, es so zu deichseln, dass Davide in fressen kann.“
„Und dann wird er wieder er selbst?“
„Ja“, hauchte er müde, „Dann wird er wieder er selbst.“
Mit einem Mal sah er so erledigt aus. Ich stellte mir vor, wie schwer es gewesen war, dafür zu sorgen, Teil der Ausstellung zu werden. Sachte legte ich meine Hand auf seinen Oberschenkel. „Ich werde euch helfen“, hauchte ich, „Wenn du mir sagst, wo ich den Knaben finde, lotse ich ihn schon in die richtige Ecke.“
Verdutzt guckte er mich an. „Du bist verteufelt attraktiv“, konstatierte er sachlich, „Aber es hat einen Grund, dass sie alle ausgerechnet Davides Gestalt klauen und nicht meine.“
„Wenn du damit meinst, dass selbst du der hässliche kleine Bruder bist, verstehe ich, was du sagen willst“, ich streichelte seinen Oberschenkel jetzt, „Aber ich habe da einen Zauber.“
Lange blickte er mir in meine obsidianfarbenen Augen. Überraschend legte er mir plötzlich eine Hand in den Nacken und zog meinen Kopf nahe an sein Gesicht heran. „Okay“, hauchte er, „Okay.“
Ich fühlte seinen warmen Atem auf meiner Haut und sank in seinen Kuss hinein.
Wir würden einen Plan erstellen. Aber der konnte noch eine Weile warten.