Meine Schritte führten mich den Bergpfad hinauf. Ich war irgendwo zwischen den Bäumen auf einem Berg. Keine Ahnung wo und keine Ahnung, wie ich hierher kam.
Vor mir erstreckte sich ein riesiges Gebäude. Mit jedem Schritt erkannte ich eine weitere Kleinigkeit.
Das Erste, was sich mir offenbarte, war die riesige Auffahrt. Eine Auffahrt aus Backsteinen und in der Mitte ein Springbrunnen, der als Kreisel diente.
Rechts von mir war eine Gartenpforte, die als Durchgang zum Spielplatz diente. Ein Spielplatz, der jedes Kind lieben müsste. Ein riesiges Klettergerüst, Rutschen, ein Sandkasten und verschiedene Arten von Schaukeln. Ein Traum.
Langsam trat ich auf die Veranda. Ich erwartete, dass sich die Doppeltür automatisch öffnete, da dieses Gebäude so viele Fenster hatte, dass mich eigentlich jemand hatte sehen müssen. Aber nichts geschah. Die Türen blieben geschlossen.
Ich strich über das goldfarbenen Klingelschild, welches zugenscheit war.
>Hotel Overlook<
Vielleicht hätte mir das bereits etwas sagen sollen und ich hätte umkehren sollen, aber der Name war mir fremd.
Das Hotel stand an der Spitze eines Berges, eingeschneit. Und offenbar leer. Hier in der Nähe war ... nichts. Meine zitternden Finger legten sich um den Türknauf und drehten daran. Ich schluckte, als die Tür mit einem lauten Knarren aufschwang.
Leer und unabgeschlossen? Da war doch etwas faul.
Langsam trat ich ein, ging ein paar Schritte in die hellerleuchtete Lobby und verschmutzte den weinroten Karoteppich mit meinen von Schneematsch verdreckten Schuhen.
Mit einem lauten Knallen fiel die Tür ins Schloss. Augenblicklich wirbelte ich herum, legte meine Finger um den Knauf und drehte. Aber nichts geschah.
Verdammt!
Mein Atem ging stoßweise, während ich an dem Knauf rüttelte.
Auch nach fünf Minuten rüttelte ich noch daran. Das Seltsame war, dass hier drin kein einziger Windstoß zu spüren war, das hieß irgendjemand musste die Tür geschlossen haben. Irgendjemand war hier. Ich war nicht alleine.
Der Gedanke kam so plötzlich, dass ich erschrocken zwei Schritte zurückstolperte und mich langsam herumdrehte.
Direkt geradezu war der Tresen, an dem üblicherweise die Schlüssel verteilt wurden. Er war leer und als ich näher trat, erkannte ich eine dicke Staubschicht darauf.
Mein Blick huschte nach rechts, zu einer kleinen, bequemen eingerichteten Sitzecke an einem der großen Fenster. Meine Schritte zogen mich direkt dahin. Mein Blick richtete sich auf die Landschaft. Sie war traumhaft. Der Schnee und alles andere war voller Schnee- beinahe Märch-
Ein lautes Poltern ließ mich zusammenzucken. Ich dachte, ich war alleine?
Die Treppe links von mir war in Dunkelheit gelegt und es graute mir, dort rauf zu gehen. Direkt auf das Geräusch zu. Langsam einen Schritt vor den anderen setzend schlich ich auf die Treppe zu. Auf einmal berührte mein rechter Fuß etwas. Ich blickte hinunter auf etwas Glitzerndes.
Eilig, aber leise hob ich ihn auf. Ein Schlüssel. Ich betrachtete ihn genauer. Es war eine Nummer eingraviert. Ich hielt ihn in das Licht und erkannte dort die Nummer. >217<.
Ich konnte es mir nicht erklären. Erst landete ich vor diesem Hotel, dann verschloss sich die Tür und jetzt die Zimmernummer? Es schien, als würde jemand wollen, dass ich in diesem Hotel, in diesem Zimmer landete.
„Verschwinde“, hörte ich eine leise Stimme nuscheln. So leise. War sie in meinem Kopf? „Verschwinde, solange du noch kannst.“
Ich blickte mich um, aber sah nichts. Kein Schatten, keine Umrisse, die einem Menschen ähnelte. Langsam stieg ich auf die erste Stufe. Dann auf die Zweite. Die Dritte.
Ein lautes Rattern ließ mich innehalten. Was war das? Ich versuchte mich auf das Geräusch zu konzentrieren.
Das Rattern. Stille. Ein leises Quietschen. Schritte. Stille. Das Quietschen. Stille. Das Rattern.
War das ein Fahrstuhl? Ein der alten, die noch mit Eisenketten funktionierte? Das würde das Rattern erklären. Das Quietschen könnten die Türen gewesen sein, die dringend geölt werden mussten.
Ich erreichte den ersten Stock. Alle Türen waren geschlossen.
Ein lautes Keuchen und Stöhnen ließ mich innehalten. Also war ich nicht alleine hier.
Leise, aber schnell ging ich auf Zehenspitzen an dem Zimmer vorbei, aus dem die Geräusche drangen.
Den Flur entlang, bis zur nächsten Treppe, die ich ebenso leise hinauf stieg. Stufe für Stufe, mit Pause dazwischen um zu horchen.
Oben angekommen machte der Flur einen Knick nach rechts. Ich schlug die Richtung ein, stolperte über meine eigenen Füße.
Etwas saß hinten an der Wand. Etwas Kleines. Und es hatte etwas in der Hand. Ich konnte es in der Dunkelheit nicht erkenne.
„Du darfst hier nicht sein“, sagte es. Eine Kinderstimme. „Es ist gefährlich hier, hat man dir das nicht gesagt?“
Es richtete sich auf. Es war tatsächlich klein. Langsam trat das Kind auf mich zu. Er war nicht älter als fünf. In seiner Hand hielt er einen Lutscher. Genüsslich ließ er seine Kinderzunge über die Süßigkeit gleiten.
„Hast du meine Warnung nicht erhalten? Ich hab gesagt, du sollst verschwinden.“
„Doch- ich. Du warst das? Aber-?“
„Dein Kopf“, erklärte der Junge mir. „Ich habe in deinen Kopf gesprochen.“
„In meinem- wie?“
„Das zweite Gesicht. Daddy sagt, ich sehe Dinge, die andere nicht sehen. Ich sehe die Gedanken der anderen Menschen, die Emotionen. Ich kann in Gedanken zu anderen sprechen. Hallorann hat es auch, er nennt es Shinning...“
Ich trat auf ihn zu. Eigentlich mochte ich Kinder, aber er war gruselig. Er verhielt sich gar nicht wie ein fünfjähriger Junge.
Die bläulichen Male an seinem Hals stachen mir ins Auge. Es wirkte, als wäre er gewürgt worden.
„Hey...“; flüsterte ich heiser. „Wer hat dir das angetan?“
Der Junge zögerte und blinzelte zu mir hinauf. Beinahe wirkte er überrumpelt, ängstlich.
„Geh nicht darein!“
„Wo rein?“, fragte ich ruhig nach.
„Zweihundertsiebzehn.“
Ich zögerte, hob meine Hand mit dem Schlüssel an und musterte ihn. Meine Gedanken spielten verrückt. Erst die Tür unten, dann (vermutlich) der Fahrstuhl und jetzt die Sache mit der Zimmernummer und seinen eindeutigen Würgemalen.
„Was ist in dem Zimmer?“, fragte ich ruhig.
Eigentlich hatte ich eine Heidenangst, aber wahrscheinlich war ich gerade so ruhig, um den Jungen zu beruhigen.
„Eine weiße Frau liegt in rotem Wasser. Sie ist aufgestanden, mir gefolgt und hat ihre Hände an meinen Hals gelegt.“
Rotes Wasser? Eine dieser Färbetabletten?
„Wahrscheinlich hast du sie beim Baden gestört.“
Ein ärgerlicher Ausdruck legte sich auf sein Gesicht.
„Sie. War. Tod. Sie. Hat. Nicht. Geatmet. Es hat gestunken und sie lag seltsam dort drin, ihre Haut war weiß, wie die Milch, die Mommy mir immer zum Frühstück gibt.“
Tod? Ich schluckte. Das war doch gar nicht möglich. Tod war Tod. Das musste er sich eingebildet haben.
Plötzlich ertönte hinter mir ein leises Klicken. Schritte. „Lauf.“ Diesmal war das Wort wieder in meinem Kopf. Der Junge sprach es nicht laut aus.
Ich warf einen Blick hinter mich.
Ein Bein betrat den Flur, das zweite schleifte hinterher. Ein weißes Nachthemd war zerfleddert und mit blutroten Flecken überseht. Der Flur nahm einen ekligen Geruch an.
Eilig wirbelte ich herum und lief. Ich saß in der Falle. Das Etwas war zwischen mir und der Treppe nach unten. Ich konnte nur nach oben.
„Nein“, hörte ich den kleinen Jungen flehen. „Nein, bitte... nicht ihn... nein-“
„JAMIE!“
Ich fuhr auf und stoß mit meinem Kopf gegen etwas Hartes. Jemand stöhnt auf.
„Kein Grund, mir gleich eine Kopfnuss zu geben“, entgegnete derjenige.
Ich hatte tierische Angst, meine Augen zu öffnen. Was wenn ich den Jungen vor mir sah, oder das Milchwesen, die Leiche? Das Hotel? Die Geräusche?
„Verdamm! Was ist nur los mit dir? Du zitterst, du wimmerst und weinst. Jamie...?“
Ich blinzelte und öffnete langsam meine Augen. Beinahe scheu ließ ich mein Blick umhergleiten. Es war Kierans Zimmer. Es war Kieran, der neben mir hockte und mich besorgt anblickte. „Was ist? Rede mit mir!“
„Overlook... ich war da...“
„Niemals. Das Hotel ist auf einem anderen Kontinent und existiert im Jahr 1954. Wir haben 2020.“
„W-Was?“, stockte ich.
Ich konnte Kieran kaum folgen. Er nannte zwar Fakten, aber ich war eindeutig nicht dort gewesen.
„Was ist Shinning?“
„Shinning?“, fragte Kieran. Er hatte einen belustigten Unterton in seiner Stimme und zog mich plötzlich an sich. Seine Arme schlangen sich um meinen Körper.
Erleichtert ließ ich mich gegen ihn fallen, klammerte mich an meinen Freund und sog seinen Duft in mir auf. Er war frisch geduscht.
„Shinning heißt der Film den wir gestern gesehen haben. Das Hotel im Film heißt übrigens Overlook. Ich schätze du hattest einen Alptraum!“
„Nein...“, flüsterte ich. „Einen Alptraum?“
„So wie du gestern beim Film gezittert hast und mich angeklammert hast, wundert mich das gar nicht.“
Ich legte meine Stirn gegen seine und schloss meine Augen. Ein paar tiefe Atemzüge halfen mir, mich selbst beruhigen. Also bloß ein Alptraum. Meine Erleichterung konnte ich gar nicht in Worte fassen.
„Ich schaue nie wieder einen Horrorfilm mit dir“, flüsterte ich.
„Ich fands eigentlich total niedlich“, entgegnete Kieran. Er hauchte mir einen Kuss auf meine Stupsnase, lächelte mich aufmunternd an und löste sich dann von mir. „Mach dir fertig, wir haben heute noch viel vor. Wir müssen unbedingt Weihnachtsgeschenke besorgen, ist schließlich schon der zweiundzwanzigste Dezember.“