Was sollte ich tun? Seit Jahren stand ich in dem Schatten meiner großen Brüder. Ja, mehrere. Und noch dazu das einzige Mädchen. Schlimmer hätte es mich tatsächlich nicht erwischen können.
Und dann will ich auch noch Erzieherin werden. Was mir dabei einfällt? Ich habe keine Ahnung!
Wahrscheinlich wirkt das jetzt alles sehr negativ. Aber so ist das gar nicht… naja gut, zu einem minimalen Teil ist es schon negativ. Meine Mom hat uns kurz nach meiner Geburt verlassen und lebt nun am anderen Ende der Welt. Ich habe keine Ahnung wo und mit wem, denn nach ihrem Verschwinden hat sie sich nie wieder gemeldet. Mein Dad ist viel arbeiten. Er leitet eine riesige Immobilienfirma, ehrlich gesagt die angesagteste der Stadt Jacksonville.
Eigentlich lebe ich in einer WG mit meinen großen Brüdern. Was einerseits gut war und andererseits… nicht!
Jeden Tag aufs Neue gab es große Diskussionen, Streits und Verschwinden.
Morgens beim Frühstück begann es mit dem Kaffee, wer den Anspruch auf den meisten Kaffee hatte. Anschließend folgte eine Diskussionen über meine Berufswahl. Wenn wir uns am späten Nachmittag wiedertreffen folgt ein Streit über das Fernsehprogramm, den Besitz der Fernbedienung und das Essen.
Dennoch: Ich liebte meine Brüder.
Da war einmal Aiden, der größte Bruder. Er war achtundzwanzig, ein erfolgreicher Bürokaufmann und der Vernünftigste. Er schritt meistens in unsere Streits ein und löste sie. Beinahe nie war er selber an einem Streit beteiligt. Er war immer für mich da und nahm sich viel Zeit für mich, wenn ich ein Problem hatte. Er nahm sich für alle viel Zeit. Nur nachts war er viel weg. Er verschwand und tauchte am nächsten Tag wieder auf. Der Grund für diese Aktion konnte sich niemand erklären.
Dann war da noch Logan. Er war vierundzwanzig. Sein Leben glich einer Achterbahnfahrt. Erst geht alles steil bergauf und dann folgt der Absturz. Ich glaubte, sein letzter Berufswunsch war Feuerwehrmann. Logan war in der Schule ein wirklich guter Schüler, daher konnte er dort auch die Ausbildung anfangen. Wenn ich mich recht erinnere hielt er zwei Monate durch, dann wurde er rausgeschmissen, da er für zu unvernünftig gehalten wurde. Was er getan hatte wusste ich nicht. Momentan ist er viel Zuhause. Er macht viel mit mir. Mit ihm habe ich die tägliche Diskussion über meinen Kaffeeverhalten und meine Berufswahl. Dennoch bin ich ihm für sehr vieles mehr als dankbar.
Und last but not least. Ryan. Ja… was sollte ich zu ihm groß erzählen? Er ist das Klischeehafte Abbild eines Bad Boys. Sein Zimmer ist ein düsterer Raum und manchmal denke ich, er ist ein Vampir. Ryan ist neunzehn Jahre alt. Seine schwarzen Haare fielen ihm in ungleichmäßigen Strähnen auf die Schultern. Es sah ungepflegt aus und dennoch wusste ich, dass mehr als genügend Mädchen auf ihn abfuhren. Seine schwarzen Bartstoppeln verliehen seinem auffsehen das typische böse. Jeder Bad Boy musste einen Bart haben, dass durfte ich mir häufig anhören. Vielleicht hatte er Recht, ich wusste es nicht, denn ich war ein Fan von Sunnyboys. Australische Surferboys. Kalifornische gingen auch. Ryan hatte keine Perspektive, keine Ausbildung und keinen Abschluss und dennoch ein Einkommen. Ich hatte keine Ahnung woher. Auch er verschwand häufig. Oft wenn er nachts wiederkam war er betrunken.
Ja und dann war da ich. Cassie, 18 Jahre alt. Ich war in vielerlei Hinsicht das komplette Gegenteil meiner Brüder. Ich bin ehrgeizig, liebe Kinder, bin ein kreativer Mensch. Ich habe meine Zu-Bett-Geh Rituale, und meine Vorlieben. Ich führe ein Bullet Journal und habe vermutlich mehr Stifte im Besitz, als so mancher Künstler. Ach ja… und ich versuche alles meine Männergeschichten von meinen Brüdern fernzuhalten. Nachdem meine Brüder vor knapp vier Jahren meine Beziehung zerstört hatten, hatte ich mich von den Männern ferngehalten und es bei One Night Stands belassen, tagsüber wohlbemerkt. Aber als ich Sean im Schwimmbad kennengelernt hatte vor knapp acht Monaten war es vorbei. Jetzt bin ich seit knapp drei Monaten mit ihm zusammen und verheimliche es vor meinen Brüdern.
Bis heute! Heute habe ich mir fest vorgenommen mit meinen Brüdern in ein Restaurant zu gehen, unseren Lieblingsitaliener. Sean wird dabei sein. Es ist ein großer Schritt für mich.
Ich stehe neben Aiden und sah nervös zu ihm auf. Mein größter Bruder warf mir ein beruhigendes Lächeln zu. Seinen dunkelbraunen Haare nach oben gestylt. Es stand ihm ausgezeichnet. Seine Klamottenwahl war seltsam, es sah zwar gut aus, aber untypisch für ihn war es dennoch. Normalerweise bevorzugte er einen klassisch modernen Style
„Warum hast du dich so aufgemotzt?“, fragte ich.
„Na, du stellst uns doch deinen Freund vor, ich muss doch einen guten Eindruck machen.“
Kopfschüttelnd wandte ich mich ab, lächelte aber. Ich war froh, dass Aiden die Kurve bekommen hatte und ein Bürokaufmann war. Im Prinzip war er wie ein zweiter Vater für mich.
Von weitem sah ich Logan und Sean? Was?
Ich blinzelte. Als ich meine Augen wieder öffnete waren es noch immer mein Freund und mein Bruder, die auf mich zukamen.
„Hey..“, murmelte Sean und zog mich fest an seinen Körper, als er vor mir stand. Kurz bevor unsere Lippen aufeinandertrafen sagte er: „Ich habe meinen besten Freund mitgebracht, ich hoffe das ist ok?“ Er wartete gar keine Antwort ab, sondern gab mir einen leichten Kuss. Ein paar blonde Haarsträhnen fielen ihm dabei in die Stirn und kitzelten mich an der Nasenspitze. Sean löste den Kuss, hauchte mir aber noch einen auf meine Stirn, was mich ein Lächeln entlockte. Nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte sah ich zu ihm auf.
„Sean? Darf ich vorstellen? Das ist mein großer Bruder Logan.“
Auf Seans kantigen Gesichtszügen konnte ich Überraschung ablesen, dann verformten sich seine Lippen zu einem Lächeln. Komisch, ich dachte er wäre sauer?
„Ich bin Aiden, der andere große Bruder“, räusperte er sich. Unschlüssig standen wir alle vor dem Restaurant und warteten, aber keiner regte sich. Nach einigen Minuten des Schweigens übernahm Aiden die Führung und betrat das Restaurant, wir folgten. „Hallo, ich habe einen Tisch für sechs Personen reserviert. Young mein Name.“
Der Mann vor uns nickte und führte uns anschließend zu einem Tisch in der hinteren Ecke.
Es war ein Gebäude aus dunkelgrauen Mauern. Ein Altbau. Und durch die steinerne Bögen und Säulen in dem Restaurant hatte es sowohl einen alten wie auch antiken Flair. Die Kerzen auf dem Tisch unterstrichen das Ganze. Ich liebte dieses Restaurant einfach. Gerade wegen dieser atemberaubenden Atmosphäre.
„Babe“, murmelte Aiden plötzlich. Ich war verwirrt, aber als ich meinen Blick hob sah ich eine Frau mit lila Haaren vor mir.
Ich rutschte an die Wand und rutschte neben mir. Gegenüber von mir saß die Frau mit den Lila Haaren, die Aiden mit einem heißen Kuss begrüßte. Er setzte sich neben sie. Logan nahm neben Sean Platz. Jetzt fehlte nur noch Ryan. Leider konnte man sich heutzutage gar nicht auf den verlassen.
„Warum sind wir jetzt eigentlich in diesem Restaurant?“, fragte Logan plötzlich. Aiden fand als erstes seine Sprache wieder. „Weil ich wollte, dass ihr meine Freundin Hailee kennen lernt. Ich kenne sie seit knapp zwei Jahren. Wir-„
„Guten Tag!“ Eine blondhaarige, junge Kellnerin trat bei uns an den Tisch. „Möchten Sie bereits etwas zu trinken bestellen?“, fragte sie, während sie die Speisekarten verteilte.
Da jeder von uns immer dasselbe zu trinken nahm, waren die Getränke schnell bestellt.
Anschließend fuhr Aiden fort: „Wir haben uns auf einem Geburtstag kennen gelernt. Erst waren wir bloß Freunde und ich wollte es eigentlich dabei belassen. Aber als ich merkt, dass es ernster zischen uns wurde, wollte ich es für mich behalten. Ich hielt es für richtig, aber auf Dauer ein Geheimnis aus einer Beziehung zu machen… oder ein Menschen, den man liebt zu verstecken ist dann doch falsch.“
Ich war unendlich froh, dass Aiden den ersten Schritt übernahm und sich erklärte. Ich war unendlich nervös. Hailee hatte ein nervöses Lächeln auf den Lippen. „Hey, ich bin Cassie“, murmelte ich. „Und das sind Sean mein Freund und Logan mein Bruder.“
Sie entspannte sich ein wenig. Vieles hang damit zusammen mit Leuten am Tisch deren Namen man nicht kannte. Das durfte ich über Jahre hinweg lernen. Ich selbst war häufig nervös.
„Cas? Stell uns deinen Freund vor“, sagte Aiden und warf mir ein aufmunterndes Lächeln zu. Wahrscheinlich sollte es mir Mut machen und verdammt! Er schaffte es. Ich holte einmal tief Luft.
„Das ist Sean! Offenbar Logans bester Freund. Ich habe ihn vor mehreren Monaten in einem Schwimmbad kennengelernt. Erst waren wir nur Freunde, aber dann hat sich das plötzlich geändert. Wie sind jetzt seit knapp vier Monaten zusammen.“, erzählte ich. Ich ratterte die Kurzfassung unserer Geschichte hinunter wie ein Wasserfall.
Sean griff unter dem Tisch nach meiner Hand und verschränkte unsere Finger miteinander.
„Cassie? Wieso hast du uns nichts erzählt?“, fragte Logan. Er klang nicht wütend oder verletzt. Eigentlich wirkte er sanft und vorsichtig.
„Ich hab Angst, dass ihr ihn vertreibt wie Wade.“, nuschelte ich leise. Leider nicht zu leise. Aiden verstand die Worte dennoch.
„Dein Ex? Cassie wir haben Wade nicht vertrieben, weil er dein Freund war, sondern weil er Dreck am Stecken hatte und die Tatsache, dass er für ein paar Monate wegen Raubüberfall saß ist doch Bestätigung.“ Er machte eine Pause und suchte meinen Blick. Seine blauen Augen blickten in meine. Aufrichtig. „Du bist vielleicht das Nesthäkchen, aber wir sind Familie und wir werden nicht dabei zusehen, wie du dich mit den falschen Menschen abgibst. Und das sag ich im Namen der ganzen Familie!“ Aiden’s ernster Gesichtsausdruck machte einem sanften Ausdruck Platz. „Ich freue mich wahnsinnig für dich- euch.“
Logan bestätigte sich.
Eine Sache geht mir jedoch nicht aus dem Kopf und ehrlich gesagt habe ich ein wenig Angst davor. „Und Ryan?“
„Ryan wird damit leben müssen!“, sagte Logan bestimmt.
„Ryan ist unser Problem! Wir regeln das, mach dir keine Sorgen! Vielleicht Ryan ein wenig rummeckern, aber er ist dennoch dein Bruder. Und wie du über achtzehn Jahre lernen durftest drückt Ryan durch Meckerei seine Zuneigung aus.“