Dieser April hielt sich nicht an seinen Leitspruch. Nämlich zu machen, was er will. Oder vielleicht machte er ja doch, was er wollte und war dieses Jahr nur ausgesprochen gut gelaunt. Denn die Bezeichnung 'Wonnemonat' hatte er dem Mai schon im Voraus abgeluchst.
Ich lag in der Wiese, im lichtgefleckten Schatten der riesigen Bäume, umgeben von so hohen Gräsern, dass die Passanten am nahen Flussufer mich nicht hätten sehen können. Wenn sie aufgeblickt hätten.
Krümel zierten die gesamte Picknickdecke, ebenso wie verschmierte Teller und leere Tupperdosen. Die Bäuche hingegen waren voll. Der ideale Zeitpunkt, um sich auf den Rücken zu drehen, den klaren Himmel zu beobachten und einfach das Hirn auszuschalten.
Wäre schön gewesen.
Aber Sven hatte wohl die gleiche Idee und rollte sich ebenfalls auf den Rücken. So kam es, wie es kommen musste und in Kürze saß ein kleines elf Kilo Paket auf seinem Bauch und rief: „Hoppe Hoppe!“
Ich grinste und bereitete mich gleichzeitig darauf vor, ebenfalls als Reittier zweckentfremdet zu werden, aber nichts passierte. Irritiert blickte ich auf und hielt Ausschau nach Elara. Sie saß keinen halben Meter entfernt von mir, ihr kleines, rundes Gesicht dem Himmel zugestreckt. Die Stirn gerunzelt. Blinzelnd starrte sie hinauf, auf...
„Was ist los, Süße? Was siehst du denn?“, fragte ich und richtete mich auf.
Ihr Finger stieß in die Luft, als hätte sie nur auf die Frage gewartet. „Da oben!“, erklärte sie, untypisch wortkarg und ich folgte ihrem Fingerzeig.
Und was ich entdeckte, erklärte ihre konzentrierte Beobachterstimmung absolut. Elara war mit ihren vier Jahren, vermutlich die jüngste Ornithologin Deutschlands, mit dem Fachgebiet Greifvögel. Ihr derzeitiger Favorit war der Gänsegeier. Da wir sie im Bezug auf eine Sichtung außerhalb einer Voliere hatten enttäuschen müssen, tat es mittlerweile auch jeder andere Greifvogel. Und dieser hier flog tief genug, um sogar mich erkennen zu lassen, um welche Art es sich handelte. Nein, korrekterweise muss ich sagen, ich erkannte nur die Gattung. Dem gegabelten Schwanz sei Dank.
„Wow, ein Milan“, murmelte ich ehrfürchtig, denn es war der erste, den ich je in der Natur bemerkt hatte. Was natürlich nicht hieß, dass nie einer da gewesen war.
„Ein Schwarzmilan“, korrigierte Elara und ich zweifelte keine Sekunde daran, dass sie Recht hatte.
Doch der elegante Flieger blieb nicht allein. Von einem Baum flatterten krächzend zwei Krähen auf, die den kreisenden Milan von oben anflogen. Der größere Vogel sank, vergrößerte seinen Flugkreis und verlegte ihn zur Seite. Kein Gegenangriff erfolgte, doch die Rabenvögel ließen nicht von ihrem Gegner ab. Obwohl... wieso eigentlich Gegner?
„Warum machen die das?“, fragte Elara empört und drehte ihren Oberkörper, um der Flugbahn der Vögel weiter folgen zu können. Ich zuckte die Schultern. Doch weil ich wusste, dass sie sich damit nicht zufrieden geben würde, hirnte ich mit meinem ach-so-erwachsenen Verstand nach einer logischen Erklärung.
„Vielleicht...“, begann ich gedehnt und beschirmte meine Augen vor der Sonne, während ich mitverfolgte, wie der Greifvogel immer höher stieg, seine Angreifer kaum beachtend und doch arg bedrängt. „Na ja... es ist Frühling. Da bekommen viele Tiere ihre Babys. Vielleicht haben die Krähen hier irgendwo ein Nest und verteidigen das.“
Ich war sehr stolz auf meinen tollen Ansatz und nickte bekräftigend. Auch wenn mir die Krähen dadurch nicht viel sympathischer wurden. Elara schüttelte den Kopf: „Aber zwei gegen einen. So unfair.“ Ich stimmte ihr zu, wollte mich aber mit einer Beschimpfungstirade über Krähen im Allgemeinen und diese zwei hier im Besonderen, zurückhalten. Tiere in Gut und Böse einzuordnen war mir zuwider.
„Er hat denen nichts getan!“, schimpfte Elara weiter und rappelte sich auf. Die Wut ließ ihren ganzen Körper vor Anspannung vibrieren. Und dann raste sie los und schrie: „Haut ab ihr blöden Krähen. Lasst den Milan in Ruhe!“
Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer.
Ich wollte die Fäuste recken und brüllen: „Genau ihr Mistviecher! Verzieht euch!“
Aber meine Wut reichte nicht aus, dafür war mir mit einem Mal viel zu warm. Innen.
Ich konnte nicht mal die Reaktion der Vögel betrachten, denn meine Augen klebten an der kleinen Gerechtigkeitskämpferin, deren Herz sogar groß genug für einen fernen, gleichgültigen Vogel war.
„Es kann aber auch sein, dass die sich einfach nicht leiden können. Krähenvögel und Greifvögel. Ich hab's mal gegoogelt“, ließ sich Sven von der Seite vernehmen.
Ich streckte ihm den Daumen hin.
Und dann lächelte ich. Einfach so. Für alle.
Für E.
Prompt: Krächzen