Die Sonne blendete, als ich endlich wieder die Augen öffnen konnte. Wie lang war ich bewusstlos gewesen? Minuten? Tage? Ächzend setzte ich mich auf. Der weiche Boden zwischen meinen Fingern fühlte sich modrig an. Ein ekelhaftes Gefühl, aber ich musste mich abstützen, wenn ich nicht einfach umkippen wollte.
"Du bist wach!" War Gregor schon die ganze Zeit hier gewesen? Jetzt kniete er sich in jedem Fall hastig neben mich und sah mich aus sorgenvollen nussbraunen Augen an. Augen zum Versinken.
"Ja", sagte ich und rieb mir die Stirn. Mein Schädel hämmerte, als wäre ein Vogel darin eingesperrt, der sich mit aller Macht zu befreien suchte. "Was ist passiert?"
Grimmig reichte Gregor mir eine Flasche, in der hoffentlich Wasser war. "Du hattest die grandiose Idee, mit einem Bären zu sprechen und wärst fast sein Mittagessen geworden. Ich habe dir ja gesagt, dass das keine gute Idee ist."
"Ich wollte mich mit ihm anfreunden", gab ich kleinlaut zu, verschluckte die Worte halb in dem Flaschenhals, als ich vorsichtig einen Schluck Wasser nahm. Es schmeckte ein wenig erdig und nach vergorenem Wein.
"Du bist fast gestorben!", fuhr Gregor mich an. Erschrocken zuckte ich zusammen. "Ich meine, ich hatte Sorge, dass du nicht mehr aufwachst. Jag mir bitte nicht noch einmal so einen Schrecken ein", Den letzten Satz nuschelte er zusammengekauert, als ob er sich dafür schämen würde. Wie süß.
Liebevoll lächelte ich ihn an. "Aber ich bin aufgewacht."
Verlegen lächelte er mich an. "Ja. Zum Glück." Zum ersten Mal fiel mir auf, wie kraftvoll und dratig seine Arme wirkten, was sein ärmelloses Oberteil noch zu unterstreichen schien. An seinem linken Arm war eine deutliche Bisswunde zu sehen, die wahrscheinlich vom Bären kam. Auf der anderen Seite legte sich ein dunkler Schatten auf seinen rechten Oberarm, der nicht von dem Geäst über uns kam.
"Was hast du da?" Neugierig streckte ich die Hand nach der dunklen Stelle aus. "Hast du dich verletzt?"
Gregor zuckte zurück, schlagartig hatte er einen vollkommen anderen Ausdruck im Gesicht. "Fass mich nicht an!" War das Furcht in seiner Stimme? Seine gesamte Körperhaltung strahlte Abwehr aus. Als ob er sich gegen mich verteidigen müsste.
Betreten sah ich ihn an, dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. "Das ist Fell oder?", rief ich halb begeistert, halb schockiert. "Du bist eine, eine Bestie! Ein Monster!"
"Friskana", unterbrach Gregor mich zerknirscht. Ein Grollen lag in seinem Ton. "Lass mich nicht bereuhen, dich gerettet zu haben."
"Stimmt, du hast mich gerettet", wiederholte ich leise, unsicher, wie ich jetzt handeln oder denken sollte. Biester – Friskana waren grausame Viecher. Sie sahen zwar aus wie Menschen, konnten sich aber in furchterregende Bestien verwandeln. Erkennen konnte man sie an einer Stelle ungewöhnlich dichten Felles an ihrem humanoiden Körper. In allen Geschichten, die ich über sie kannte, waren sie Ursache für entsetzliches Leid, vorgossenes Blut und qualvolle Tode. Einmal habe ich ein Lied gehört, in dem Friskana als schön und verführerisch auf der einen Seite beschrieben wurden, aber auch hinterhältig und blutrünstig auf der anderen. Und zumindest eine Hälfte traf auf Gregor mehr als bloß zu.
Wie war mir das nie aufgefallen? Immerhin hatten wir eine Nacht zusammen in einem Zimmer verbracht, wo er sich meiner Erinnerung nach nicht besonders aufwändig bedeckt hat. Und auch sonst wollte sein Verhalten nicht so recht so den Geschichten passen. Bisher hatte er sich nie besonders aggressiv gezeigt, im Gegenteil, auf mich wirkte er eher ruhig. Auch das Klischee, Friskana seien besonders lasziv, wäre bei ihm objektiv betrachtet eine Übertreibung. Zwar ging er ein wenig auf mich ein, doch war er in unserer Dynamik bisher eher passiv.
Auch jetzt tat er nichts besonderes, er sah mich nur herausfordernd an, und doch merkte ich, wie mein Puls sich beschleunigte. Dennoch zwang ich mich dazu, ruhig zu bleiben. "Wirst du mich jetzt töten?"
Gregor gab etwas von sich, was man als amüsiertes Schnauben bezeichnen könnte. "Habe ich einen Grund dazu?" Ein Zwinkern lag in seiner Stimme, als ob das tatsächlich eine valide Überlegung wäre.
"Nein", antwortete ich schnell. Vorsichtig bewegte ich mich auf ihn zu. "Du bist Gregor, keine Bestie. Du tust mir nichts Böses." Und wenn doch, dann sollte es eben so sein. Dann hätte ich es verdient.
Gregor hielt still, bis ich mich an ihn geschmiegt hatte. "Siehst du?", lächelte ich mehr zu mir selbst und strich mit Fingerspitzen über seinen flauschigen Arm. "Ganz lieb." Er reagierte kaum, starrte mich nur an. "Du tust mir nichts", wiederholte ich, "Du achtest auf-"
"Ich habe in dein Notizbuch geguckt!", platzte es aus ihm hinaus.
"Du hast was!?" Das ging zu weit. Da standen so viele Gedichte und drin von denen ich nicht wollte, dass jemand sie sieht, ganz zu schweigen von den halbfertigen Zeilen über Gregor!
Dieser zuckte bloß unschuldig mit den Schultern. "Mir war langweilig und ich dachte, das wäre eine gute Gelegenheit, um lesen zu lernen. Tut mir leid."
"Du kannst nicht lesen?"
"Entweder das, oder deine Handschrift ist wirklich grauenvoll."
Lachend legte ich den Umhang um unsere Schultern. "Meine Schrift ist erste Klasse. Aber bitte frag mich zukünftig erst, bevor du an meien Sachen gehst."
"Du warst bewusstlos", grummelte Gregor, und dann, noch leiser: "Außerdem mag ich deine Gedichte so gerne."
Mein Herz machte einen kleinen Sprung. "Ich mag dich auch sehr gerne", sagte ich leise und schmiegte mich an ihn. "Lass uns noch ein wenig schlafen bis die anderen zurück kommen, ja?"
Endlich entspannte er sich etwas und zog mich an sich. "Gute Idee", brummte er und entlockte mir ein leises Lachen. Eine Weile verharrten wir eng aneinander gekuschelt. Ich genoss seine Wärme in vollen Zügen, das langsame Heben und Senken seiner Brust, sein leiser Atem, bis ich allmählich einschlief.
Ein leises Rascheln weckte mich auf. Die schwere Nachmittagsluft hatte sich zwischen den Zweigen verheddert und eine kühle Brise wirbelte um meine Nase, aber mit Gregor unter seinem Umhang war mir warm. Ein kleines Eichhörnchen sprang aus dem raschelnden Busch, sah mich schnüffelnd an, bevor es geschickt an einem Baum nach oben kletterte.
Gähnend streckte ich mich und stand auf. Meine Glieder schmerzten noch immer, aber mit einem schnellen Heilzauber würden sie sich bald besser anfühlen. Gregor schlief noch immer. Lächelnd strich ich ihm über das kurzgeschorene Haar, woraufhin er murmelnd die Schultern hochzog. Er musste wirklich erschöpft sein. Kurzerhand wendete ich denselben Heilzauber auch bei ihm an, damit immerhin die Bisswunde an seinem Arm geheilt werden würde.
Gemächlich schlenderte ich zum Versteck der Weinkisten, um nachzusehen, ob noch alles da war. Vielleicht, nur ganz vielleicht würde ich ja eine Flasche einstecken. Wegzoll oder so. Ich schob also das Gebüsch zur Seite und zog vorsichtig eine Flasche Weißwein hinaus.
"Lässt du wohl die Finger von der Ware!"
Erschrocken zuckte ich zusammen und fuhr herum. Einige Meter hinter mir hatte Randalf sich aufgebaut und sah entzürnt auf mich hinab.
"Ich wollte nur nachschauen, ob nnoch alles da ist!", verteidigte ich mich stammelnd, was er mit einem leisen Zischen abtat.
"Wo ist Gregor?", erkundigte sich Olesch mit einem fragenden Blick in den Wald hinein.
"Der schläft da drüben." Betrübt deutete ich in die ungefähre Richtung aus der ich gekommen war. Olesch folgte meiner Weisung ohne ein weiteres Wort.
"Du bist wie ein Kleinkind, das man nicht aus den Augen lassen darf", zeterte Randalf weiter, kniete sich neben mich und hiefte eine der Kisten halb hinaus. "Los, hilf mir mal."
"Ich war ja dabei", brummte ich und zog mit ihm an der Kiste. Wie konnte Weinnur so schwer sein?
"Wir haben einen Karren bekommen, der am Waldesrand steht", erläuterte Bumblebore und nahm die Kiste entgegen.
In dem Moment kamen Olesch und Gregor zurück, der gerade noch seinen Umhang glatt strich. "Wer ist das?", fragte er barsch und deutete mit dem Kinn auf die kleine Person, die hinter Bumblebore stand.
Dieser fuhr sich ein paar mal über den bronze schimmernden Bart, bevor er sich vorstellte. "Mein Name ist Pargrim Bronzebart. Ein bescheidener Söldner. Ich erledige so gut wie alles, wenn die Bezahlung gut ist."
Gregor nickte knapp. "Diese Philosophie teilen wir."
Olesch hatte inzwischen die Kiste hochgehoben und trug sie zum Waldesrand, indes Randalf und ich eine weitere aus der Grube schleiften.
"Und wie kommt es, dass du dich unserer hübschen kleinen Gruppe angeschlossen hast, wenn ich fragen darf?", bohrte ich weiter nach, als die Kiste oben war.
Gregor und Bumblebore nahmen hoben sie ungefragt hoch und schleppten sie Richtung Karren. "Könnt ihr diesen Plausch nicht auf später verschieben?", knurrte er dabei.
Pargrim beachtete ihn gar nicht. "Mir wurde eine ansehnliche Belohnung dafür gegeben, dieses kleine Tier dort nach Brako zu begleiten." Grinsend deutete er auf Bumblebore. Erst jetzt fiel mir ein kleines echsenartigen Wesen mit rosa-orangenen Schuppen auf, das sich an Bumblebores Schulter festkrallte. Sein Kopf war wesentlich größer als der Körper und war an den Wangen geziehrt von kurzen tentakelähnlichen Ästchen. Frech sah er mich von dem weglaufenden Rücken aus an.
"Wie niedlich der ist! Kann er reden?" Aufgewirbelt lief ich hinter Bumblebore und dem kleinen Tierchen hinterher. "Kannst du reden, Kleiner?"
Amüsiert warf Bumblebore mir einen Blick über die Schulter zu. "Er heißt Jürgen."
"Toller Name", kommentierte Gregor leise. "Richtig passend."
"Hallo Jürgen", säuselte ich. "Schön dich kennen zu lernen!"
Jürgen sah mir keck ins Gesicht, dann streckte er die Zunge raus, leckte sich schlagartig über ein Auge und drehte sich nach vorne. Reizendes kleines Kerlchen.
"Xelan, kommst du mal zurück und hilfst weiter?", rief Randalf von hinten.
Ich winkte die Bitte eitel ab. "Du schaffst das gewiss auch ohne mich", meinte ich und lief zum Karren. Ich hatte dringend ein paar Gedichte zu schreiben.
Ich setzte mich also vorne an den Holzkarren und begann, ein paar Verse aufzuschreiben. Als alles verladen war, hatte ich bereits einen groben Umriss des Gedichtes fertiggeschrieben, das ich im Kopf gehabt hatte.
"Wenn ihr erlaubt", lächelte ich und sprang vom Karren, den Olesch gerade bereitwillig aufnahm, "ich habe ein Liedchen über das verfasst, was Gregor und mir in eurer Abwesenheit widerfahren ist!"
"Wehe, du fängst an zu singen", knurrte Randalf und folgte Olesch und den anderen die Straße hinab.
Grinsend holte ich meine Laute hervor und klimperte ein paar Töne zum warm werden. "Kannst dir ja die Ohren zuhalten, du Banause." Bedauerlicherweise befolgte Randalf meinen Vorschlag. Dennoch ließ ich es mir nicht nehmen, mein frisch konstruiertes Meisterwerk zum Besten zu geben:
Auf der Spur eines Wesens durch den Wald
Schlichen Gregor und Xelan geschwind
Bis sie als bald
Wie aus dem Nichts schon am Ziele sind.
Dort steht es die gesuchte Gestalt
Mit spitzen Zähnen und scharfen Krallen
Voller Muskeln und Gewalt
Bereit die Fremden anzufallen
5 Meter groß, mit roten Augen
Ein stattlicher Bär
Unsere Helden voller Sorgen
Doch mutig sehr
Schritt Xelan auf das Monster zu
Versucht mit ihm zu sprechen
Es erwidert jedoch nur:
"Fressen, fressen, fressen!"
Und mit einem Schlag lag Xelan da
Sich vom Bewusstsein abgelöst
Dem Tode nah
Wenn nicht Gregor ganz erbost
Mit starkem Hieb
Den Bär vertrieb.
Ein Held fürwahr ist er
Der sich zwischen Xelan und den Tod
gestellt hat und so in letzter Not
Die singende Seele zu retten.
Auch wenn der Bär wie Xelan erfuhr
Kleiner als gedacht
Hat Gregor in seiner Natur
Eine Heldentat vollbracht,
Für welche Xelan hat sein ewig Dank
Und Liebe
Für ihn
Der so mutig seine Pranke schwank.
Stille.
Randalf gab sein Hörorgan wieder frei. "Ist es vorbei?"
Etwas beleidigt sah ich auf die Laute. "Ich weiß, es ist noch nicht perfekt, aber so furchtbar war es nun auch wieder nicht. Ihr könnt mir ruhig ein wenig applaudieren."
In dem Moment spürte ich einen schlanken Arm, der sich um meine Taillie legte. "Ich bin sehr beeindruckt, Xelan", lächelte Gregor leise. "Möchtest du nicht noch etwas vortragen?"
Stöhnend verdrehte Randalf die Augen.