Jaulend ging der letzte Wolf zu Boden. Pargrim stieß ihm noch zwei Mal in die Seite, doch er reagierte nicht mehr. „Tot“, stellte er fest, bevor er den Blick zu unserem Jäger wandern ließ. „Kannst du so noch mitkommen?“
Dieser zog sich mit zusammengebissenen Zähnen den Pfeil aus dem linken Fuß. „Ich fürchte, ich muss zurück“, keuchte er, „so bin ich mehr Zielscheibe als wirkliche Hilfe.“
Randalf griff ihm unter die Arme und half ihm hoch. „Kommst du allein wieder zurück?“
Zweifelnd sah der Jäger zum umgestürzten Baum. „Das sollte ich hinbekommen. Immerhin ist es nicht allzu weit.“
Damit machte sich der Jäger humpelnd zur provisorischen Brücke auf und kroch auf allen vieren hinüber. Das letzte, was wir von ihm sahen, war wie er sich an einem Baum festhielt und schließlich zwischen den Stämmen verschwand. Erst dann wagte ich, mich zu Gregor umzudrehen.
„Bist du in Ordnung?“ Sorgenvoll umschloss ich sein Gesicht mit meinen Händen und besah es mir von allen Seiten. Einer der Wölfe hatte ihn böse an der Wange erwischt. Blut tropfte aus der tiefsten Wunde auf meine Finger.
Er schmiegte die nicht verwundete Seite seines Gesichtes in meine Hand und küsste sie leicht. „Nichts, was nicht wieder heilen wird. Mach dir keine Sorgen.“
„Ich könnte einen Heilzauber anwenden“, schlug ich vor, aber er schüttelte den Kopf.
„Es ist nichts.“ Damit küsste er mich. Er war deutlich angespannt dabei, doch als ich ihn umarmte, hatte ich endlich das Gefühl, dass er ein wenig locker ließ. Zärtlich fuhr ich ihm durchs Haar. „Ich passe auf dich auf, Sonnenschein“, murmelte ich an ihn gelehnt, ein wenig hilflos, was ich tun sollte. Immerhin merkte ich deutlich, dass ihn irgendetwas beschäftigte, aber ich konnte nicht recht einordnen, was es war.
Er lächelte zaghaft, küsste mich auf die Wange und nahm meine Hand. Gerade wollte er etwas erwidern, da rief Randalf uns zu: „Seid ihr fertig? Wir würden dann mal langsam los!“
„Wir haben hier gerade einen privaten Moment!“, rief ich genervt zurück, aber Gregor löste sich bereits lachend von mir.
Schmollend trottete ich ihm hinterher, während sich die Gruppe wieder auf den Weg tiefer in den Wald machte. Die Luft schmeckte faulig süß, fast, als würde hier etwas totes liegen. In einem Wald war das bestimmt nicht allzu unüblich, aber je weiter wir gingen, desto schlimmer wurde der Geruch.
„Boah, stinkt das furchtbar hier!“ Olesch war der erste, der das ansprach. „Ich gucke mal nach, woher das kommt.“ Damit marschierte er von unserem Pfad in den dichten Wald hinein.
Pargrim zuckte nur mit den Schultern und folgte ihm.
„Ihr könnt doch nicht einfach so den Weg verlassen!“, fluchte Gregor leise. „Wer weiß, was da für Tiere sind, und wir haben gerade erst gekämpft!“
Schmunzelnd stieß ich Gregor in die Seite. „Jetzt mach dir doch nicht immer solche Gedanken“, grinste ich und schob mich an ihm vorbei. „Schließlich ist das, was da liegt, wahrscheinlich schon tot.“ Damit folgte ich Bumblebore und Randalf in den Wald und hörte, wie Gregor leise grummelnd mir hinterherlief.
Es dauerte nicht lange, bis wir an einer niedrigen Höhle stehen blieben. Hier war der Geruch so schlimm, dass ich mir ein Tuch vor die Nase hielt, damit mir nicht übel davon wurde. Pargrim steckte gerade seinen Kopf in die schmale Öffnung, als ich bei den anderen zum Stehen kam. „Nichts außer einem Haufen toter Tiere“, bestätigte er meine Vermutung, während er sich wieder aufrichtete. „Wahrscheinlich liegen die da schon eine Weile.“
„Lass mich mal sehen.“ Gregor quetschte sich an mir vorbei, um nun auch selbst in die Höhle zu kriechen.
Einem Impuls folgend drückte ich mich neben ihn in die enge Dunkelheit. Der Todesgestank war hier noch intensiver, aber noch lange nicht so intensiv, wie Gregors Blick, den er mir zuwarf. „Was um alles in der Welt machst du da?“, fragte er irritiert.
„Ich dachte, ich kann dir helfen?“, antwortete ich, merkte aber sofort, dass das nicht zu meinen besten Einfällen zählte. Irgendwie hatte ich es mir romantischer vorgestellt, mit Gregor in einer kleinen Höhle zu hocken. Mit dem Ellebogen voran versuchte ich, noch ein Stück weiter nach vorne zu robben, doch anstatt Halt auf der ausgetretenen Erde zu finden, griff ich in das weiche Fleisch eines Kadavers. Es war zu schummerig, um irgendetwas genauer zu erkennen, und für diesen Moment war ich ganz dankbar darum.
Gregor robbte wieder aus der Höhle hinaus. „Du bist doch auch blöd“, murmelte er und hielt mir eine Hand hin, um mich zu sich zu ziehen. Ich nahm sie dankbar an. „Zeig mal deinen Arm“, verlangte er, und ich hielt ihn ihm bereitwillig hin. Durch die Bäume hindurch drangen nur Reste des Tageslichtes, und doch konnte ich meine Elle feucht glitzern sehen. Bevor ich weiter inspizieren konnte, mit was ich mich schon wieder besudelt hatte, wischte Gregor das Zeug kurzerhand mit seinem Mantel ab.
„Ich gehe mal davon aus, ihr habt auch nichts Interessantes gefunden?“, fragte Pargrim, woraufhin ich den Kopf schüttelte.
Kurz darauf befanden wir uns wieder auf dem breiteren Trampelpfad, von dem wir gekommen waren. Schweigend gingen wir weiter. Nichts außer unserer Schritte war zu hören; Nur manchmal raschelte es im Gebüsch, und in der Ferne schrien irgendwelche Vögel. Die Dunkelheit machte uns paranoid. Wir mussten sparsam mit unseren Fackeln umgehen, und auch ihr Licht verriet uns nur wenige Meter des weiteren Weges. Gregor hatte bereits vor einiger Zeit seine Tiergestalt angenommen, weil er in dieser besser sehen konnte, und ich krallte mich in sein weiches Fell, um nicht die Orientierung zu verlieren.
„Vorsicht“, kam es von vorne. Ich hörte nur ein Rascheln, aber im schwachen Fackellicht konnte ich erkennen, dass wir stehen geblieben waren. Das Fell zwischen meinen Fingern entglitt mir, als Gregor nach vorne preschte.
„Was ist da?“, fragte ich neugierig und schloss zu den anderen auf. Zu unseren Füßen, mitten auf dem Weg, befanden sich zwei leichte Hügel und ein ovales Loch.
Randalf kniete sich hin und überprüfte die Erde von einem der Hügel. „Sieht aus, als wären das Gräber“, stellte er fest. Braune Klumpen bröselten durch seine Finger.
Schnüffelnd umkreiste Gregor eines der zugeschütteten Gräber und begann, mit seinen Pfoten die lockere Erde wegzugraben. Es dauerte nicht lange, bis er mit den Zähnen an etwas zerrte, was wie Kleidung aussah.
„Ist das ein Mensch?“, fragte ich ungläubig und trat noch etwas näher heran.
„Eher ein Kind“, erwiderte Randalf. „Wir machen das schon, Gregor. Kümmere dich um das andere Grab.“
Gehorsam machte sich Gregor an dem anderen Hügel zu schaffen, während wir anderen vorsichtig das Kind ausgruben. Es lag eingerollt in Lumpen unter der Erde. Als ich es aus dem Loch heben wollte, zuckte ich vor seiner kalten Haut zurück. „Ist es tot?“, fragte ich vorsichtig, obwohl ich keine Antwort darauf hören wollte.
„Es sieht aus, als würde es nur schlafen“, sagte Pargrim, der sich nun auch das Kind genauer ansah. „Ich glaube nicht, dass er tot ist. Lebendig wirkt er aber auch nicht mehr.“
„Ein Untoter.“ Randalf rieb sich nachdenklich übers Kinn. „Vielleicht ein Vampir?“ Sacht wischte er etwas Erde von seinem Hals und legte so zwei rote Punkte frei. Sie saßen dicht beieinander und waren etwas vernarbt, fast so, als hätte jemand dort hineingebissen. Ein Blick in die Runde sagte mir: Randalfs Gedanke war nicht allzu weit hergeholt.
Den ersten Schreck überwunden hob ich den kleinen Körper nun doch aus der Grube und legte ihn unter einen Baum. „Auf jeden Fall haben wir unseren Auftrag erfüllt: Wir haben Jolandas Kind gefunden und müssen es nur noch zurück bringen.“
„Wir wissen nicht, ob es wirklich ihr Sohn ist“, widersprach Randalf.
„Ach, kennst du etwa noch andere Kinder, die im Wald rumrennen?“ Die Frage war schneidender hervor gekommen, als ich beabsichtigt hatte.
Randalf zuckte nur mit den Schultern. „Guter Punkt. Aber auch wenn er ihr Sohn ist, wie willst du ihn zurück transportieren?“
Ohne, dass ich es merkte, sah ich zu Olesch. Er war gewiss stark genug, um ein Kind den gesamten Weg zurück zu tragen. Aber da er nichts sagte und stattdessen mit einem Blatt spielte, schlug ich vor: „Ich könnte ihn mir mit den Seilen an meinen Rücken binden.“
„So, dass sein Gesicht direkt an deinem Hals ist? Noch einladender könntest du es nicht für einen Vampir machen, dich zu beißen.“ Ich hatte gar nicht gemerkt, wie Gregor sich zurück verwandelt hatte. „Kommt nicht infrage, Sonnenschein.“
„Na schön, was schlagt ihr denn vor?“, erwiderte ich erbost. „Wir sollten den Jungen finden, das haben wir getan. Irgendwie müssen wir ihn doch zurück schaffen.“
„Als wir den Auftrag angenommen haben, war nicht die Rede von Vampiren“, meinte Pargrim dazu. „Ich sage, wir gehen zurück zum Dorf, sagen, das Kind wäre tot, kassieren und gehen weg. Immerhin ist das wohl auch besser für die Mutter.“
„Aber das Kind ist nicht tot!“, wandte ich verzweifelt ein. „Es atmet vielleicht nicht und ist viel zu blass und kalt, aber du hast selbst gesagt, dass es nicht tot ist!“
„Lebendig ist es aber auch nicht“, erwiderte Pargrim. „Und es hat die typischen Bissmerkmale.“
„Wir haben eine gewisse Verantwortung gegenüber Jolanda.“ Diplomatisch gestikulierte Randalf mit seinen Händen. „Würde sie es verkraften, dass ihr Kind Untot ist? Und was wären die Folgen im Dorf? Wir können nicht noch mehr Tote riskieren.“
Alle Augen lagen auf mir, als würden sie eine Zustimmung für ihren dämlichen Plan benötigen. In mir krampfte sich alles zusammen. Allmählich reichte es mir mit diesem Gegenwind. „Ach, macht doch was ihr wollt“, fauchte ich und stapfte in den Wald hinein.