Das Dorf bestand aus sechs kleinen Häusern, wenn man das halb zerfallene Gebäude am hinteren Rande mitzählte. In der Mitte befand sich ein Brunnen, dessen Gewinde im Abendwind leicht quietschte. Selbst ohne den finsteren Tannenwald, der tiefe Schatten über die Dächer warf, wäre dieser Ort wahrscheinlich alles andere als ansprechend.
"Das soll MariusM sein?" Zweifelnd trat Olesch auf den gepflasterten Dorfplatz und sah sich um. "Nicht besonders einladend."
Randalf folgte ihm und besah sich das nächte Haus. "Nicht wirklich, stimmt." Er klopfte an die Tür.
Alles an diesem Ort machte mich nervös. Mit zittrigen Fingern überprüfte ich, ob mein Mantel mich ausreichend bedeckte und merkte nicht einmal, wie ich Xelans Hand fester drückte.
"Keine Sorge, Sonnenschein." Liebevoll knuffte er mir in die Seite. "Menschen riechen so etwas nicht. Und ich passe auf dich auf. In Ordnung?"
Ich zwang mir ein verkniffenes Nicken ab. Er hatte Recht; es würde schon alles gut gehen. Trotzdem fuhr ich mir notorisch über meinen Kopf.
Ein leises Quietschen schallte über den Platz, als die Tür aufschwang. Hinter ihr erschien ein grobschlächtiger Mann mit breiten Schultern und kahlem Kopf. "Wer seid ihr denn?", fuhr er Randalf harsch an.
Dieser wich einige Schritte zurück. "Wir sind Reisende", sagte er etwas überrumpelt. "Söldner. Abenteurer, nenn es wie du willst. Wir sind gekommen, um ein Kind zu suchen."
Die Augen des Mannes musterten uns eingehend, dann deutete er mit dem Kinn auf das gegenüberliegende Haus. "Versucht es mal da. Da wohnt die Mutter." Ein raues Lachen kroch aus seiner Kehle. "Die ist bestimmt so irre, Söldner anzuheuern." Damit schlug er die Tür zu und es war wieder still.
"Das ist doch ein Hinweis." Mit einem Schulterzucken marschierte Pargrim über den Platz und klopfte an die zuvor angedeutete Tür an. Erst passierte gar nichts, doch kurz bevor er ein weiteres mal klopfen wollte, schwang die Tür auf und eine kleine dürre Frau mit blutunterlaufenen Augen erschien.
Eine Weile schwiegen wir uns an, dann eilte Randalf zu ihr. "Verzeih die späte Störung. Wir haben einen Brief in Brako erhalten und sind gekommen, um ein Kind zu suchen. Bist du unsere Auftraggeberin?"
Sogleich schien es, als würde eine immense Last von ihren Schultern fallen. "Aber ja", seufzte sie und trat zur Seite. "Tretet ein, bitte, tretet ein."
Nacheinander quetschten wir uns in das Haus, das definitiv viel zu klein für sechs Personen und einen fast zwei Meter großen Ork war. Immerhin schien Xelan das als valide Entschuldigung zu sehen, um sich noch dichter an mich zu drängen, als es absolut nötig war. Mit einem leisen Seufzen legte ich einen Arm um ihn, damit er Ruhe gab, und es schien ihn tatsächlich zufrieden zu stellen.
"Ich bin so dankbar, dass endlich jemand gekommen ist", plapperte die Frau weiter. "Beinahe habe ich die Hoffnung schon aufgegeben: mein Kleiner ist bereits seit beinahe anderthalb Wochen verschwunden. Natürlich kann er auch einfach weggerannt sein, aber das ist doch unrealistisch, bis jetzt war er immer zu Hause, als es dunkel geworden ist!" Ein tiefes Durchatmen verschluckte ein Schluchzen.
"Warum erzählst du uns nicht in Ruhe, was passiert ist, Jolanda?" Beruhigend strich Randalf der Frau über die Schulter und dirigierte sie zu dem einzigen vollständigen Stuhl. "Jolanda stimmt doch, oder?"
Die Frau nickte zittrig und setzte sich.
Randalf zog einen Schemel heran und setzte sich zu ihr. "Also. Du hast den Jungen vor anderthalb Wochen zuletzt gesehen, richtig? Woran erinnerst du dich von dem Abend?"
Die schmalen Finger von Jolanda fuhren die Löcher in ihrem Rock nach, als sie sich endlich wieder gesammelt hatte. "Mein Sohn hat am Wald gespielt mit einem anderen Mädchen. Er weiß, dass er nicht zu tief reingehen soll, weil es dort zu gefährlich ist. Und dann war er plötzlich verschwunden!" Schluchzend vergrub sie ihr Gesicht in ihren Händen.
"Schon gut, wir werden ihn finden", versprach Randalf. "Mach dir keine Sorgen mehr."
"Ich bin so froh, dass ihr da seid", schniefte Jolanda.
"Hat das Kind auch einen Namen", platzte es aus mir heraus, "oder nennst du ihn immer nur Kind?"
Mit dem Ärmel wischte sie sich über die Augen. "Wolfgang", sagte sie. "Das scheint uns in letzter Zeit heimzusuchen."
In der Zwischenzeit hatte Pargrim sich ebenfalls auf den Boden gesetzt und gelangweilt ein Stück Holz hin und her gerollt, doch jetzt sah er auf. "Heimsuchen? Wie meinst du das?"
"Vor knapp einem Monat ist ein anderes Kleinkind dieses Dorfes gestorben", erklärte sie. "An einem Tag wurde es auf einmal furchtbar krank und am nächsten Morgen war es tot. Das ging alles ganz schnell."
"Verstehe." Bumblebore fuhr sich nachdenklich über den Bart. "Wir sollten uns aufteilen und bei diesem Mädchen und der Mutter des verstorbenen Kindes weiter nachforschen. Vielleicht wissen die noch etwas, was uns behilflich sein könnte."
Randalf nickte. "Wir bringen den Jungen zurück", sagte er an Jolanda gewandt. Dann verließen wir die Hütte. Wir entschieden uns aufzuteilen, um das restliche Dorf schneller abzuklappern. Xelan entschied, dass er mit mir zu der ehemaligen Mutter gehen wollte.
Schon allein der Anblick des Hauses war trostlos. Das Gestein war verwittert und die Tür sah aus, als wäre sie eher zur Dekoration da. Wirklich abschirmen vor Wind und Wetter konnte sie wahrscheinlich nicht.
Vorsichtig klopfte Xelan an. Das Geräusch hallte tief nach, aber nichts geschah, obwohl wir durch die Ritzen der Tür deutlich sahen, dass jemand drinnen saß. Mit etwas Nachdruck klopfte Xelan noch einmal, und diesmal bewegte sich etwas. Ein Fräulein mit vor Kummer zerfurchtem Gesicht öffnete. "Was wollt ihr?", fauchte sie abfällig.
Xelan holte seine Laute hervor, um sein kleines Vorstellungsliedchen zu trällern, aber ich hielt ihn davon ab. "Wir wollten mit Ihnen über ihr Kind sprechen." Er hatte nicht einmal komplett ausgesprochen, als die Tür zugeschlagen wurde. "Kein Interesse", krächzte es von innen.
Verdattert wich Xelan einen Schritt zurück. "Hat die gerade... Einfach so..." Fassungslos blinzelte er mich an.
Ich hingegen war nicht ganz so zurückhaltend. "Hey, aufmachen!", rief ich und pochte gegen die Tür. Hastig griff Xelan meine Arme.
"Verschwindet!", bellte die Frau.
Wie unhöflich war das denn? "Ich trete jetzt die Tür ein", regte ich mich auf, "Kann ich die Tür eintreten? So schwer kann das nicht sein."
"Lass es, Gregor." Seufzend zog Xelan mich zurück. "Das ist verlorene Lebensmüh. Sie will nicht mit uns reden."
Frustriert drehte ich mich um und ging zurück zum Brunnen. "Das ist doch Mist."
"Ist ja nichts persönliches." Xelan setzte sich neben mich auf den Rand des Brunnens. "Immerhin hat sie gerade ihr einziges Kind verloren. Lass sie trauern."
Besänftigt entspannte ich mich etwas. Dennoch beharrte ich trotzig: "Sie hätte wenigstens mit uns reden können."
Xelan zuckte mit den Schultern und klimperte auf seiner Laute. "Immerhin sind wir so schneller fertig als die anderen." Die einzelnen Töne verflochten sich zu einer Melodie, und mit geschlossenen Augen lehnte ich mich an ihn, um ihr zu lauschen.
Eine Weile später kamen die anderen zum Brunnen. Randalf war der erste, der sogleich glücklich berichtete, dass er einige Kräuter von der hiesigen Hexe abknöpfen konnte. Olesch hinter ihm schüttelte nur verzweifelt mit dem Kopf. Anscheinend hatte er nicht so viel mit Kräutern anfangen können.
Schließlich kamen auch Pargrim und Bumblebore zum Brunnen. "Wie es aussieht, ist der Junge im Wald verschwunden", erklärte letzterer.
"Also gehen wir in den Wald und suchen ihn", schlug ich vor. "Simpel."
Pargrim kratzte sich an der Stirn. "Ganz so einfach ist das nicht. Der Jäger meinte, dass der Wald so dicht ist, dass man selbst am hellichten Tag die Hand vor Augen nicht sehen kann. Aber er hat sich dazu bereit erklärt, uns morgen hineinzuführen."
"Das Angebot haben wir angenommen. Wir übernachten hier draußen und machen uns morgen früh auf den Weg." Die Art, wie Bumblebore das sagte, ließ jeden gegenteiligen Vorschlag in Kopfsteinpflaster versickern, also suchten wir nach einer geeigneten Stelle, um unser Lager aufzuschlagen.
Xelan zog an meinem Umhang. "Möchtest du mit mir zurück zu der Wiese gehen, um dort zu schlafen?" Oder auch nicht zu schlafen.
Dieser unausgesprochene Teil ließ gleich wieder diese gewisse Hitze in mir aufsteigen. "An sich sehr gerne. Aber wir brauchen allein zwei Stunden dorthin, und wir wollen morgen früh los..." Zweifelnd sah ich zum Himmel, der sich gerade durch die sinkende Sonne tieforange färbte. "Wir sollte hier bleiben und uns ausruhen. Ich glaube, dass der morgige Tag anstrengend genug wird."
"Ausreden", neckte Xelan mich, machte aber keine weiteren Anstalten, mich irgendwie zu überreden.
Wir ließen uns an einem Stück Wiese zwischen Dorf und Wald nieder. Eher provisorisch bastelten wir uns unsere Schlafplätze aus Laub und Moos. Allmählich wurde es kalt, also machte Pargrim ein kleines Feuer und wir legten uns nah an die Glut um uns zu wärmen. Xelan kuschelte sich zu mir unter meinen Mantel und bald darauf fielen wir in einen unruhigen Schlaf.