Der Hafen war nicht besonders weit weg vom krähenden Hahn, sodass wir dort ankamen, noch bevor ich wirklich wach geworden war. Ein leichter Nebel hatte sich auf die trägen Wellen gelegt, die leise plätschernd gegen die Holzstege schlugen. Als würden sie schlafen, trieben einige Schiffe und kleinere Boote kraftlos an den Docks. Hier und da liefen einige Schiffsfahrer herum, die uns misstrauische Blicke zuwarfen, aber ansonsten war der Hafen leer.
Abwesend ging ich auf das weite Wasser zu, während die anderen irgendetwas besprachen. Ich hätte ihnen ohnehin nicht zugehört. Stattdessen genoss ich das sanfte Rauschen, die salzige Luft und den kühlen Wind, der mir so vertraut war, als wäre er Teil meines Körpers. Gemächlich ging ich auf eines der größeren Schiffe zu und sah an ihm hinauf. Es war aus dunklem Holz gefertigt, das von Wind und Wetter glatt geschliffen worden war. Am Rumpf klebten ein paar Algen und im Wasser nagten kleine harmlose Fische an ihm.
Meine Brust zog sich schmerzvoll zusammen, als ich gen Horizont blickte. Jeden Tag vermisste ich den Ozean ein bisschen mehr. Die kräftigen Wellen, den starken Wind, die salzigen Tropfen, die alles was sie berührten nass machten. Ich vermisste es, am Steuerrad zu stehen, das feuchte Holz zwischen meinen Händen, und ich vermisste die Geschichten, die abends erzählt wurden. Gewiss würde ich einiges geben, um wieder zur See fahren zu können, aber mein Platz war hier. An Land. Im Wald. Auf dem Ozean hatte ich jetzt nichts mehr zu suchen.
"Gregor, kommst du?"
Bumblebores Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Etwas erschrocken drehte ich mich um und schloss zu ihm auf. Gemeinsam gingen wir den Hang hinunter.
"Ich habe beinahe mein gesamtes Leben auf Schiffen verbracht", merkte er an. "Aber irgendwann werden die Knochen rostig. Da ist es besser, sich etwas anderes zu suchen."
Ein wenig verdutzt wandte ich meinen Blick zu ihm. "So alt bist du doch noch gar nicht", meinte ich. "Du läufst immer noch weite Strecken und bist ein guter Kämpfer. Du hättest gut auf dem Meer bleiben können!"
Daraufhin lachte Bumblebore leise. "Manchmal ist es besser, einen anderen Weg einzuschlagen." Noch immer mit amüsiertem Blick kraulte er Jürgen unterm Kinn. "Du bist noch jung, und Schiffe wird es immer geben. Genieße doch deine Zeit an Land!"
"So gut es geht", murmelte ich leise.
Inzwischen hatten wir eine Steinwand erreicht, in die ein Gesicht eingelassen war. Pargrim klopfte gerade dagegen. "Hallo? Jemand da?"
Das Gesicht schälte sich aus sich selbst, schien zu blinzeln und sich zu schütteln. Es alterte einmal in rasantem Tempo, bevor die Bewegungen im Stein langsamer wurden, bis das Gesicht sowohl sehr jung als auch sehr alt aussah. Dann begann es zu sprechen. "Nimm deine Hände weg, du ungeholbelter Flegel!"
Überrascht trat Pargrim einen Schritt zurück. Stattdessen trat Randalf hervor. "Wir suchen eine Grotte", sagte er, "Kannst du uns dorthin führen?"
Das Gesicht nickte bedächtig. "Natürlich." Stolz zog sich der Teil des Gesteins hoch, wo wohl die Brauen sitzen würden. "Ich bin der Eingang zu der Grotte, die ihr sucht!"
Erleichtert atmete Randalf aus. "Wunderbar! Lässt du uns rein?"
"Gewiss nicht!"
Frustriert drehte Randalf sich um und stapfte zu den Büschen hinter uns. Dabei fluchte er so etwas wie "Nur von Inkompetenz umgeben" und "unfähige Vollidioten". Ich glaube, er hatte nicht besonders gut geschlafen.
Zögerlich ging nun Bumblebore zu dem Gesicht. "Wir bitten nicht einfach so um Einlass", erklärte er langsam. Vorsichtig nahm er Jürgen von seiner Schulter und ließ ihn auf seine Hand krabbeln. "In Serania sind wir auf diese kleine Echse gestoßen. Ein Schamane meinte, wir müssten ihn hier her bringen."
Das Gesicht beugte sich etwas vor, um Jürgen zu begutachten. Dieser streckte sich ihm keck entgegen. "Wisst ihr, was diese Echse benötigt?"
"Nein", antwortete Bumblebore. "Ein Lohn wurde uns ebenfalls nicht versprochen."
"Na schön." Gemächlich nickte das Gesicht. "Ich will euch ein Rätsel stellen, um zu sehen, ob ihr würdig seid. Löst ihr es, werde ich euch den Weg freigeben. Wenn nicht, verschwindet ihr auf der Stelle von hier." Es blickte uns eindringlich an, bevor es in erhabenem Ton vortrug: "Mich kennen heißt leben, Mich sehen heißt Schmerz, Mich berühren bedeutet eine Reise, die den Tod bringt."
"Mich kennen heißt leben", wiederholte Olesch leise. "Das ist doch bestimmt irgendetwas zu essen."
Inzwischen hatte Randalf sich wieder beruhigt und sah nun kritisch zu Olesch hinauf. "Und was bitte sehr tut an Essen weh?"
"Es gibt ja auch scharfes Essen."
"Orks." Kopfschüttelnd rieb sich Randalf übers Kinn.
"Die Sonne!", fiel Xelan ein. "Ohne Sonne gäbe es viel weniger Leben auf der Erde. Aber sieht man sie an, schmerzt es in den Augen. Und sie ist weit weg, zu ihr hinzukommen ist gewiss nicht ungefährlich."
"Ist das eure Antwort? Die Sonne?" Höhnend verzog das Gesicht seinen Mund.
Da niemand etwas einwarf, bestätigte Xelan: "Ja."
"Dies ist korrekt", grollte das Gesicht und riss seinen Mund so weit auf, dass wir hindurch gehen konnten. Olesch betrat als erster die finstere Höhle. Hastig griff Xelan nach meinem Arm, bevor wir als letzte in die Dunkelheit traten. Ein wenig überfordert strich ich beruhigend über seine Hand. Hinter uns schloss sich der Eingang wieder.
"Man kann die Hand vor Augen nicht sehen", stellte eine Stimme fest, die ich nicht zuordnen konnte. "Hat irgendjemand etwas zum Leuchten dabei?"
Beklommenes Schweigen, dann explodierte etwas vor meinen Augen. Randalf hatte ein Lagerfeuer hergezaubert, den einzigen Zauber, den er unbegrenzt oft verwenden konnte. "Wir sind nicht wirklich ohne Fackeln oder so etwas losgegangen, oder?"
Schnell ließ Xelan mich wieder los.
"Doch, ich fürchte schon", kam es von Pargrim.
Allmählich gewöhnten sich meine Augen an das dimmige Licht. Wir befanden uns in einem ausgemauerten Raum, von dem jeweils links und rechts Türen abgingen. In unserem Raum selbst befanden sich einige Statuen und ein leeres Becken, sonst aber nichts besonderes.
Randalf ging zuerst zu dem linken Durchgang und zauberte dort ebenfalls ein Lagerfeuer hin. "Sieht sicher aus", meinte er und ging hindurch.
Wir folgten ihm. In diesem Raum befand sich in der Mitte ein hoher Brunnen, aus dem unentwegt Wasser floss. Im Feuerschein schimmerte es golden.
"Ist das... wirklich nur Wasser?" Vorsichtig näherte Xelan sich dem Brunnen. Gerade beugte er sich über die Flüssigkeit, da kam Pargim von hinten an und drückte sein Gesicht kurz ins Wasser. Xelan gab einen spitzen Schrei von sich, bevor er vollkommen verstummte. Wütend richtete er sich wieder auf und drehte sich um. Man merkte, dass er irgendetwas erbost rufen wollte, nur kam kein Ton über seine Lippen, denn – Sowohl sein Gesicht als auch einige Haarsträhnen waren versteinert. Schockiert betastete er seine kühlen Wangen, nur um Pargrim dann einen Mittelfinger hinzuhalten.
"Das ist interessant", meinte Randalf, der sich neugierig über den Brunnen beugte.
Pargrim hingegen konnte sich nicht entscheiden, ob er sich zu Tode lachen oder aufrichtig entschuldigen wollte. Letztendlich entschied er sich für ersteres.
"Ist alles in Ordnung bei dir?" Vorsichtig trat ich auf Xelan zu.
In irgendeine Richtung streckte er seinen Daumen hoch. Sehen konnte er also auch nicht.
"Keine Sorge. Ich passe auf dich auf." Sanft legte ich die Hände auf seine Schultern, woraufhin Xelan sich ein wenig an mich lehnte. Sein Haar roch nach nassem Stein, aber eine subtile Note dahinter erinnerte mich an eine aufblühende Wiese im Frühling. An Heimat. Am liebsten würde ich meine Nase darin vergraben.
"Wir sollten uns etwas von diesem Wasser mitnehmen", schlug Randalf vor. "Es könnte uns bestimmt noch nützlich werden. Hat einer von euch noch eine Flasche oder so etwas dabei?"
Hilfsbereit langte Xelan in seine Tasche und kramte eine leere Weinflasche heraus. Langsam nahm ich sie ihm aus der Hand und reichte sie Randalf, der sie augenblicklich ins Wasser hielt. Dass seine Fingerspitzen dabei versteinerten, nahm er bereitwillig in Kauf.
"Es tut mir wirklich leid", beteuerte Pargrim, sobald er sich wieder eingekriegt hatte. Xelan hingegen drehte sich empört weg.
Inzwischen hatte Randalf die Flasche wieder zugemacht und zurück in Xelans Tasche gesteckt. "Das ist alles", verkündete er, "gehen wir weiter."
Gemeinsam gingen wir durch den ersten Raum in die andere Abzweigung hinein. Ich ging dicht bei Xelan, damit er nicht gegen irgendetwas oder -jemanden lief, bis sich seine Steinmaske von seinem Gesicht löste. "Danke, Gregor", lächelte er und griff nach meiner Hand, unwillig, mich schon loszulassen.
Bereitwillig drückte ich ihn kurz. "Geht es dir gut?"
Xelans Lächeln wurde breiter, und er drückte einen kurzen Kuss auf meinen Handrücken. "Bei dir geht es mir immer gut."
Mein Herz machte einen Sprung.
"Ist die Versteinerung aufgehoben?", erkundigte Olesch sich freudig. "Das ist ja toll!"
Nur Randalf schloss sich dieser Meinung nicht an. "Ich dachte schon, ich würde dich nie mehr sprechen hören müssen."
Grinsend streckte Xelan ihm die Zunge raus. "Pech gehabt."
Der nächste Raum war kleiner als der erste und bis auf einen Quader in der Mitte vollkommen leer. Neugierig ließ ich Xelan los und sah ihn mir aus der Nähe an. Er bestand vollkommen aus glattem Stein, aber an der hüfthohen Oberfläche war eine seichte Einlassung in der Form einer Hand. Als ich meine Hand hinein legte, vergrößerte sich die Kuhle etwas, bis sie ein wenig zu groß war.
Bumblebore beobachtete mich dabei. "Lass mich mal", wieß er mich an und legte seine eigene Hand in die Kuhle, die sich wieder so verformte, dass sie ein wenig zu groß war.
Grübelnd wandte ich mich an Xelan. "Wie ist der Stein von deinem Gesicht gefallen?"
"Stückchenweise, in kleinen Brocken. Warum?"
"Gib mir mal das Wasser."
Zögerlich zog Xelan die Flasche hervor."Was hast du vor?"
"Ich will meine Hand versteinern und sie in diese Kuhle hier legen."
Erschrocken wich Xelan zurück. "Bist du verrückt? Du verletzt dich noch!"
Träge blinzelte ich ihn an. "Aus deinem Mund ist das jetzt wirklich nicht besonders glaubwürdig."
"Aber was ist, wenn deine Hand abfällt, du könntest sie gar nicht mehr benutzen, und ..."
Ich unterbrach ihn. "Xelan, dein Gesicht war gerade versteinert. Du konntest weder sehen noch reden, und es geht dir gut. Ich glaube, meine Hand kommt klar."
Betreten nahm Xelan meine Hand in seine und träufelte etwas vom Wasser hinein. Der Stein breitete sich schlagartig aus, schien zu wuchern, bis meine gesamte Hand bedeckt war. Als ich sie in die Einkerbung legte, passte sie genau, und ein Grollen erschütterte den Raum. Der Boden bebte, dann war es still.
"Da hat sich ein Durchgang geöffnet", stellte Pargrim fest. "Sehr gut!"
Gemeinsam gingen wir hindurch. Xelan vergewisserte sich noch fünf mal, dass mit meiner Hand wirklich alles in Ordnung war, bevor wir das Ende des Ganges erreicht hatten und in einen weiteren dunklen Raum kamen.
"Kann mal jemand Licht machen?", fragte jemand, da explodierte die Sonne vor unseren Augen. An der gegenüberliegenden Wand schwebte eine Kugel aus hellem funkelndem Licht.