Die ganze Welt hatte ein Auge auf Lena, während sie anmutig und voller Grazie über den Laufsteg wanderte. Ihre langen roten Haare und ihre aalglatte Haut ließen sie fast schon perfekt aussehen. Zu dieser Zeit schien sich alles nur um sie zu drehen. Millionen Blitzlichter tauchten den gesamten Raum in ein Meer aus gleißendem Licht und unzähligen Funken. Und obwohl sich Lena aus Sicht der Außenstehenden in einer scheinbar wundervollen Situation befinden muss, in der sie ihren Traumkörper zeigen konnte, wünschte sich das Model, sie würde den für sie unendlich wirkenden Laufsteg endlich verlassen können. Eine paradox erscheinende Situation. Hinter den Kulissen zitterte Lena am ganzen Körper. Sie saß leicht nach vorne gebeugt und mit krummen Rücken auf einen kleinen Hocker. Sah sich im Spiegel und betrachtete diese Person dort genau. "Hätte ich doch die Bluse der anderen Marke angezogen. Mit dieser hier sehe ich aus wie eine Prostituierte. Und überhaupt. Wie sehe ich generell eigentlich aus? Völlig zersauste Haare und merkwürdige Locken. Sieht so ein erfolgreiches Model aus?" In ihrer sehr selbstkritischen Sichtweise zog sie sich schleunigst um und begab sich zum Ausgang des Gebäudes. Die Modeschau war bereits seit einigen Minuten vorbei. Gott sei Dank. Lenas Freundin Melissa wartete schon auf sie. Gemeinsam wollten die beiden am Abend noch eine Kleinigkeit essen gehen. "Und? Wie ist es gelaufen?" Aufgeregt tapste Melissa wie ein kleines Mädchen neben ihrer Freundin her. "Bei deiner Schönheit müssten doch alle umfallen vor Neid." Mit einem leeren Blick und total schwerfällig drehte Lena ihren Kopf zu Melissa, als müsste dieser einmal geölt werden. "Findest du wirklich, dass ich schön in den Klamotten aussah?" Lena und Melissa blieben kurz stehen und betrachteten die Fotos, die das Model von der Modeschau geschenkt bekommen hatte. In dem Moment wusste Melissa nicht, ob ihre Freundin die vorherige Aussage ernst meinte. "Hast du dich schon wieder so selbstkritisch im Spiegel betrachtet?", fragte sie Lena auf einmal. "Das ist echt nicht dein Ernst oder? Dass du dich immer noch so siehst, als wärst du völlig hässlich, verstehe ich grundsätzlich nicht. Komm. Wir gehen erst einmal etwas essen." Zögernd folgte Lena ihrer Freundin. Sie wollte eigentlich gerade nur nach Hause. Ihre nicht nachvollziehbare schlechte Laune ausleben. Aber sie hatte sich dieses Treffen fest vorgenommen und wollte sich gegen ihre Gedanken wehren, die sie seit dem Aufenthalt auf dem Laufsteg so fertig machten. In einem gemütlichen italienischen Restaurant ließen sich die beiden nieder und aßen gemeinsam. Dabei bestellten sie das Übliche. Vorweg Bruchetta und Tomate Mozzarella. Als Hauptgang eine Pizza für jeden. Normalerweise kein Essen, das man als Model häufig essen sollte. Komischerweise störte Lena das gerade am wenigsten. "Pass mal auf. Ich werde es dir jetzt nochmal sagen und diesmal merkst du es dir bitte, okay?" Melissa schaute ihre Freundin mit einem strengen Blick an. Wie früher in der Schule. Als hätte sich Melissa gerade in einen ehemaligen Lehrer verwandelt, der momentan den Finger hebt, um einem Schüler zu signalisieren, dass dieser sich nicht an die Regeln hält. Natürlich sah Lena trotz alledem noch ihre fürsorgliche und beste Freundin. "Meiner Meinung nach bist und bleibst du für alle der Blickfang schlechthin, auch wenn du dich vielleicht nicht so siehst. Und mal ganz ehrlich. Die Klamotten sind doch vollkommen egal. Mich würde es nicht wundern, wenn man dich aufgrund deines hübschen Aussehens draußen in der Nacht auflauern würde." Mit einem Grinsen blickte Lena auf ihren Teller, der bereits leer war. Sie beide hatten einen guten Appetit gehabt. "Das hört sich ja wirklich aufmunternd an." Lena musste fast durch das ganze Restaurant lachen. "Tut mir leid, Melissa. Ich weiß einfach nicht, warum ich mich immer so selbstkritisch sehe. Jeden Tag gut auszusehen, kann einen ziemlich fertig machen." Melissa nickte zustimmend. "An deiner Stelle würde ich mich nicht mehr nach den Klamotten bewerten, die du anziehst. Auch wenn das auf dem Laufsteg viel zählt, bist eigentlich du diejenige, die als Mensch am meisten Beachtung verdient. Vor allem du." Verlegen senkte Lena ihren Kopf. "Also tue mir den Gefallen und versuche, diese unnötige Last von dir zu werfen. Du bist wunderschön und allein das verdient schon Anerkennung genug." Nachdem die beiden bezahlt und das Restaurant verlassen haben, begleitete Melissa Lena noch nach Hause. Dort angekommen verabschiedeten sich die Freundinnen. Lena bedankte sich für Melissas Worte und hatte nun das optimistische Gefühl, dass bei der nächsten Modeschau alles besser werden würde. Im Badezimmer blickte Lena nochmals in den Spiegel, bevor sie zu Bett ging. Und für einen Moment hatte sie das Gefühl, eine wahre Schönheit vor sich zu haben.