Kapitel 2: Nebelbank
Der erste Gegenstand, den er aus der Truhe holte, war in ein rotes Baumwolltuch eingewickelt. Er war rechteckig und überraschend schwer, als er ihn heraushob. Eine Ahnung, was es sein konnte, schlich sich sofort in seinen Kopf. Die Form und auch das Gewicht, sprachen ganz deutlich für ein Buch. Die Frage war nur: Was für ein Buch? Eine Enzyklopädie? Karten? Oder gar ein Tagebuch? Aufgeregt wickelte Mike es aus seinem Stoffumschlag. Sofort breitete sich eine Staubwolke aus, die ihn, einer Nebelbank gleich, vollkommen einhüllte. Seine Lungen protestierten mit einem Husten, was ihn veranlasste ein paar Schritte weiterzugehen. Allerdings war seine Neugier stärker, weshalb er sich schon nach wenigen Metern im Schneidersitz auf den Boden setzte und den dicken, ledernen Einband öffnete.
Wieder einmal überraschte ihn seine Mutter. Der in dunklem Leder gebundene Wälzer war tatsächlich so etwas wie ein Tagebuch, nur, dass all die Dinge, die darin geschrieben waren für ihn bestimmt zu sein schienen. Seine Mutter musste es vom ersten Tag an, seit seiner Geburt, geführt haben und hatte allerlei Gedanken und Anekdoten darin verewigt. Und Fotografien! Obwohl dies damals wie heute etwas absolut besonderes war, war das Buch randvoll mit Fotografien!
Euphorisch blätterte Mike zur ersten Seite zurück und vertiefte sich in die geschwungene Handschrift seiner Mutter: »23.November 1897: Es gibt sie doch – Liebe auf den ersten Blick. Dakkar, 51 cm, 3690g.« Darunter war ein Foto von einer ziemlich fertigen Sophie und einem dafür umso entspannterem Säugling zu sehen. Mike selbst, wie er lächelnd feststellte. Eine kleine Notiz unten am Rand ließ ihn jedoch grinsen. »Tut mir leid, dass ich bei dir drei Mal nein gesagt habe, mein Gemahl«, stand da, dazu war ein Herz hingemalt.
Mike blätterte weiter, als ihm ein Zettel in die Hände fiel. Es war ein Notenblatt, dessen Noten sich augenblicklich in seinem Kopf zu Tönen formierten. Sie klangen dunkel, dramatisch, erfüllt von etwas, dass einem bösen Omen glich. Er drehte es um und las Sophies Notiz: »Mache mir Sorgen. Er hat wieder diese Träume. Weicht mir aus. Sagt, dass alles in Ordnung sei. Aber die Töne, die durch die Nautilus hallen, sprechen eine andere Sprache. Sollte ich froh sein, dass er sie immerhin als Musikstück festhält? Wenn er nur Fröhlicheres schreiben würde.«
Minutenlang starrte Mike auf die Noten. Er konnte sie ohne Probleme lesen und hatte auf dem Anwesen seines Vormundes auch Klavierspielen gelernt. Hier auf der Nautilus gab es jedoch nur die Orgel im Raum seines Vaters. Dieses Instrument war ihm eigentlich viel zu schwer. Es klang, als würde sich ein Leichentuch über einen legen, daher hatte er seit Jahren nicht mehr gespielt. Nun aber reizte es ihn. Er wollte die Töne, welche seine Mutter so in Sorgen versetzt hatten, in echt hören.
Nach weiteren fünf Minuten überlegen, stand er auf und schlich sich in die alte Kabine seines Vaters. Andächtig nahm er das Tuch von den Tasten, setzte sich auf den Schemel und legte seine Finger darauf. Noch zögerte er, starr auf Nemos Noten blickend.
Ein tiefes Ausatmen, die Augen schließend und er ließ die seit Jahren nicht gespielten Töne frei. Gänsehaut bildete sich auf seinen Armen, als sich der Klang träge in die Luft hob. Bilder erschienen vor seinem inneren Auge. Geschlagene Schiffe wurden vom Meer verschlungen. Ihre Segel reckten sich klagend der Oberfläche entgegen, während die Masten ächzten und brachen.
Er konnte das Stück nicht zu Ende spielen, es war zu düster, zu ergreifend. Daher setzte er schnell einen Flohwalzer hinterher. Seufzend stand er auf, nahm das Notenblatt wieder an sich und hoffte, dass die Geister seinen Vater nun in Ruhe schlafen ließen.
»Ne- Mike?«, hörte er Trautman, als er die Kabine seines Vaters verließ. »Ist alles in Ordnung?« Aus seinen Gedanke aufgeschreckt sah Mike hoch und musste grinsen, als er den alten Steuermann erblickte. Trautman war der letzte noch lebende Freund seines Vaters und seit er wieder auf der Nautilus war, irgendwie auch wie ein Großvater für ihn. Jedenfalls tat Trautman alles dafür, dass das hier sein Zuhause war. Der Anblick des alten Mannes ließ Mike nun grinsen. Trautman hatte sich die Kochschürze umgebunden, hielt den schmutzigen Kochlöffel in die Höhe und musterte ihn aus besorgte Augen. Dazu hatte er etwas geriebenen Käse im Bart.
»Alles gut«, sagte Mike und deutete auf sein eigenes Kinn, was Trautman sich, eine Entschuldigung murmelnd, schnell säubern ließ.
»Ich habe dich noch nie spielen gehört«, murmelte er dann. »Im ersten Moment dachte ich, Nemo sei wieder da. Ich wusste gar nicht, dass du spielen kannst.« Er seufzte. »Nun, hast du den Fisch, den du holen solltest?«
Mike blinzelte. Den Fisch, den hatte er über all die Aufregung ganz vergessen!
»Ist noch im Frachtraum. Ich hol ihn schnell«, rief er und lief los.