Kapitel 6: Nagetier
Mike saß in der Kombüse der Nautilus. Es war ein sehr kleiner Raum, dennoch gab es genug Platz für eine winzige Sitzecke, an der er es sich nun bequem gemacht hatte. Abwesend in dem Album blätternd beobachtete er Singh, der wild rührend über einer Schüssel gebeugt dastand. Weil Mike aufgrund der verhassten Fischsuppe ziemlich schlechte Laune gehabt hatte, hatte Singh beschlossen ihn mit Keksen aufzumuntern. Daher arbeitete er gerade an seinem berühmten Keksteig – die Geheimzutat war Zimt und Kardamom, wie Mike schon vor einer Weile ausgekundschaftet hatte. Und von diesem Teig konnte Mike kaum die Finger lassen. Dass er jetzt nicht hinter Singh stand und ihm den Teig schon beim Rühren abluchste, lag nur daran, dass er sich mit dem Album seiner Mutter beschäftigte. Jedenfalls versuchte er es. Die wohlige Wärme, die durch den vorheizenden Ofen, hier bereits herrschte und Singhs Anblick, in der viel zu kleinen Schürze, ließen seine Gedanken abgleiten. Schnell fand er sich in Träumereien wieder, an denen der letzte Nachmittag nicht ganz unschuldig war.
Noch immer konnte er nicht sagen, was genau ihn dazu bewogen hatte, in den Armen seines ehemaligen Leibwächters zu verweilen. Der Moment, der danach kam, war außerdem noch bizarrer gewesen. Was hatte das zu bedeuten gehabt? Waren sie etwa wirklich drauf und dran gewesen, sich zu küssen? Fast schon ärgerte er sich darüber, dass Trautman hereingeplatzt war, nun würde er es nie erfahren.
Löcher in die Luft starrend, fuhren seine Finger den Einband des Buches ab. Irgendwie beruhigte es ihn, das zu tun. Gerade diese kleinen, winzigen Vertiefungen, die seine Fingerkuppen hier und da fühlten, brachten ihn in einen tranceartigen Zustand.
»Alles in Ordnung?«, hörte er Singh fragen und blinzelte. Es roch jetzt betörend nach frisch gebackenem Gebäck, das ihm sogleich, auf einem Teller schön angerichtet, vor die Nase gestellt wurde. Mike konnte fühlen, wie er rot anlief. Daher nahm er sich einen der Kekse und knabberte gedankenverloren daran herum.
Wollte Singh ihn wirklich küssen?
»Mike?«, fragte Singh erneut, als er von seinem Gegenüber keine andere Reaktion als ein versonnenes Knabbern am Gebäckstück bekam.
»Was?«, machte Mike, der erst jetzt vollkommen realisierte, dass er angesprochen wurde. »Äh ja, ich habe mich nur gefragt, ob ...« Er stockte, musterte Singhs Gesicht, räusperte sich und starrte auf den ledernen Einband des Buches hinab. »Ob wir Mäuse an Bord der Nautilus haben.«
»Mäuse?«, wiederholte Singh. »Ich glaube nicht. Noch nie eine gesehen. Wie kommst du darauf?«
Damit schob er Singh das Buch hin, dessen Leder irgendwie angenagt aussah. Darauf waren eindeutig kleine Zahnabdrücke zu sehen. Auch wenn es ihn schon wunderte, dass nur das Buch angeknabbert war. Der restliche Inhalt der Truhe erschien vollkommen intakt.
Singh schien sich jedoch nicht wegen eines möglichen Nagerbefalls den Kopf zu zerbrechen, denn er begann breit zu grinsen.
»Ohja, mit diesem Nagetier kenne ich mich gut aus! Aber glaub mir, es ist nicht schädlich – im Gegenteil. Es ist sogar sehr anhänglich, liebt warme kuschelige Plätze und man kann es gut mit Keksen ködern.«
Mike, der gerade an seinem zweiten Keks knabberte, ließ diesen sinken und warf Singh ein schiefes Grinsen zu. »Willst du damit sagen, ich habe das Buch angeknabbert?«
Damit nahm Singh den ledernen Wälzer auf, strich mit den Fingerkuppen über die Vertiefungen und nickte.
»Ohne jeden Zweifel!«