Kapitel 7: Fantasie
Der Frachtraum hatte etwas absolut gemütliches, seit er die Kiste darin gefunden hatte. Nun, mit den Keksen und dem wohlig warmen Gefühl in seinem Bauch, kam ihm eine absurde Idee. Die Dinge, an die er dachte, tat man eigentlich nur als Kind, aber er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie er unter Decken geschützt den Schatz seiner Mutter weiter hob.
»Singh?«, fragte er daher den gut zehn Jahre älteren Mann neben sich, der den Teller mit den Keksen in den Händen trug. »Hast du Lust etwas Verwegenes zu tun?«
»Was?!«, entfuhr es Singh. Seine Stimme überschlug sich, während er Mike mit einem fast panischen Blick musterte. Es war der Moment, in dem Mike klar wurde, dass man seine Frage wohl auch völlig falsch verstehen konnte.
»Ähm … ich meine ...«, stammelte er und fuchtelte wild mit den Armen in der Luft herum, um die aufkommenden Bilder des Beinahe-Kusses loszuwerden. »Etwas tun, dass man als Erwachsener eigentlich nicht tut.« Damit rannte er los und griff sich einige der riesigen Planen, die eigentlich dazu gedacht waren verschiedene Güter im Frachtraum sicher zu verzurren. »Lass uns ein Deckenfort bauen!«
Singhs Blick verharrte einige Minuten auf der überdimensionalen Decke, dass Mike schon glaubte, dass dieser ihn nun für komplett irre hielt. »Wir … müssen aber nicht«, stammelte er deswegen.
»Keiner baut die so gut wie ich!«, erklärte Singh siegessicher, nahm Mike die Decke ab und begann sie an einer der gegenüberliegenden Kisten festzumachen. Vom Enthusiasmus gepackt, schob Mike einige Kisten näher an die Truhe heran, legte das Deckenende darüber und verfuhr zusammen mit Singh so, bis sie sich eine Art Zelt gebaut hatten. Als er rein krabbelte, stellte er nun fest, dass es darin stockfinster war.
»Ich kann hier absolut nichts sehen!«, berichtete Mike, mit der hinteren Körperhälfte noch außerhalb des Forts.
»Ich sehe mehr als ich verarbeiten kann«, murmelte Singh. - »Was?«, machte Mike, der leider nur ein Genuschel vernommen hatte. »Ich sagte, ich gehe eine Lampe holen!« Damit hörte er Singhs Schritte den Flur hinabstürmen. Ziemlich hektisch, wie es Mike erschien, aber er wollte eben dafür sorgen, dass sie schnell Licht in ihrem Refugium hatten. Erwartungsvoll setzte er sich davor und wartete, bis Singh zurückkam. Das dauerte auch gar nicht lange und er hatte eine der tragbaren, elektrischen Lampen dabei. Diese konnte man sogar so einstellen, dass sie eher ein gelbes Licht abgab und so sehr an eine Kerze erinnerte. Was sehr romantisch, und außerdem um einiges ungefährlicher als eine echte Kerze, war.
»Ich geh zuerst!«, sagte Singh schnell, bevor Mike sich auch nur umdrehen und zum Eingang krabbeln konnte. »Weil … ich das Licht habe.«
»Hast du mir auf den Hintern gestarrt?« So würde sich Singhs Verhalten ziemlich gut erklären lassen. Obwohl er nicht ganz glauben konnte, dass der so etwas tat.
»Nein.« Natürlich ging das Licht in genau diesem Moment kurz aus und verdeckte den roten Schatten auf Singhs Gesicht.
»Na gut«, murmelte Mike, steckte sich einen Keks in den Mund und wühlte in der Kiste herum. »Waff if daf?«, entfuhr es ihm, obwohl der halbe Keks noch in seiner Futterluke steckte. »Ein Holfschwerf?« Fasziniert kramte er das Holzschwert hervor, drehte es prüfend in den Händen und hielt es dann Singh hin. »Ist das deines?« Diese Kiste war wirklich ein Wunderwerk und er dankte seiner Mutter dafür, denn sie schaffte etwas, das Mike für unmöglich gehalten hätte: Sie lockte Singh vollkommen aus der Reserve. Deswegen konnte er sich das Folgende auch nicht verkneifen.
»Ahhhhh! Ich werde angegriffen! Gemeine Plüschkraken! Rettet mich, oh tapferer Held!« Damit zerrte er das Stofftier, das er zusammen mit dem Schwert gefunden hatte, aus der Kiste heraus und warf sich zappelnd auf den Rücken, den Stoffkraken wie ein wildes Biest an seinem Hals. Der Schrecksekunde – oder Minute? – geschuldet, starrte Singh fassungslos auf seinen »Herrn«. Dann aber setzte der Spaß und die Fantasie auch bei ihm ein.
»Ich eile zu Eurer Hilfe, mein Herr!«, rief er, riss das Stofftier von Mike herunter und beförderte es im hohen Bogen aus dem Zelt. Jedoch verlor er das Gleichgewicht und fiel mit dem Mund voran auf Mikes Mund. Beide waren so perplex, dass sie einfach liegenblieben. Zumal die Plane die Szene so großzügig verschleierte.
»Sag mal, Singh«, war es irgendwann Mike, der sich zu Wort meldete. »Das ist nicht dein Holzschwert, oder?«