Kapitel 4: Grammophon
»Notfallbox«, las Mike die Aufschrift auf der quadratischen Box, die mit dünnen Stricken fest zugeschnürt war. »Im Falle eines Lagerkollers umgehend öffnen!« Seine Stirn legte sich in Falten und er fragte sich, inwieweit diese Aufschrift ernst gemeint war. Durfte er die Box jetzt öffnen und hineinsehen? Ratlos legte er den flachen Karton vor sich auf den Boden und nahm sich wieder das Album vor. Er überblätterte ein paar Seiten, bis er bei einem Foto mit der Überschrift »Lagerkoller« ankam. Genaugenommen waren es zwei Bilder: Eines zeigte seine Mutter mit einem Gesichtsausdruck, der gar zum Fürchten war und auf dem anderen blickte sie selig lächelnd in die Kamera. Ja, das waren eindeutig Vor- und Nachherbilder. Nur, was hatte diesen zufriedenstellenden Stimmungswechsel herbeigeführt?
»Diese Tage waren gar erschreckend«, erklärte Singh da. »Deine Mutter konnte sich nicht so sehr an das Leben unter Wasser gewöhnen, wie wir es taten. Es war nicht einfach für sie, daher tat jeder was er konnte, um sie aufzumuntern.« Dabei legte sich wieder eine leichte Röte auf Singhs Gesicht, sodass Mike sich fragte, was er und seine Mutter wohl angestellt hatten.
»Hmm«, machte er langgezogen. »Also, irgendwie merke ich seit einiger Zeit auch, dass ich irgendwie … Ich bin genervt, ja! Total angespannt und wenn ich noch einmal Bens mieses Essen essen muss, dann …! Das geht als Lagerkoller durch, oder?« Hoffnungsvoll blickte Mike zu Singh, der grinsend beobachtete, wie Mike versuchte den festen Faden mit bloßen Fingern zu entfernen. Er zog und riss daran, erreichte aber nicht mehr, als dass sich das Gewebe beinahe in seine Hände schnitt. Ohne ein Wort nahm Singh ihm deswegen die Box aus der Hand und durchtrennte den Faden mit seinem Dolch.
Er nahm seinen Posten als Leibwächter immer noch ernst, obwohl Mike ihn schon vor Jahren quasi daraus entlassen hatte, damit Singh tun konnte, was er wollte. Was er wollte war jedoch an Mikes Seite zu sein. Nichts anderes kam in Frage. Selber mehr als neugierig, was in der Kiste sein könnte, blickte er über Mikes Schultern und staunte nicht schlecht, als er eine Schallplatte darin fand. Irgendwo hier musste doch noch das alte Grammophon stehen! »Das haben wir gleich!«, sagte Singh euphorisch, nahm die Platte aus der Box und lief suchend los. Während er sich durch die hintersten Ecken des Frachtraums wühlte, bemerkte Mike, dass das nicht alles war, was sich in der Box befand. Darin waren außerdem einige Bögen des gleichen Papiers, aus dem die Fotografien gemacht waren. Als Mike den Stapel herausnahm, bemerkte er, dass sie nicht leer waren, sondern eine ganze Reihe von Bildern zeigten. Und die hatten es wirklich in sich. Er musste sich zusammenreißen, nicht sofort loszulachen.
Darauf waren sein Mutter und ein Junge zu sehen, der nur Singh sein konnte, und sie übertrumpften sich gegenseitig, wer die besseren Grimassen zog. Mit jeden Bild, dass Mike sich ansah, ging sein Grinsen in die Breite. Singh war ein Mann, der herzlich war, aber gegenüber den meisten Menschen nicht seine Emotionen zeigte. Er war stets höflich und zuvorkommen, aber was seine Mimik betraf, zumeist eher neutral. Nur, wenn sie beide allein waren, zeigte er mehr von dem Spektrum, das er an sich hatte.
Daher waren diese Bilder ein wahrer Schatz. Sie zeigten Singh, wie er die Zunge raus streckte, so weit er nur konnte, die Augen verdrehte, die Nase platt drückte und gar jeden Muskel in seinem Gesicht verrenkte. Nun konnte Mike nicht mehr an sich halten und prustete laut los. Genau in dem Moment, als die Musik anfing zu spielen.
»Was ist? Was hast du d- Verdammt, sie hat gesagt, sie hat sie weggeschmissen!«, entfuhr es Singh, als er wieder über Mikes Schulter blickte. Diesmal war er knallrot geworden, sodass Mike noch mehr lachen musste. Er lachte, bis ihm die Tränen kamen. »Die sind furchtbar!«, stieß Singh aus. »Gib sie mir, Mike. Die werfe ich lieber weg.«
»Ausgeschlossen!«, rief Mike johlend, sprang auf und hielt die Bilder so hoch er konnte. Singh hastete ihm direkt hinterher und obwohl er einen Kopf größer war als Mike, kam er einfach nicht an die Fotografien heran. »Hol sie dir doch!«, jauchzte Mike, erheitert von Singh, den er so selten sah und der Musik, die ihn irgendwie beflügelte.
»Das werde ich!« Ohne Vorwarnung griff Singh nach Mikes anderer Hand, die keine Bilder trug und zog ihn an sich. Die Fotografien fiele unbeachtet zu Boden, als er sich in Singhs Armen wiederfand. Auch Singh schien nicht mehr daran interessiert, sie ihm abzujagen, sondern schloss die Arme um seinen Gegenüber, der den Kopf gegen seine Brust anlehnte. Das Gefühl war nur im ersten Moment seltsam, dann wollte er nichts anderes mehr. Ohne groß darüber nachzudenken, begann er Mike und sich im Takt der Musik zu wiegen. Keiner sagte etwas. Sie blickten sich auch nicht an, dennoch waren sie sich der Spannung zwischen ihnen deutlich bewusst.
Es war seltsam, dachte Singh. Wenn man bedachte, wo sie beide herkamen, dann war das gerade wirklich seltsam. Aber noch nie hatte sich etwas so richtig angefühlt. »Mike ...«, flüsterte er rau. Vielleicht war es etwas anderes, weil aus Dakkar schon lange Mike geworden war?
»Ja?« Die Stimme hörte sich ebenso an wie seine und dann konnte er nicht mehr verhindern, dass sich ihre Lippen einander näherten.
»Wo bleibt mein Fisch?«, rief es da laut vom Flur. Schnell sprangen die beiden auseinander und begannen, in Ermangelung einer anderen Aufgabe, die Bilder einzusammeln.