Kapitel 3: Wuchtig
Mike hatte sich die Beutel mit dem Fisch gerade geschnappt, als er sie zugunsten der Truhe schon wieder fallen ließ. Er hatte lediglich vorgehabt das Notenblatt wieder sicher im Buch zu verstauen, als sein Blick auf eine weitere Fotografie gefallen war. Sie zeigte seinen Vater, Kapitän Nemo, wie er voller Stolz neben einer ziemlich schwer aussehenden Wiege stand. Das Ding war wirklich überaus protzig, fand Mike, wie es aber aussah, war sein Baby-ich total begeistert davon gewesen. Jedenfalls war es das, was er vom Gesicht des Säuglings in dem Bett abgelesen hätte. Nicht, dass er sich mit Babys auskannte. Er war zwar schon dreiundzwanzig, aber ihm stand nicht der Sinn nach Kindern und außerdem – nun ja, hatte er kein Interesse an Frauen. Er interessierte sich eher für die Person, die gerade den Frachtraum betrat und wie er seit neuestem wusste, war das nicht unbedingt eine Einbahnstraße.
»Trautman schickt mich«, verkündete Ghunda Singh mit einem Lächeln. »Er fragt sich, wo der Fisch bleibt.«
»Oh verdammt, der Fisch!« Den hatte Mike schon wieder vergessen. »Äh, ja! Ich komme!« Fahrig blickte er von der Kiste, zu Singh und dann wieder zurück.
»Was hast du da?«, fragte Singh und raschelte mit der Tüte, die er in der Hand hatte. Irritiert blickte Mike auf den Beutel mit Walnüssen. Singh hatte neuerdings einen total Heißhunger auf die Dinger und schleppte sie fast ständig mit sich herum. Bei den Muskeln, die sein ehemaliger Leibwächter aber hatte, war das wohl kein Wunder. So ein Körper musste ständig Kohldampf haben und Nüsse waren ein total gesunder Snack.
»Eine Truhe. Ich habe sie vorhin hier gefunden. Wie es aussieht ist sie für mich von … meiner Mutter.«
»Was? Zeig mal«, entfuhr es Singh überrascht, der sich nun ebenfalls, wie ein Kind vorm Weihnachtsbaum, vor der Kiste niederließ. »Das ist ja unglaublich! Davon wusste ich nichts.« Er warf zögerlich einen Blick hinein und hob, nach einem erlaubenden Blick von Mike, ein paar Dinge darin an. »Hast du dir schon alles angesehen?«
»Nein«, erklärte Mike, während Singh ein paar Nüsse aus der Tüte holte und sie knackte. »Bisher hab ich mir nur die ersten Seiten in diesem Buch angesehen und habe das hier gefunden.« Damit zeigte Mike ihm die Noten, worauf sich Singhs Blick aufhellte.
»Also warst du das eben?« Er schob sich ein Nussstückchen in den Mund und bot Mike ebenfalls eines an. »Ich dachte im ersten Moment, dass es nun auf der Nautilus spuken würde. Ein ziemlich grimmiger Geist, zumindest bis zum Flohwalzer.«
»Ja, der musste sein.« Nun konnte Mike sein Lachen nicht zurückhalten. Grinsend kramte er weiter in der Kiste, bis er ein goldenes, viereckiges Gerät darin fand, das mit atlantischen Schriftzeichen versehen war. »Was ist das?« Stirnrunzelnd sah er es an, aber Singh Gesicht hellte sich sofort auf.
»Oh, das ist das Momento meines Vaters. Er hat es bis zuletzt gesucht!«, sagte er mit einem Lachen.
»Sein … Momento?«, wiederholte Mike.
»Ja, er hat das Teil heiß geliebt und uns alle damit genervt«, erklärte Singh, nahm es Mike aus der Hand und hielt es vor die Gesichter der beiden. Dann drückte er auf einen Knopf, sodass es plötzlich blitzte.
»Waaaah!«, fuhr Mike auf, setzte sich aber im nächsten Moment schon wieder total perplex neben seinen ehemaligen Leibwächter. Das Ding machte einen surrenden Laut und dann kam eine Fotografie auf Papier gedruckt hervor. Und sie zeigte Singhs Grinsen und Mikes tausend Fragezeichen in den Augen.
»Darf ich das behalten?«, fragte Singh.
»Wie … wie hast du? Was ist das?«
»Ein Fotoapparat«, erklärte sein Gegenüber. »Wir haben ihn hier auf der Nautilus gefunden. Ich weiß nicht genau wie er funktioniert, aber man kann damit in Sekundenschnelle Bilder machen und wie es aussieht, halten sie auch gut. Mein Vater hat alles und jeden damit fotografiert, bis der Apparat auf mystische Weise verschwunden ist.« Damit holte er sich wieder eine Nuss hervor, aber diesmal verzerrte sich sein Gesicht vor Anstrengung, als er sie knacken wollte. »Das gibt's doch nicht!«
Mit einem belustigen Blick beobachtete Mike den muskelbepackten Mann dabei, wie er fast an einer Nuss verzweifelte, dann nahm er sie ihm aus der Hand, sodass sich ihre Fingerspitzen berührten. »Ich hab da einen Idee.«
Für eine Sekunde zog sich eine ungewöhnlich Röte über Singhs Gesicht. Mike hatte es genau gesehen, es brachte sein Herz zum Hüpfen. Mit beschwingten Schritten lief er durch den Frachtraum und hoffte in der hintersten Ecke das zu finden, was er suchte. »Das ist sie ja!«, rief er triumphierend aus und zerrte die wuchtige Wiege hinter sich her. »So, jetzt her mit den ganzen Nüssen.« Damit legte er eine Nuss nach der anderen unter die Kufen der Wiege und brach sie mühelos entzwei.
Neugierig was sie noch alles finden würden, saßen sie schließlich wieder vor der Truhe und teilten sich die Nussstückchen. Und Trautman, der wartete noch immer auf seinen Fisch.