Bei der Bundeswehr oder auch bekannt als "Trachtengruppe Oliv" waren längere Spaziergänge von zwanzig, fünfundzwanzig oder dreißig Kilometern eine regelmäßig widerkehrende Leibesübung. Die Wehrpflichtigen lasen natürlich auch den Dienstplan, um sich seelisch und mental auf die Wanderungen vorbereiten zu können. Kurioserweise stieg der Krankenstand an solchen Tagen auf rekordverdächtige Höchststände. Zumeist waren es temporäre Leiden, die über Nacht auftauchten und den Wehrpflichtigen das Wochenende nicht versauten. Üblich waren Erkältungen, Schmerzen in den Beinen oder Füßen und muskuläre Probleme.
Einmal mehr war so ein Wandertag an einem schönen Herbsttag fällig. Zumeist war es ein Donnerstag, um den Krankenstand einzudämmen. Wer am Freitag in die Heimat reisen wollte, der sollte also keine Krankheit haben, die länger als vierundzwanzig Stunden dauerte. Aber der Truppenarzt kannte natürlichen alle eingebildeten und temporären Krankheiten. Gerne überwies er diese militärischen Spitzenkräfte an ein Bundeswehrkrankenhaus, damit eine wirklich gründliche Untersuchung an den Leidenden durchgeführt wurde und die Krankheiten felsenfest diagnostiziert wurden.
Junge Männer, die nur unbedeutendere Leiden aufwiesen durften bei den Wanderungen als Absperrposten, Logistikexperten oder mir anderen weniger wichtige Aufgaben betraut. Die anderen Jungmänner, die sich nicht drückten bereiteten sich gewissenhaft auf die Wanderung vor. Man packte in den unbequemen Rucksack ein Mindestgewicht von acht Kilo, damit die Wanderung nicht zu leicht werden würde. Kluge Leute packten weiche Gegenstände in die Rucksäcke. Weniger weise Junker versuchten es mit kleinen schweren Gegenständen, wie Backsteinen, um das geforderte Gewicht auf die Waage zu bringen.
Wie üblich erfolgte die morgendliche Belehrung. Kurz darauf wurden die Rucksäcke gewogen und eine Horde von Jungmännern sammelte sich gut ausgerüstet an der Startlinie. Für die zwanzig Kilometer standen vier Stunden zur Verfügung, somit sollten auch Spaziergänger das Ziel erreichen können. Dann erklang das Startsignal. Die vor Adrenalin strotzenden Jungmänner setzten sich in Bewegung, wohl wissend, dass nach dem Marsch für sie Dienstschluss war. Die anderen Jungmänner, die nicht die Wanderlust gepackt hatte, erfuhren zum Ausgleich eine weniger erfrischende Beschäftigung am Nachmittag, wie das Putzen der Waffen oder der Wasch- und Toilettenräume.
Wir latschten also los, um die Strecke möglichst rasch abzuarbeiten. Ich muss an dieser Stelle einfügen, dass ich zuvor im Verein diese Strecke zwei mal die Woche laufen durfte, um eine gewisse Ausdauer aufzubauen. Ergo begab ich mich in einen lockeren Trab, um die Kilometer abzureißen. Natürlich wusste ich, dass man mit dem Kopf die Strecke leichter abknabberte, als nur mit den Füßen. Schon die Vorstellung, so eine Strecke gehend zurück zu legen - blockierte viele Mitstreiter. Als Folge verkrampften sie oder liefen sich Blasen. Nach einer Stunde war Halbzeit und die ersten zehn Kilometer geschafft. Dort bekam man Quench, ein nach orange schmeckendes Erfrischungsgetränk mit viel Zucker und Proteinen. Nach drei Bechern begab man sich auf den Rückmarsch. Schon nach einhundertsiebenundzwanzig Minuten war ich zurück. Danach duschen, futtern und Dienstschluss.
Natürlich waren das nur lockere Warmmachübungen, um die große Wanderung zu begehen. Diese physische Strapaze nannte sich Durchschlageübung, also eine Wanderung mit kleinen militärischen Einlagen, wie dem durchqueren von Schlammlöchern in Bauchlage, Orientierungsübungen, Rätselspielen und anderen Beschäftigungen, die weitläufig mit dem Militär zu tun haben. Die Strecke war nur ein wenig länger als die Kurzstreckenwanderungen. In diesem Fall waren es mindestens einhundertzehn Kilometer in zwei Tagen. Selbstredend hatten wir alles dabei, was zur Ausrüstung von Soldaten gehörte. Dazu gehörten ein Rucksack, die kleine Kampftasche, die ABC-Schutzausrüstung, der Klappspaten, die Waffe, ein Fernglas, Kompass, Karten und viele andere Dinge. In den ersten Stunden gaben bereits zwanzig Prozent auf. Unser Hauptmann war danach so gütig uns vom tragen der Stahlmütze zu befreien. Na gut, bei dreißig Grad macht das schon einen unterschied. Zur Stärkung und zur Beruhigung der Darmepidermis gab es leckere Lakritzstangen, die den Hunger bekämpfen. Alle paar Kilometer gab es wieder Quench oder lauwarmen Tee mit Zitrone. Mitfühlende Bürger aus den Dörfern zwischen Bremen und Bremerhaven gönnten uns weitere Erfrischungen mittels kühlem Wasser und Äpfeln. Beeindruckend war, dass zu viele Jungkrieger keine Ahnung besaßen, wie man solche Strecken mental und physisch hinter sich brachten. Ein leises Summen eines Taktes war hilfreich, um in gleichmäßiger Geschwindigkeit die Kilometer zu fressen. Hilfreich war auch das Abstecken von kleinen Zwischenzielen, die erkennbar waren. Vorgesetzte und Sanitäter begleiteten einen zeitweise und überprüften die Konstitution der Wehrpflichtigen und Zeitsoldaten. Stunde um Stunde wurde gewandert, gelatscht, marschiert oder einfach weitergegangen. Um auch noch das letzte Hindernis zu überwinden, einen Graben. Für manchen Mitstreiter wurde der Sprung über den zwei Meter breiten Graben zum Disaster. Nicht alle schafften noch den Sprung und landeten in dem schlammigen Wasser. Die wunderbaren Gerüche brauche ich nicht extra beschreiben, die nach vergorener Kuhpisse und verwester Moorleiche lag.
Erschlagen von der ersten Hälfte des Marsches durften wir nach einer ersten Erfrischung und einem Medizincheck am Abend nach dem Genuss von fettigen Bratwürstchen und isotonischer Gerstenkaltschale in idyllischen Dackelgaragen auf dem Boden nächtigen. Zeitig um vier Uhr wurden wir geweckt, damit wir nicht zu spät in der Kaserne eintrudelten. Der Hauptmann förderte die Motivation, indem er während des Frühstücks Urlaubstage für die besten drei Gruppen auslobte. Nebenher wurde uns ein ausgewogenes Futterpaket gereicht. Selbstredend war viel Obst dabei, damit keiner an Vitaminmangel aufgeben musste.
Also nach einem genüsslichen Frühstück auf einer idyllischen Kuhweide neben einem Sportplatz wanderte man auf einer anderen Strecke zurück. Kilometer für Kilometer wurde gelatscht. Ich gebe zu, nach Stunden wurde selbst ich müde und die netten Übungseinlagen förderten diesen Zustand der Agonie noch zusätzlich. Wettlauf mit Krankentragen, Rätselübungen und kleine Spiele versüßten die Latscherei. Mal musste man Sternenbilder erkennen, das G 3 auf Zeit zerlegen und wieder zusammenbauen - natürlich mit einem Stiefelbeutel über dem Kopf. Endlich rückten wieder bekannte Ortsnamen ins Blickfeld und die Wanderstrecke für die zwanzig Kilometerstrecke. Ein Kumpel bat mich - ihn nötigenfalls ins Ziel zu prügeln, da er noch zwei Urlaubstage für private Zwecke benötigte. Ergo latschte man weiter, um die entstehenden Blasen an den Füßen irgendwie weiterhin ignorieren zu können. Der vormals gleichmäßige Gang wurde zunehmend ungleichmäßig, was zu weiteren Verkrampfungen der Muskeln führte. Dann wurde endlich der Endspurt eingeleitet. Das Marschtempo glich nun eher der Geschwindigkeit einer schwangeren Schildkröte. Nur noch fünf Kilometer standen auf einem Schild. Diese Info gab neuen Auftrieb, wir steigerten mit den letzten Reserven auf ein Tempo einer trächtigen Kuh mit Gehbehinderung. Den Kameraden traktierten wir mit Watschen und einem Knüppel, damit er nicht so kurz vor dem Ziel aufgab. Wir schafften auch noch die letzten Kilometer, um kurz vor dem Kasernentor eine Wandlung zu vollziehen, die uns wie junge Götter erscheinen ließ. Schließlich wollte man nicht als Weichei abgestempelt werden, wenn hunderte Kameraden den Einmarsch begafften.
Zur Enttäuschung muss ich eingestehen, dass wir nur die zweitschnellste Zeit hatten, es gab ergo nur zweieinhalb Urlaubstage für meine Gruppe. Im Gegensatz zu den Mitstreitern durfte ich nach einer medizinischen Untersuchung, dem Aufstechen der Blasen und der Behandlung kleinerer Blessuren sowie einem kräftigen Mahl zur Ruhe geschickt. Ich hingegen radelte nach Hause und begab mich fast ohne Übergang in die Schlafstellung um zügig zu pennen. Morgens schmerzten meine Muskeln immer noch, aber ich musste zum Morgenappel, um danach im San-Bereich einige Zeit behandelt zu werden. Die Blasen wurden kontrolliert und die schmerzenden Muskeln mit Salben behandelt. Mittags wurden wir angeschlagenen Recken in Sonderurlaub geschickt. Angeschlagen wie ein fragiles Ei radelte ich nach Hause.
Dank meiner guten Zeit bekam ich danach die Gelegenheit meine Wanderlust bestens auszuleben. Unser Major wollte endlich an einer Langstreckenwanderung, also dem Soldatenmarsch nach Lourdes teilnehmen und somit durfte ich zum Dank zweimal in der Woche längere Spaziergänge mit dem Offizier machen, bis der Major locker fünfzig Kilometer und mehr an einem Tag latschen konnte.
Seither wollte mich nur noch selten die Wanderlust packen. Irgendwie ist mir nach diesen netten Erlebnissen bei der "Trachtengruppe Oliv" die Wanderlust abhanden gekommen. Ich gestand mir ein, dass es genügend motivierte Menschen auf der Welt gab, die gerne und gegen gute Bezahlung längere Strecken latschten oder rannten. Ich selbst hängte dieses unsinnige Hobby an den Nagel, da ich nicht zu den Freaks gehöre, die Wanderungen unter Stress als Lebenserfüllung sehen möchte. Eine Couch und ein schönes Stück Kuchen sagen mir mehr zu, als stundenlang über Wege und Straßen mit meinem Fußabdrücken zu schmücken und mit meinem Schweiß zu reinigen.