»Verdammt, Tino!« Ich nahm den Haufen Klamotten vom Sessel und warf ihn achtlos in den Wäschekorb neben der Couch. Dasselbe tat ich mit denen auf Tisch und Boden. »Lass doch nicht ständig deinen Scheiß überall liegen! Wie schaffst du das überhaupt? So viel Zeug hast du doch gar nicht.«
»Ja, zum Beispiel nicht einmal einen Schrank!« Er kam aus der Küche zu mir herübergestampft, nahm mir die Sachen in meiner Hand ruppig ab und schmiss sie auf die Couch, bevor er sich durch den Korb wühlte und einiges wieder herausholte.
Frustriert sah ich zu, wie der Haufen auf der Couch größer wurde. In ein paar Stunden, wenn Tino ins Bett ging, würde er sich wieder über mein ganzes Wohnzimmer ergießen.
Ohne ein weiteres Wort drehte ich mich um und warf im Hinausgehen hilflos die Hände in die Luft. Es half ja nichts. Tino hatte nicht unrecht, aber es ließ sich auch nicht ändern. Und jede weitere Diskussion hätte es nur schlimmer gemacht. Denn trotz allem nervte es mich.
Ich ließ mich im Arbeitszimmer auf den Stuhl fallen und drehte mich gedankenverloren hin und her, wartete, bis ich mich etwas beruhigt hatte. Mantraartig wiederholte ich in Gedanken, dass es nicht ewig so sein würde.
Dabei hätte echt geholfen, zu wissen, wie lange das noch wäre.
Am ersten Abend hatte ich an ein paar Tage gedacht, doch schon als wir am nächsten Tag zu Tinos Wohnung gefahren waren, war klar geworden, dass es nicht dabei bleiben würde. Die Wohnung war nicht mehr bewohnbar und es gab nur wenig, was wir daraus hatten retten können. Was nicht vom Feuer zerstört worden war, dem hatte das Löschwasser den Rest gegeben.
Die erste Woche verbrachte Tino irgendwo zwischen Lethargie und Was-wäre-wenns. War er an einem Abend noch froh, nicht daheimgewesen zu sein, als das Feuer ausbrach, so machte er sich am nächsten Selbstvorwürfe für genau diese Tatsache; ungeachtet dessen, dass er in diesem Fall geschlafen hätte. Von dem, was wir bisher wussten, hätte er es nicht verhindern können.
Mittlerweile hatte sich sein Zustand zum Glück halbwegs stabilisiert und er war meist eher froh, dass es nur Sachschäden gab. Er hatte nichts verloren, was sich nicht auf Dauer irgendwie ersetzen ließ. Doch die Wohnsituation zerrte an unser beider Nerven.
Sobald ich in die Wohnung kam oder sie verlassen wollte, lief ich ihm in die Arme, da er noch immer im Wohnzimmer auf der Couch campierte. Gleichzeitig bedeutete das für ihn absolut keine Privatsphäre. Er hatte alles, was er besaß in einer Reisetasche, einem kleinen Reiseschrank und irgendwo im Wohnzimmer verstreut. Nichts, was auch nur im geringsten genug Platz oder Komfort bot.
Für einige Tage hatten wir sogar versucht, ob es besser wurde, wenn er mit ins Schlafzimmer zog. Doch dafür war weder mein Bett ausgelegt, noch hielten wir das aus. Und in mein Arbeitszimmer hätte er nur gepasst, wenn wir es komplett ausgeräumt und im besten Fall die doppelten Wände abgebaut hätten.
Alles in allem war die Wohnung eben immer nur für mich allein gedacht gewesen.
Als ein leises Klopfen durch die Schallisolierung der Tür drang, streckte ich mich nach hinten und öffnete sie, ohne aufzustehen.
Tino kam herein und blieb mit leicht unschlüssiger Haltung hinter meinem Stuhl stehen.
»Du weißt, dass ich nicht wirklich wütend bin, sondern nur genervt, oder?«, versicherte ich mich. Gern hätte ich mich ganz herumgedreht, doch dafür war mit ihm im Raum nicht der Platz. Daher blieb mir nichts, als mich nur halb über die Rückenlehne zu beugen.
Er legte die Arme um mich. »Ich hatte es gehofft. Ich hab trotzdem ein wenig aufgeräumt.«
»Danke.« Ich küsste ihn auf die Wange.
Ich wusste das zu schätzen, auch wenn es mich etwas ärgerte, dass er wohl das Gefühl hatte, mich besänftigen zu müssen. Das war nicht die Atmosphäre, die ich schaffen wollte. »Tut mir leid, dass ich es an dir ausgelassen hab.«
»Ist okay. Wir sind beide ziemlich durch.« Für einen Moment lehnte er seinen Kopf gegen meinen. »Ich wollte dir auch vor allem Bescheid sagen, dass ich ein paar Tage zu Nick gehe.«
»Was?!« Vor Überraschung vergaß ich, dass kein Platz war, und rammte Tino die Ecke der Sitzfläche meines Stuhls gegen die Knie. »Warum?«
Mit schmerzerfüllter Miene zog er sich in den Türrahmen zurück. Ohne auf meine Entschuldigung einzugehen, antwortete er: »Weil wir, glaub ich, beide den Abstand ganz gut gebrauchen können und Nick es angeboten hat.«
Nicht wissend, wie ich darauf reagieren sollte, sah ich ihn nur schweigend an.
Er lachte leicht auf, kam wieder näher und nahm mein Gesicht zwischen seine Hände. »Keine Sorge, nur ein paar Tage, damit wir beide mal wieder etwas Ruhe haben. Danach geh ich dir wieder auf die Nerven; wenn nicht zufällig jetzt doch endlich mal eine Wohnung auftaucht, in die ich ziehen kann.« Dem letzten Satz folgte ein erschöpftes Seufzen.
Seltsam beruhigt legte ich meine Hand auf seine und streichelte mit dem Daumen darüber. »Die WG, die du dir gestern angesehen hast, hat dir abgesagt?«, mutmaßte ich.
Er nickte. »Ich bin denen zu alt.«
Ich packte seine Hüfte und zog ihn auf meinen Schoß. Tröstend streichelte ich über seinen Rücken.
So ging es jetzt seit Monaten. Es ließ sich einfach keine bezahlbare Wohnung für ihn finden und die WGs, die Zimmer frei hatten, sagten ihm aus den unterschiedlichsten Gründen ab. Oft waren es Studierende, denen Tino zu alt war, aber es hatte auch schon Begründungen gegeben, bei denen ich hinterher froh war, dass es oft nicht einmal zu einem Treffen gekommen war. Bei denen, wo es doch dazu gekommen war, war er zum Glück mit ein paar Beleidigungen davongekommen.
»Mach dir keine Gedanken. Du kannst hierbleiben, bis du etwas gefunden hast«, versicherte ich ihm.
»Ich weiß.« Lächelnd küsste er mich auf die Wange. »Danke dir dafür. Ich weiß das wirklich zu schätzen. Aber ich glaube trotzdem, dass uns ein paar freie Tage von einander guttun werden. Und das heißt ja nicht, dass ich nicht trotzdem für einen Quickie vorbeischauen kann.«
Lachend hob ich das Knie kurz an und ließ es schnell wieder sinken, um ihm einen Stoß zu versetzen. »Na gut. Du hast ja recht. Ein Urlaub kann nicht schaden.«