Mit der Gitarre über der Schulter und einer Tasche in der Hand fummelte ich an der Haustür herum. Obwohl sich der Schlüssel herumdrehen ließ, wollte die Tür sich nicht öffnen.
Von innen klopfte es einmal gegen die Tür. Ich ließ den Schlüssel los und trat einen Schritt nach hinten.
Vorsichtig wurde die Tür aufgezogen. Tino sah mir mit einem halben Lächeln aus dem Rahmen entgegen. »Hi. Ja, sorry, die Tür klemmt die letzten Tage etwas. Ich hab schon dem Vermieter Bescheid gegeben, aber du kennst das ja ...«
»Danke fürs Reinlassen.« Ich erwiderte das misslungene Lächeln. Auch wenn wir uns übers Telefon ausgesprochen hatten, war es trotzdem komisch, ihm jetzt wieder gegenüberzustehen.
»Soll ich dir mit deinen Sachen helfen?« Tino deutete mit dem Kopf auf den Van, der noch immer mit offenem Kofferraum am Straßenrand stand, und winkte Lance zu, der daneben stand.
»Nur wenn du willst. Es sind noch genug Leute, die helfen. Ich wollte nur vorgehen und nachsehen, dass wir dich nicht gerade in einem ungünstigen Moment erwischen.«
»Dann sollte ich lieber aus dem Weg gehen und euch Profis das Feld überlassen.« Er trat aus der Tür und begab sich zum Fernseher, wo er vorher wohl auch gesessen und sich ein Spiel angesehen hatte. Baseball, glaubte ich.
Ich winkte der Band und dem verbliebenen Roadie zu, dass sie ins Haus konnten.
Mit so vielen Leuten hatten wir das Equipment der Band zügig wieder im Probenraum verstaut und dort behelfsmäßig aufgebaut. Ich würde die nächsten Tage noch etwas nachbessern, aber wir hatten uns eh erstmal zwei Wochen Pause verordnet. So gut die Tour auch war, wir hatten den Abstand alle nötig.
»Wo wollen wir denn jetzt essen?«, fragte Alex, als wir letztendlich alle in der Küche standen und ich eine Runde Wasserflaschen verteilte.
»Lasst Johnny’s gehen. Da kann ich den Van vernünftig parken«, sagte Mickey, der sich als einziger zutraute, die Kiste in Boston zu fahren, und sie am Abend auch wieder zum Verleih zurückbringen würde.
»Jemand was dagegen? Gut, dann Johnny’s«, beschleunigte Lance den Prozess, der durchaus auch länger hätte dauern können. »Tino, kommst du mit?«
Bevor Tino antworten konnte, mischte ich mich ein. »Ich bin für heute raus und würde hierbleiben.«
Zögernd nickte Lance, nahm die Einladung an Tino jedoch nicht zurück.
Dieser wandte sich an mich. »Hast du heute schon was gegessen?«
»Ja.«
Lance verdrehte die Augen. »Nein, hat er nicht. Die paar Scheiben Toast vom Frühstück zählen nicht.«
»Dann kommen wir mit. Gebt mir nur einen Moment.« Schnell verschwand er nach oben.
»Wir warten im Wagen«, rief Lance ihm hinterher und scheuchte den Rest unserer Entourage aus dem Haus.
Lediglich ich blieb zurück und wartete, bis Tino sich umgezogen hatte.
Als er wieder nach unten kam, erklärte er, bevor ich etwas sagen konnte: »Ich weiß, du wolltest mit mir reden. Aber ich kenne dich gut genug: Danach wirst du zu müde zum Essen sein. Außerdem ist es mir lieber, wenn wir bei dem Gespräch nicht total hangry sind.«
»Es wird aber nicht beim Essen bleiben. Sie wollen auch den Tourabschluss nochmal nur in der Band feiern.«
»Wenn du nicht dabei sein willst, dann gehen wir, sobald wir gegessen haben.«
Aufgebend seufzte ich. »Du hast ja Recht ...«
Tino deutete an, die Hand auf mein Gesicht zu legen, und fragte leise: »Darf ich?«
Mit einem knappen Nicken gab ich ihm die Erlaubnis, mich anzufassen.
Vorsichtig legte er die Hand an meine Wange und streichelte darüber. »Du bist mir wichtig, Isaac. Nimm es mir bitte nicht böse, dass ich für unser Gespräch so optimale Bedingungen wie möglich schaffen möchte, damit wir ohne große Störfaktoren reden können.«
»Ich weiß.« Ich schmiegte mich kurz an seine Hand und nahm sie dann in meine eigene. Die Finger mit meinen verschränkend ging ich mit ihm nach draußen. Ich schaffte es nicht, ihm zu gestehen, dass bereits jemand anders einen so großen Störfaktor eingebracht hatte, dass jeder weitere egal werden würde.
Das Ausgehen mit der Band hob meine Stimmung nicht, doch es war schön, noch einmal einen ruhigen Abschluss mit ihnen zu finden, bevor wir alle für ein paar Wochen Pause von einander nahmen. Außerdem schob es den Moment, an dem ich endgültig mit Tino allein sein würde, noch etwas auf.
Doch es verhinderte nicht, dass ich irgendwann mit Tino vor der Pizzeria stand und wir langsam die Straße entlang schlenderten. Es waren nur wenige Minuten zu Fuß und nach wie vor ziemlich warm, fast schon drückend, sodass der leichte Niesel sogar angenehm war; also kein Grund, uns fahren zu lassen.
Tino legte seine Hand in meine. »Laufen und reden? Oder möchtest du bis zu Hause warten?«
»Lass uns jetzt reden.«
»Okay. Dann lass mich anfangen: Es tut mir furchtbar leid, was passiert ist. Ich stehe noch immer dazu, dass ich wütend auf dich war und noch immer etwas enttäuscht bin, weil du dich nicht an das gehalten hast, was wir abgemacht haben. Aber ich hätte in dem Moment gehen sollen, in dem du klar gemacht hast, dass ich gerade nicht in deinem Zimmer willkommen bin. Es hätte nicht nötig sein sollen, dass dein – Freund? Sorry, ich hab seinen Namen vergessen und weiß nicht, welcher Titel in Ordnung ist.«
»Kollege«, sagte ich bitter. Schnell ergänzte ich: »Ich möchte darüber gerade nicht reden.«
Mitleidig lächelte Tino mich an und drückte leicht meine Hand. »Es hätte nicht nötig sein dürfen, dass dein Kollege eingreifen muss. Ich verstehe vollkommen, dass das dein Vertrauen zerstört hat. Ich kann dir aber nicht versprechen, dass es niemals wieder passiert. Realistisch wird es wieder passieren, dass ich dir Angst mache. Ich kann nicht immer wissen, wann du gerade getriggert bist oder ob mein Verhalten dich gerade triggert, egal wie viel du mir anvertraust. Im Nachhinein habe ich sehr unterschätzt, wie viel für dich zusammengekommen ist: Zusammenziehen, der erste Streit seitdem und deine Aktion vom Vorabend. Aber ich kann und will daran arbeiten zu erkennen, wenn du dich bedroht fühlst, und die Situation dann zu beenden. Wenn du das willst und dich sicherer fühlst auch gern mit professioneller Hilfe. Was ich nicht möchte, ist noch einmal einer Jury gegenüber zu stehen, die von vornherein zu dir parteiisch ist, um zu beurteilen, ob ich mit dir weiter zusammen sein darf. Ich verstehe, dass du verunsichert warst und das in dem Moment brauchtest. Ich will dir auch gar nicht verbieten, dich anzuvertrauen, egal wem, oder dir Verstärkung dazuzuholen, wenn du dich von mir überwältigt fühlst. Aber dafür müssen wir eine besser Lösung finden, als mich einfach vor ein Tribunal zu stellen.«
Verstehend nickte ich und ließ mir noch einmal alles durch den Kopf gehen. In seiner üblichen Geduld wartete Tino, bis ich etwas erwiderte. »Mittlerweile, mit dem Abstand, bin ich mir sicher, dass ich mich nicht getäuscht habe. Aber in dem Moment kam es mir alles so gleich vor.«
»Isaac«, Tino hielt an und wartete, bis ich ihn ansah, »bitte entschuldige dich nicht für deine Reaktion. Ich bin deshalb nicht wütend; selbst wenn ich es wäre, hattest du alles recht dazu.«
Ich lächelte und ging auf die Zehenspitzen, um ihm einen kurzen Kuss auf die Wange zu geben. Dann bewegte ich mich weiter auf unsere Wohnung zu. »Ich weiß. Ich wollte dir nur versichern, dass ich es dir nicht mehr nachhalte. Nicht wirklich. Entschuldigen wollte ich mir für etwas anderes: dass ich nicht abgeschlossen habe. Wenn ich vorher gewusst hätte, wie wichtig das für dich ist, dann hätte ich es sicher nicht vergessen. Also nicht, dass die Erklärung notwendig gewesen wäre, ich hätte mich auch so daran halten sollen ... Aber dann hätte ich eher daran gedacht. Das mit uns ist für mich einfach alles so neu und ungewohnt. Ich war auch nicht wirklich im Zuhause-Modus.«
Skeptisch betrachtete er mich von der Seite. »Wie meinst du das?«
»Hmm, wie erklär ich das jetzt ... Auf Tour ist halt alles viel enger und intimer als zu Hause. Mit der Zeit verliert sich ein wenig das Gefühl für gesellschaftlich akzeptierte Distanz. Ich würde auf Tour keine Verbindungstür zu den Zimmern der anderen oder Gemeinschaftszimmer abschließen. Das geht im Bus ja auch nicht. Und dadurch Dinge von anderen Tourteilnehmern mitzubekommen, die im Normalfall als sehr intime Informationen gelten würden, ist eben nicht ungewöhnlich oder etwas schlimmes.« Dabei beließ ich es. Vielleicht würde ich Tino irgendwann von all dem Neuen erzählen, was ich erlebt hatte, aber dies war nicht der richtige Moment dafür. »Außerdem muss ich mich entschuldigen, weil ich dir nichts von Trevor erzählt habe. Es war nicht richtig, damit warten zu wollen, bis ich wieder zu Hause bin. Ich hätte dir spätestens nach dem zweiten Mal davon erzählen sollen.«
»Es geht mir nicht darum, wie oft genau du mit anderen schläfst.« Tino ließ mich los, um mit einer Hand die Tür zu sich zu ziehen und mit der anderen den Schlüssel zu drehen. Mit einem leisen Klicken öffnete sich das Schloss. »Ich würde einfach nur gern wissen, wenn du auch für jemand anders ernsthafte Gefühle hast. Nicht um dich zu kontrollieren, sondern weil ich gern wüsste, was dich bewegt. Also nein, ich bin nicht böse, weil du nichts gesagt hast. Es hätte nur geholfen, die Situation besser einzuschätzen.«
Im Vorbeigehen gab ich einen halbwegs zustimmenden Laut von mir. Eher zu mir selbst murmelte ich: »Ist jetzt eh egal.«
Tino schloss die Tür hinter uns. Die Arme um mich legend fragte er: »Bist du sicher, dass du nicht darüber reden willst? Du scheinst wirklich heftig Liebeskummer zu haben.«
Ich machte mich aus der Umarmung frei, zog ihn zur Couch und kuschelte mich dort wieder an ihn. »Ich hab mich richtig verknallt und nicht drüber nachgedacht, was passiert, wenn die Tour vorbei ist. Als Trevor heute Morgen meinte, dass wir uns nicht wiedersehen, weil er ›im echten Leben‹ Frau und Kinder hat, hat es mich völlig umgehauen.«
Verärgert zog Tino die Augenbrauen zusammen. »Was für ein Arschloch! Er benutzt dich, um seiner Frau fremdzugehen, und sagt es dir noch nicht einmal, sondern lässt dich im Glauben, es gäbe eine Chance auf eine Beziehung?«
Niedergeschlagen schüttelte ich den Kopf. »Nein. So weit ich das heute Morgen raushören konnte, ist seine Frau mit Touraffären einverstanden, solange sie auf Tour bleiben. Das Thema Beziehung haben wir nie angesprochen. Er wirkte ehrlich erschrocken und überfordert, als ich sehr niedergeschlagen reagiert hab, als er sich verabschiedet hat. Vermutlich dachte er, es wäre klar, dass es nach der Tour nicht weitergeht, und ich wäre zeitlich begrenzte Arrangements gewohnt.«
Tino zog mich wortlos näher an sich heran.
»Ich meine: Fein, ist okay, ich kann damit umgehen. Es hätte nur echt geholfen, das vorher zu wissen. Dann hätte ich mich deutlich weniger in die Sache reinfallen lassen. Zumal ich mir sehr sicher war – nein, immer noch bin – dass er ebenfalls verliebt ist.«
»Ach Isaac.« Tino küsste mich auf den Scheitel. »Wenn jemand weiß, dass gegenseitiges Verliebtsein nicht auch zu einer Beziehung führen muss, dann doch du.«
»Ich weiß. Ich weiß auch, dass es unser beider Schuld ist, dass wir nicht vorher darüber gesprochen haben. Aber ist es denn so falsch, deshalb enttäuscht zu sein?«
»Nein, ist es nicht. Es ist auch vollkommen in Ordnung, deshalb Liebeskummer zu haben. Nur verlier dich nicht zu sehr im Was-wäre-wenn.«
Ich schüttelte, so gut es mit gegen seine Schulter gepresstem Kopf ging, den Kopf. »Ich brauche nur ein paar Tage um damit klarzukommen. Es hat mich von einem zum anderen Moment komplett aus dem Tourhigh geholt, das eigentlich die nächsten Tage hätte langsam abklingen sollen. Es fühlt sich an, als wäre ein Trip viel zu plötzlich geendet; irgendwie verkatert und aus einem Traum erwacht. Als wäre alles, was in den letzten Wochen passiert ist, nicht wirklich geschehen. Ich brauche lediglich ein paar Tage, bis mich die Realität wieder eingeholt hat, und ein paar Check-Ins mit Lance und eventuell Claire, wenn sie dafür offen ist.«
»Klingt, als hättest du einen ziemlich soliden Plan im Kopf. Das ist beruhigend. Wenn ich auch etwas für dich tun kann, sag mir Bescheid.«
»Wäre es für dich in Ordnung, wenn ich dich manchmal einfach damit zuquatsche, was auf Tour alles passiert ist? Nicht für irgendeinen Kommentar, sondern weil ich das ganze aufregende Drumherum mit jemand teilen möchte, der nicht dabei war?«
»Natürlich. Ich würde es sehr gern hören. Ich meinte das ernst: Ich möchte dich nicht kontrollieren, aber ich wüsste sehr gern, was dich bewegt. Und das gehört dazu.«
Dankbar küsste ich seine Wange. Ich hoffte, er wusste, dass er mein Fels in der Brandung war, auch wenn ich es ihm in dem Moment nicht sagen konnte. »Ich weiß, es ist noch nicht so spät, aber möchtest du trotzdem mit ins Bett kommen? So plötzlich aus einem High gerissen zu werden, ist ziemlich erschöpfend.«
»Ich hab ja den Verdacht, dass es nicht nur das ist, sondern auch längerfristiger Schlafmangel, aber sicher komm ich mit.« Tino half mir von der Couch und ging mit mir zusammen nach unten in mein Bett.