Kleidungsstück für Kleidungsstück holte ich aus dem Schrank und sortierte es entweder in den Karton oder in den großen Sack, die neben mir standen. Es war echt erstaunlich, wie viel Mist, sich in zehn Jahren in einer Wohnung ansammelte, selbst wenn sie so klein war. Neben der Haustür standen bereits drei gefüllte Müllsäcke, die sich im Laufe des Tages gefüllt hatten. Vielleicht waren es mittlerweile auch mehr – ich wusste nicht, was Tino in der letzten Stunde noch in Küche und Wohnzimmer gefunden hatte.
Prustend sah ich auf die Uhr. Es war schon so spät ... Wer hätte gedacht, dass wir wirklich einen kompletten Tag brauchen würden, um alle meine Sachen einzupacken?
Meine Schlafzimmertür knarrte und Tinos Schritte hallten über den Boden. »Küche und Wohnzimmer sind fertig, nur ein paar Dinge, bei denen ich mir nicht sicher war, stehen noch auf der Ablage. Wie sieht es bei dir aus?«
Ohne mich umzudrehen, zuckte ich mit den Schultern. »Noch nicht so weit wie ich gern wäre. Arbeitszimmer hat doch länger gebraucht als gedacht.«
»Wenn du magst, helf ich dir hier noch. Du musst mir nur sagen, wo ich anfangen soll und was du behalten möchtest.«
Dankbar für das Angebot wies ich ihn an, mit der Bettwäsche anzufangen. Diese würde vorerst komplett mitkommen, er konnte also bedenkenlos einpacken und ich mich auf meinen Teil des Schrankes konzentrieren.
Während er so neben mir arbeitete, kickte die Erkenntnis, dass wir das wirklich taten, so richtig – ich würde mit Tino zusammenziehen!
Es hatte einige Tage und viele Stunden Gespräch gedauert, bis wir beide uns dessen sicher waren. Wir hatten uns nicht nur versichern müssen, welche Grenzen und Bedürfnisse wir hatten, damit das funktionieren konnte – tatsächlich war das ein Teil gewesen, der sich letztendlich sogar sehr schnell geklärt hatte und klar machte, dass wir uns das beide trotz Tinos erstem Zögern vorstellen konnten – sondern vor allem auch wie wir mit den Verbindlichkeiten umgingen, die wir damit eingingen. Es hatte so lange gedauert, bis unser beider Bedenken ausgeräumt waren, dass es schon fast an ein Wunder grenzte, dass wir uns doch noch rechtzeitig genug entschieden hatten, um die Wohnung auch wirklich zu bekommen.
Wäre das nicht der Fall gewesen, hätte es zwar nicht geheißen, dass wir zwangsweise zusammen in eine andere zogen, doch trotzdem hatte ich nicht das Gefühl, dass wir die Zeit dann verschwendet hätten. Wie jedes Gespräch dieser Art mit ihm tat es mir gut zu wissen, wo wir standen. Und insbesondere nach den letzten Monaten war das für uns beide offenbar noch einmal wichtig gewesen, weil sich vieles an unserem Verhältnis zwangsweise verändert hatte. Darüber zu reden, was davon wir weiterhin wollten und was nicht, war sehr aufschlussreich gewesen.
Letztendlich gab es nur einen Punkt, bei dem wir beide nur zähneknirschend einen Kompromiss eingegangen waren: Die Frage, welches Zimmer mein Schlafzimmer werden sollte. Tino wollte gerne, dass ich das zweite Zimmer im ersten Stock nahm, direkt neben seinem Schlafzimmer, da er meinte, dass das Durchgangszimmer im Keller nicht als Schlafzimmer taugte. Seiner Meinung nach war nicht genug Platz, da es kaum Wände zum Stellen gab, da zwei Seiten fast nur aus Türen bestanden – die eine mit der Tür zu meinem zukünftigen Arbeitszimmer, die andere mit den Türen zu Bad und Wäscheraum – und eine dritte komplett von der Treppe verstellt wurde. Außerdem hielt er es für nicht zumutbar, dass er jedes Mal durch mein Zimmer müsste, um Wäsche zu waschen. Ich dagegen fand es besser, wenn er den kompletten ersten Stock für sich hatte und ich den Keller. Wir hatten dann jeweils zwei Zimmer nur für uns und jeweils ein eigenes Bad. Das Erdgeschoss mit Küche, Wohnzimmer und Gästetoilette war der gemeinsame Bereich. Vorerst hatte ich mich damit auch durchgesetzt, wobei Tino darauf bestand, mit dem Einrichten seines zweiten Zimmers einige Monate zu warten, bis klar war, ob es wirklich so funktionierte, wie ich mir das vorstellte. Zudem würde ich für die Wäsche zuständig sein, auch wenn es mich nicht störte, wenn er dafür durch mein Zimmer ging – für ihn war das aber offenbar ein Problem.
Über die Überlegungen war ich mit dem Großteil der Klamotten fertig geworden. Die Unterwäsche überließ ich Tino, auch wenn er zuerst witzelte, dass er sie einfach komplett wegwerfen würde.
Ich dagegen widmete mich den Schubladen, in denen jede Menge persönlicher Krimskrams lag. Zuerst widmete ich mich der mit dem Sexspielzeug und anderen Vorräten. Schnell sortierte ich die abgelaufenen Kondompackungen aus, die dort schon eine Weile lagen, für deren Sortierung und Entsorgung ich bisher jedoch zu faul gewesen war. Außerdem flogen auch einige Gleit- und Massagemittel hinterher, die ich ausprobiert, die sich jedoch als Reinfall herausgestellt hatten.
Als ich die ersten Spielzeuge einpackte, bemerkte ich Tinos neugierigen Blick in die Schublade. »Beim Auspacken, okay? Gerade will ich einfach nur fertig werden.«
Er lächelte verständnisvoll und drehte sich wieder seiner Aufgabe zu.
Letztendlich forderte ich doch noch ein, zwei Mal seine Aufmerksamkeit für Spielzeuge, die mir nicht taugten. Bevor ich sie entsorgte, wollte ich wissen, ob er dafür Verwendung hatte.
Dann blieb nur noch eine Schublade. Zum Glück hielt ich nicht so sehr an sentimentalen Dingen fest, sodass sie nicht einmal ganz voll war. Nur ein paar wenige Erinnerungsstücke an die Europatour mit den Death Demons, ein paar Dinge, die Lance mir geschenkt hatte, für die ich aber (gerade) keine praktische Verwendung hatte, die Spieluhr meiner Mutter, sowie ihre Todesanzeige, und – unter allem anderen begraben und von mir schon fast vergessen – das Armband, das Peter mir dereinst geschenkt hatte.
Ohne langes Zögern hatte ich bis dahin alles aus der Schublade in die Kiste gepackt. Auch wenn die Dinge keinen praktischen Nutzen für mich hatten, so hob ich sie doch aus gutem Grund auf. Es hingen wichtige Erinnerungen daran. Doch sobald sich meine Finger um das Armband geschlossen hatten, verweigerte mein Körper seinen Dienst. Ich konnte nichts anderes mehr tun als es in der Faust umklammert zu halten und es anzustarren.
»Isaac? Ist alles okay?« Tinos Hand legte sich auf meine Schulter.
Das gab mir den nötigen Ruck, um mich aus meiner Starre zu lösen. Erschöpft ließ ich die Hand mit dem Armband sinken. »Ja, ich ... war nur etwas weggetreten. Es war ein langer Tag.«
Noch immer sah er mich besorgt an. »Ja, war es. Ich bin fertig. Wie sieht es bei dir aus?«
»Ja. Nur noch ...« Erneut wanderte mein Blick zu dem Schmuckstück in meiner Hand. Es war das letzte Teil.
Einige ruhige Atemzüge waren nötig, bevor ich es Tino entgegenhalten konnte. »Kannst du das bitte direkt in der Tonne entsorgen?«
Die restlichen Säcke würden wir morgen gemeinsam entsorgen fahren. Aber dieses Ding wollte ich sofort weghaben.
Er nahm es mir ab, musterte das aufgerissene Leder und drehte sich das Metallplättchen so, dass es mit der Schrift zu ihm auf seinen Fingern lag.
Ein Teil von mir wollte protestieren und ihm das Armband aus der Hand reißen, bevor er las, was darauf stand; niemand durfte wissen, wer es mir geschenkt hatte! Doch es war nur ein kleiner. So klein, dass ich nicht einmal mit der Wimper zuckte. Ich war sicher: Tino wusste bereits, wer mir das Armband geschenkt hatte, und was dieser jemand getan hatte. Er hatte mich nie darauf angesprochen, mich nie danach gefragt. Und doch war da die Gewissheit, dass ihn der Name nicht im Geringsten überraschte.
»Bist du dir sicher?«
»Ja. Bitte. Ich brauch es nicht mehr. Es hat ...« Plötzlich stahl sich ein erleichtertes Lächeln auf meine Lippen, das ich Tino schenkte. »Es hat als Warnung ausgedient.«
Noch einen Moment sah er mich zögernd an, dann nickte er. »Dann bring ich es gleich runter. Soll ich auch direkt essen holen?«
»Gute Idee. Ich schaff gerade aber nicht mehr, zu entscheiden.«
»Kein Problem, ich bring dir etwas mit.« Er beugte sich kurz vor, um mir einen Kuss auf die Wange zu hauchen. »Schaffst du es noch, die Kisten und Säcke zuzumachen?«
Ich versicherte ihm, dass ich das tun würde, und wartete dann, bis er das Zimmer verließ. Unbewusst lauschte ich seinen Schritten in der Wohnung; und als die Wohnungstür ins Schloss fiel, war es, als nähme er einen gewaltigen Fels mit hinaus.
Ich bereute nicht, das Armband so lange behalten zu haben. Es war für mich immer eine wichtige Warnung gewesen. Doch nun brauchte ich diesen physischen Marker nicht mehr. Sie hatte sich auch so tief in mir eingebrannt – und doch hatte ich mich aktiv und guten Gewissens dagegen entschieden, darauf zu hören.
Natürlich wurde ich immer nervöser und instabiler, je näher der Umzug kam – in den letzten Wochen hatten mich immer wieder die altbekannten Albträume heimgesucht und ich war dünnhäutig wie lange nicht mehr – doch selbst jetzt, zwei Tage vorher, war ich mir noch immer sicher, dass es die richtige Entscheidung war. Es hatte für uns beide Vorteile und trotzdem würde sich nicht viel für mich ändern; wenn die Angst nicht gerade wieder hochstieg, dann war ich bezüglich der Änderungen sogar positiv aufgeregt.
Ganz abgesehen davon, hätte es aber auch gar kein Zurück mehr gegeben. Meine Wohnung war gekündigt. Es gab kein Sicherheitsnetz. Ich konnte nur noch springen und so elegant wie möglich auf den Füßen landen.