Bevor wir zum 24.10.2020 kommen können, muss ich etwa zwei bis drei Wochen vorgreifen. Da wurde nämlich Schwangerschaftsdiabetes bei mir festgestellt. Da ich eine Frau mit PCOS (Polyzystisches Ovar-Syndrom) bin, nehme ich, u.a., leichter als andere Frauen zu und schwerer ab. Ich muss also schon sehr genau darauf achten, was ich wann und wie esse. Süßigkeiten sind da zwar drin, aber sie sollten nur in Maßen gegessen werden. Auch auf Weizen konnte ich vor der Schwangerschaft gut verzichten, weil das bei mir auch einer der Triggerpunkte war. Wir haben dann auf Dinkel umgestellt und alles war in Ordnung. Während der Schwangerschaft war das aber nicht mehr ganz so einfach. Vor allen in den ersten vier Monaten war ich froh, wenn irgendwelche Nudeln mit Pesto drinblieben und mir nicht andauernd schlecht wurde.
Ich war auch vor der Schwangerschaft übergewichtig, hatte dann aber mit viel Sport (was will man während Corona auch sonst machen, wenn man nur zu Hause sitzt) auch zehn Kilo abgenommen. Und ich hatte, ausnahmsweise mal, einen Sport gefunden, der mir echt Spaß gemacht hat und den ich am liebsten sofort jeden Tag gemacht hätte, wenn mein Körper mich nicht mit Muskelkater bestraft hätte. Aber ein gespaltenes Verhältnis hatte ich da schon zu Essen. Ich habe mir zwar nie etwas verboten, aber ich habe mir drei Mal überlegt, ob es jetzt dieses oder jenes sein muss. Diesen inneren Schweinehund konnte ich nicht immer überwinden und in der Schwangerschaft schon gar nicht.
Jedenfalls musste ich dann zu einer Diabetologin, die auch fußläufig zu erreichen ist. Das allgemeine blabla über Zuckertest spare ich mir. Auf jeden Fall sagte die Ärztin dann „Ihr Kind schwimmt quasi in Sirup“. Das fand ich anfangs noch einen lustigen Vergleich, doch dann begann sie zu erzählen, was passieren kann, wenn das nicht behandelt wird, bzw. wenn ich mich nicht am Riemen reiße. Nach diesem überhaupt nicht einfühlsamen Gespräch, wo sie mich noch fragte, ob das mein erstes Kind wäre und ich das ja bejahte, fühlte ich mich schlecht. Ich hatte ein schlechtes Gewissen und hatte Angst um mein Kind. Und das obwohl – bis jetzt – meine Schwangerschaft komplikationslos ablief. Ich durfte also sofort mit dem Sechs-Punkte-System befassen. Sprich: Mir nüchtern nach dem Aufstehen, eine Stunde nach dem Frühstück, nüchtern vor dem Mittag, eine Stunde nach dem Mittag, nüchtern vor dem Abendessen und eine Stunde danach in den Finger pieksen. Keine Zwischenmahlzeiten und wenn, dann mindestens zwei Stunden vor dem nüchternen Messen. Viel Bewegung und wenn das nicht geht, solle ich halt viel im Haushalt machen, damit der Blutzucker drunter geht. Dann noch nüchtern unter dem Wert von 5,3 und nach dem Essen unter dem Wert von 7,8. Von jetzt auf gleich drehte sich mein ganzer Tagesablauf nur noch darum, wann ich wie mir in die Finger stechen muss, um meinen Blutzucker zu messen, wann und wieviel ich essen darf und was. Jeder Einkauf bestand und besteht nun darin unverarbeitete Lebensmittel zu kaufen und wenn nicht, hinten die Nährwerttabelle sehr genau zu studieren. Ich weiß, andere können das gut und leben damit einfacher und denken sich jetzt: „Was macht die Alte jetzt für einen Aufstand?“, aber für mich war das der pure Stress. Vor allem, weil ich jedes Mal unter die Werte kommen musste. Selbst eine Punktlandung wurde von der Ärztin und der Ernährungsberaterin wöchentlich angemarkert, sodass mich das noch mehr unter Druck setzte. Man sagte mir nicht, ob ich das gut mache, ob ich auf einem guten Weg bin, nichts. Ich bekam immer nur wieder zu hören, dass ich so weiter machen soll, denn die Alternative wäre ja, dass ich Insulin zuführen muss und das dann in Spritzenform, weil Tabletten – aus Gründen – in der Schwangerschaft nicht gegeben werden. Und das wollte ich ums Verrecken vermeiden. Allerdings habe ich dann angefangen nichts mehr zu essen, oder eben so kleine Portionen, sodass ich mehr als drei Hauptmahlzeiten hätte essen müssen. Doch das habe ich dann so weit rausgezögert, bis mir schon regelrecht schlecht vor Hunger war.
Zwei Tage vor Os „ersten“ Anfall war ich dann wieder bei der Ärztin und habe das angesprochen, wo mich beide Damen diesmal völlig schockiert ansahen, als ich ebenjenes Problem ansprach. Daraufhin wurde halt gefragt, ob ich denn dann damit leben könnte, dass ich mir dann Langzeit-Insulin spritzen würde. Denn hungern sollte ich ja nun auch nicht. In meiner Verzweiflung, durch meinen seelischen Druck, sagte ich ja und fühlte mich drei Sekunden später schlecht. Also so richtig. Ich hatte das Gefühl versagt zu haben, nicht genug für mein Kind hinbekommen zu haben. Ich hatte es nicht aus eigener Kraft geschafft und fühlte mich einfach schlecht. In dem Moment dachte ich wirklich, ich wäre ein schlechter Mensch.
Nachdem ich also die Praxis verlassen hatte, rief ich O. an und brach am Telefon völlig in Tränen aus. Ja, man kann schon sagen, dass ich einen Nervenzusammenbruch hatte. Und O. konnte nichts anderes machen, als mir zuzuhören. Im Nachhinein tut mir das schon leid, vor allem weil wir mittlerweile denken, dass das mit ein großer Triggerpunkt für ihn war. Er versuchte so gut es geht, mich zu trösten – so gut es eben aus der Entfernung klappte, aber der Tag war einfach im Arsch. Meine Mutter war auch keine große Hilfe, die hat mir wegen dem Insulin noch mehr Angst gemacht. Ich habe an dem Tag noch sehr oft und viel geweint und war generell sehr, sehr weinerlich. Aber da war noch alles gut.
Am nächsten Tag, den Freitag, ich hatte mich da schon mit der Tatsache angefreundet mich spritzen zu müssen. Es tat nicht sonderlich weh und es war schon einen Tag später eine unglaubliche Entlastung mich nicht andauernd um den Blutzucker kümmern zu müssen. Ich entspannte mich quasi sofort. O. offenbar aber nicht. Jedenfalls sind mein Mann und ich dann an diesem Freitag zu meiner Mutter gefahren. Wir wollten unsere Hochzeitsbilder abholen und wir wollten dann endlich die ersten Möbel für unser Kind mitnehmen, die mein Cousin an uns nur zu gerne abgetreten hatte. Obendrein wollte ich einfach noch einmal ein letztes Mal für dieses Jahr am Grab meines Vaters vorbeischauen. Uns war klar, dass wir nicht mehr die relativ weite Strecke auf uns nehmen würden, umso weiter ich in der Schwangerschaft voranschreite. Ich war da ja schon im achten Monat. Jetzt werden wir sie sowieso nicht mehr fahren, bis unser Kind auf der Welt ist, denn jetzt müsste ich die Strecke vollständig alleine fahren. Und dass, obwohl ich auch ein potentielles Fahrverbot habe, eben weil die Einstellung mit Insulin bis zu acht Wochen dauert.
Und ich merke gerade, wie ich mich sträube, weiter in der Erzählung voranzuschreiten. Die Erinnerungen tun weh und mir wird schlecht davon.
Jedenfalls holte O. mich von zu Hause ab und wir machten uns nun auf den Weg. Nach Stau und eigentlicher Stauumfahrung, die auch in einem Stau endete, waren wir dann mal gegen neun Uhr abends dann endlich bei meiner Mutter. Doch anstelle, nach dem Essen schlafen zu gehen, wie wir das eh meist machen, weil die Strecke echt anstrengend und die Woche an sich ja schon für O zehrend ist (er steht halb sechs auf und ist meist erst gegen halb fünf zu Hause, dann noch Haushalt, Essen, Hobbys und dann ist auch schon Bett angesagt), haben wir uns echt noch einen Terminator Teil bis zum Schluss reingezogen. Obwohl wir auch schon die Woche über viel zu spät die Handys im Bett weggelegt hatten. Meist erst so gegen halb elf, sodass wir wirklich erst gegen elf geschlafen haben. Beide. Da war es dann auch gegen zwölf und erst gegen halb eins, hat er die Augen zugemacht. Und zwischendrin werden wir ja beide wach, weil ich gefühlt andauernd aufs Klo muss. Diese Woche war ich auch in jeder Nacht gut drei Mal. Ich war da schon längst im Land der Träume abgedriftet, nichtsahnend das mich der nächste Morgen einfach mein halbes Nervenkostüm rauben würde.
Ich wachte gegen halb neun auf, O war schon ins Bad verschwunden. Sein erster Gang am Morgen. Dann kam er wieder zu mir und wollte noch ein bisschen chillern, auf dem Handy klimpern und dann aufstehen. Meine Mutter hatte er auch schon begrüßt. Die Tür stand auf. Er sah müde aus, beschwerte sich auch wieder darüber, dass das alte Sofa (das wirklich locker fünfzehn Jahre auf dem Buckel hat) echt unbequem ist und wir meiner Mutter endlich mal ein neues Sofa kaufen müssten, damit wir es hier auch gut hätten. Hätten wir das doch bloß schon gemacht. Als er sich auf den Bauch legte, begannen sein Oberkörper so komisch zu zucken. Er konnte nicht mal mehr das Handy festhalten. Mir wurde sofort schlecht. Das kannte ich nicht von ihm. Sowas hatte ich noch nie gesehen. Ich bat ihn seine Medis zu nehmen. Vielleicht würde das dann aufhören. Er weigerte sich, wurde grantig, bis ich mir die Augen zuhielt und meinte: „Schatz, ehrlich. Das macht mir Angst!“
Daraufhin nahm er mich mit zuckenden Armen und Schultern in den Arm und keine Sekunde später begann er zu krampfen.
Er fiel wie ein Stein zur Seite und ich habe einfach nur noch nach meiner Mutter geschrieen, die ewig nicht kommen wollte. Sie dachte, dass wäre ein Spaß, weil mein Mann und ich uns gerne kabbeln und da wir halt auch mal gequietscht und ich rufe dann manchmal auch nach meiner Mutter. Quasi aus Spaß. Nur ich konnte ihn nicht loslassen, ich hab nur gerufen und gerufen. Ich hatte so unfassbare Angst. Meine Mutter schoss dann um die Ecke und hat nur mich mit diesem zuckenden Häufchen Elend da gesehen.
„Was soll ich machen?“
„Ruf I. an! Ruf I. an!“, mehr fiel mir in dem Moment nicht ein, dann habe ich mich zu ihm gedreht. Sein linker Arm war grotesk spastisch nach hinten verdreht, seine Beine waren angewinkelte und zuckten. Er schnappte so wahnsinnig schnell nach Luft, seine Augen waren leicht nach oben verdreht, seine Lippen liefen gefühlt instant blau an. Er schnappte so wahnsinnig nach Luft und ich wusste einfach nicht, was ich machen sollte. Ich war einfach so überfordert, so hilflos, so regungslos, so erstarrt. Ich wollte einfach, dass es aufhört.
Meine Mutter rief dann den Notarzt, sie beugte sich dann mit über ihn und nachdem sie dann fertig damit war, fiel mir ein das da irgendwas mit stabiler Seitenlage war. Also stemmte sich meine Mutter mit allem was sie war und ist gegen seine Schulter und schob ihn in meine Richtung mit zu gewandt. Ich half ihr so gut es ging und hab dann auf O. eingeredet. „Ich bin da. Ich pass auf dich auf. Du kannst jetzt loslassen.“
Und dann hat er röchelnd seinen ersten Atemzug genommen. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie unglaublich erlösend dieses röchelnde Geräusch sein kann. Anders als ein Schnarchen, als würde die Lunge wieder aufgeblasen werden, um ihrem Dienst wieder nachzukommen. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber so klang es nun einmal für mich.
Im Nachhinein weiß ich, dass ich da schon meine Mutter hätte wegschicken müssen, aber sie war überfordert, ich war überfordert und O. hatte gerade seinen ersten Anfall vor unser beider Augen gehabt. Sie drückte weiterhin auf seine Schulter, sodass er unten blieb, weiterhin in der stabilen Seitenlage, da drehte er seinen Kopf zu mir, schaute mich mit blicklosen Augen an und sagte so was wie „Hilfe, Hilfe.“ Ich weiß nicht, ob er genau das gesagt hat, er weiß es auch nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass ich ihm über dieses verzerrte Gesicht gestreichelte habe und meinte, dass ich hier wäre. Das ich da wäre. Das ich ihn nicht alleine lasse.
Meine Mutter muss zwischendrin I. dann reingelassen haben. An das Klingeln kann ich mich erinnern, aber nicht, wann genau. Mein Fokus war ausschließlich bei meinem Mann. Meiner Liebe meines Lebens. Auf jeden Fall beugte sie sich dann über ihn, um zu Fragen ob alles wieder gut ist (wie Mütter das eben so machen) und da verzerrte sich diese – eh schon entgleiste – Miene noch mehr.
„Mama, lass ihn los. Lass ihn los!“, konnte ich nur noch sagen und meine Mutter nach hinten rollen (zum Glück ist die Frau so agil und wendig), da begann er auch schon nach ihr zu treten und sich die Decke bis zum Kinn zu ziehen. Gleichzeitig versuchte er sich irgendwie vor und doch auch hinter mich zu platzieren. Einerseits um mich zu schützen und gleichsam von mir beschützt zu werden. Also nahm ich ihn in den Arm und lehnte mich nach hinten, streichelte weiter sein Gesicht, redete auf ihn ein. Das wir jetzt ein bisschen liegen bleiben, uns ausruhen. Ich mich zu ihm unter die Decke kuschle und wir uns ein wenig ausruhen. Als schmiegte er sich in meine Arme und blieb da liegen. Für kurze Zeit, denn er wollte immer wieder aufstehen. Doch als er dann I. in der Tür sah, entgleisten seine Züge wieder aufs Neue ins Unmenschliche, er zog wieder die Decke bis ganz nach oben und er wollte sich in meine Halsbeuge verkriechen. Ich weiß noch, wie sie meinte: „Genau, bleibt doch noch ein bisschen liegen und macht ein wenig die Augen zu. Das macht ihr richtig.“
Ich weiß, dass sich I. in der Zeit um meine Mutter gekümmert hat. Ich konnte mich ja nicht zerteilen. Und immer weiter habe ich auf O. eingeredet, dass wir noch ein bisschen liegen bleiben, denn er habe eben einen epileptischen Anfall gehabt. Und ich fragte mich im Hinterkopf, wo zur Hölle der verdammte Krankenwagen bleibt, weil er einfach nicht mehr liegenbleiben wollte. I. machte sich dann wieder heim, während meine Mutter aus dem Küchen- oder Badfenster nach dem Sanka Ausschau hielt. Als er dann endlich kam, zog sie sich die Schuhe an und stand dann in der Haustür, um dem Rettungsdienst den Weg zu weisen. O. hingegen wollte immer wieder aufstehen, kam aber geistig nur sehr langsam zurück, ich habe ihm drei Mal dasselbe innerhalb von zehn, oder fünfzehn Minuten sagen müssen. Wir würden liegen bleiben, er habe einen epileptischen Anfall gehabt und wir würden jetzt auf den Krankenwagen warten. Irgendwann kam ein „Hä? Was ist los?“ und ich war mir instinktiv sicher, dass er nun wieder halbwegs wieder bei Verstand war. Halten konnte ich ihn sowieso nicht mehr, denn er war da schon bis ans Sofaende gerutscht und wollte aufstehen. Wieder meinte ich, dass es mir lieber wäre, wenn er einfach hier sitzen bleiben würde, bis er Arzt käme, um ihn zu untersuchen. Doch das wollte er nicht. Er müsse aufs Klo, plumpste beim ersten Versuch aufzustehen aber sogleich wieder nach hinten. Dann wollte er die Tür hinter sich im Bad schließen, weil er da lieber seine Ruhe haben will (wer will das nicht?), doch da fand ich den Rest meines Rückgrats irgendwo wieder. „Die Tür bleibt offen. Wenn du noch mal umfällst muss ich dich hier irgendwie rauskriegen und irgendwie deinen Kopf stützen.“
Für Widerworte war O. einfach zu fertig. Er ließ sich aufs Klo fallen und nachdem das erledigt war, ging er dann doch recht festen Schrittes wieder ins Kinderzimmer, woraufhin dann auch endlich der Notarzt und die Sanitäter dann mal oben angekommen waren.
Vom Absetzen des Notrufs bis zum Eintreffen der Rettungskräfte hat es wohl so fünfzehn Minuten gedauert. Daran kann sich mein Mann auch erinnern. Also das die da waren. Das sie ihm Fragen gestellt haben. Ich habe eine auch unwissentlich, oder wegen Überforderung auch falsch beantwortet. Nämlich seit wann seine Epilepsie bekannt ist. Ich meinte 2017, was natürlich völliger Humbug ist, aber nun gut. Vielleicht hätten sie ihn dann doch mitgenommen, aber so meinten sie, dass sie ihn dalassen würden, weil ja so lange nichts passiert wäre. Würde er aber noch einmal einen im Laufe des Tages bekommen, würden sie ihn dann ins städtische Krankenhaus mitnehmen. Große Anstrengungen solle er vermeiden und den nächsten Tag, solle er dann besser nicht zurück nach Hause fahren. Nur um sicher zu gehen. Es wurde eben wieder gefragt, ob es aus dem Schlaf heraus passiert wäre, oder eben nicht. Wie lange er schon wach gewesen war, bevor der Anfall passiert war. Es war fast genau eine Stunde nach Aufwachen. Wieder einmal.
Und viel Ausruhen solle er sich, so ein Anfall wäre ja auch immerhin anstrengend für ihn. Dann wurde ein Protokoll gefertigt, mit allen notwendigen Werten, wie Blutzucker, Puls, Blutdruck, Pupillentätigkeiten und dem restliche Fachchinesich und dann dampften die Herren und Damen auch ab, mit den besten Wünschen für uns drei und dem Hinweis, am Montag seine Neurologin aufzusuchen.
Erst nachdem die Sanitäter mehrere Minuten weg waren, begann ich mich dann endlich einmal anzuziehen. Dabei weinte ich und schniefte leise die ganze Zeit. O. stand daneben und sah stumm zu, aber ihm ging es gut. Er war müde, erschöpft, aber er hatte wieder sowas wie Farbe im Gesicht, einen klaren Blick und wenig später schlief er auch auf dem Sofa ein, während im Fernsehen irgendwas von Youtube lief. Irgendwann, ob vor dem Schlaf oder danach weiß ich nicht mehr, hat er noch ordentlich reingehauen, weil er so ausgehungert zu sein schien. Meine Mutter und ich haben den ganzen Tag nichts runter bekommen, jede lenkte sich anders ab. Ich tingelte zwischen ihr, die in der Küche vor sich hin weinte um die Anspannung loszuwerden, und ihm auf dem Sofa hin und her. Immer wieder horchte ich in mich hinein, ob es unserem Kind gut ging. Mein Essen bestand bis zu Abend aus einer Vollkornschnitte und 125 Gramm Blaubeeren. Am Abend hatte ich dann aber immerhin etwas Hunger und konnte eine normale Portion essen. Fürs Kind und für wen auch immer.
Die darauffolgende Nacht war nicht der Knaller. Wir waren zwar ins Bett meiner Mutter gewechselt, weil sie es a) angeboten hatte und b) es nun einmal wirklich bequemer war, aber ich konnte nicht schlafen. Bei jedem Zucken seinerseits verkrampfte ich mich, ich versuchte mich so gut es ging gar nicht zu bewegen und saß die meiste Zeit mit offenen Augen aufrecht im Bett. Auf dem Rücken liegen kann ich ja seit Monaten nicht mehr. Ich verkniff mir lange aufs Klo zu gehen und habe in der Nacht vielleicht vier Stunden geschlafen. Vielleicht auch mehr, weil ich ja wusste, dass ich die Fahrt nach Hause erledigen musste und ich redete mir ein, dass in der Nacht ja noch nie was passiert ist. Immer erst beim oder „kurz“ nach dem Aufwachen. Und wenn es so sein sollte, was ich ja nicht alleine. Meine Mutter schlief ja nur eine Tür weiter, also im Wohnzimmer. Ich war nicht allein. Wir konnten die Last zusammentragen. Ich konnte mich auf jemanden verlassen. Das machte es mir ein wenig leichter ums Herz. Einfacher zu ertragen.
Ich glaubte ja nicht mal im Traum daran, dass nicht mal eine Woche später diese beschissene Krankheit mir mein Mindset völlig zerstören und eine Angst in mir zu Tage fördern sollte, die ich noch nie in meinem Leben gespürt habe. Die mich jetzt noch im Griff hat. Die mir schon Angst vor dem Schlafen macht, wenn gerade einmal die Sonne untergeht. Die mich in Habachtstellung gehen lässt, wenn er auch nur gähnt, aus Angst er könne zu wenige geschlafen haben und am Wochenende geht alles wieder von vorne los.
Wir haben heute Freitag, in zwei Tagen ist es genau eine Woche her, dass er gleich zwei Anfälle an einem Tag hatte. Dieses Wochenende wird nicht leicht und ich weiß auch nicht, wie die ich diese Tage überstehen soll. Ich hab Angst, mir ist unwohl, aber ich muss mich zusammenreißen. Für unser Kind, dass ich unter dem Herzen trage, über das ich mir auch Gedanke mache, was passiert, wenn sie da ist. Die Zukunft, die kommenden Wochen und Monate, selbst die nächsten zwei Tage sind ein großes, schwarzes Nichts und das macht mir Angst, lässt mich unruhig werden. Auch wenn ich diese Nacht das erste Mal seit Tagen gut geschlafen habe, bin ich mir ziemlich sicher, dass ich es heute nicht kann. Auch wenn wir mittlerweile getrennt schlafen, weil sein Nachtschlaf möglichst ununterbrochen sein soll und ich mir beweisen musste, dass wir wirklich alles tun, damit er durch die restliche Schwangerschaft und durch die erste Zeit mit Kind ohne Anfall kommt. Das die Kombimedikamente ihren Zweck erfüllen. Das er keinen weiteren Anfall erleidet. Aber ich habe einfach so unglaubliche Angst.