»[...] denn kratzt man das Handwerk weg, sind da rohe Gefühle, meine Katharsis, alles ist meine Katharsis, sonst will ich es nicht schreiben. Ich bin der verrückte Wissenschaftler und du der Tourist in meiner irren Maschine. Finger weg vom Schaltpult. Ja, die Hälfte der Knöpfe ist Deko, na und?«
- Ennperator, "Über Gefälligkeit"
Mein Name ist Fra Glich und ich spreche heute mit dem hobbymäßigen Autor @Ennperator. Herzlich Willkommen, schön, dass du da bist! ;)
Stell dich doch bitte mal vor.
Wo fang ich da am besten an? xD *hibbelt herum* Ahoj, ich bin der Ennperator :D
Wie einige hier erfinde ich schon seit Kindesbeinen Geschichten und ich glaube, ich habe noch nie eine aufgeschrieben, die nicht irgendwie Übernatürliches oder eine andere Verzerrung der Realität beinhaltet. Meine Kunst - denn ich zeichne auch - ist sehr durch meine Figuren getrieben. Ich bin selbst queer und neurodivers (ADHS und Tics), was seit einigen Jahren immer stärker in meine Figuren mit einfliesst. Repräsentation ist mir generell wichtig. Ich versuche, alles, was mich fasziniert und beschäftigt, in meine Geschichten, ihr Worldbuilding und ihre Charaktere einfliessen zu lassen: Sprachen, (meist europäische) Sagen und Sagengestalten, Skurriles aus der Natur, Metaphern, (leichten) Horror, Humor, Trauma, der Einfluss davon und der Umgang damit... die Musik, die ich höre, nimmt da auch viel Einfluss auf verschiedenen Ebenen.
Ich bin zukünftiger Student, jederzeit bereit, über (Horror)Film(musik) zu lästern, gezwungen, über meine eigenen Witze zu lachen und wenn mich etwas begeistert, muss ich ziemlich heftig meine Hände und Arme ausschütteln (was bei meinen langen Fingernägeln definitiv gefährlich ist. Ich hab mir schon öfter Macken gehauen xD). Ich liebe Goth-Klamotten (die Musik mag ich auch gern) und muss regelmässig möglichst schrammeligen Metal hören, sonst verstopft mein Hirn.
Wie bist du zum Schreiben gekommen?
Wie gesagt, herumerfunden hab ich schon im Kindergarten (für meinen Opa hab ich mal ein Büchlein über eine Giraffe verfasst). Mein allererster Charakter und damals auch ein imaginärer Freund stammt aus der Zeit: Das war ein schwarzes Einhorn mit weissen Ringen um die Augen und Flügeln. Er hiess Amadeus, lebte in einer kargen Felslandschaft, hatte spitze Zähne - eventuell hat er sogar nur Fleisch gegessen - und hat, Zitat, "die Liebe nicht vertragen". Ich war wohl schon immer etwas düster und dramatisch veranlagt xD Er dümpelt immer noch in meinem Figurenuniversum herum und geht wahrscheinlich den anderen Pferden auf die Nerven. Über ihn und seine Verwandschaft habe ich Notizen und kleine Absätze verfasst, sobald ich schreiben konnte.
Das Schreiben als wirkliches Hobby aufgenommen habe ich mit elf. Auf einmal waren da diese Ideen, die sich zu einer Geschichte geformt haben und die ich am Computer aufgeschrieben habe. Damals war das noch auf dem Laptop für die ganze Familie.
Was empfindest du als die größte Herausforderung dabei, hast du sie schon überwunden? Und was gefällt dir am Besten?
Die grösste Herausforderung ist definitiv mein eigener Kopf! Wann immer ich irgendwie blockiert bin, liegt das eigentlich daran, dass etwas mit meiner Vorstellung von der Geschichte, meiner Erwartungshaltung oder meinen Anforderungen an mich selbst nicht stimmt bzw. ich mir unterbewusst einrede, dass eh alles Müll wird. Es ist verdammt anstrengend, mich da selbst anaylsieren und befragen zu müssen, bis dieser versteckte Teil mal mit der Antwort rausrückt. Diese Herausforderung überwinde ich immer wieder, denn sie stellt sich auch immer wieder.
Am besten gefallen mir die Momente, in denen jedes Wort genau richtig zu sitzen scheint. Mit wenigen Begriffen entsteht plötzlich ein komplettes Bild, ein Gefühl, ein Raum vor mir, als wäre ich selbst dort. Das liebe ich. Dafür schreibe ich. Und darum liebe ich auch alles, was mit der Theorie hinter dem Schreiben und Geschichtenerzählen zu tun hat - es ist eine Herausforderung, da zu finden, was mir hilft und was nicht, aber es ist auch eine Belohnung, wenn mir dadurch die oben beschriebenen Momente eröffnet werden. Ausserdem fasziniert mich das Thema einfach :D
Gibt es Werke, an denen du derzeit arbeitest?
Verschiedene. So aus dem Stegreif überlegt, habe ich mindestens fünf Projekte, von denen die meisten bisher nur aus Notizen bestehen. Ihre Zeit kommt noch. Abgesehen von zweien spielen alle im gleichen Universum und sind auch um ein paar Ecken miteinander verknüpft.
Im Schreibprozess habe ich momentan zwei. Da ist "Siebeneinhalb Dämonen", in welchem eine Gruppe Übernatürlicher ein entführtes Nashorn sucht. Im Zentrum stehen Maève, die neuerdings untot ist, Čert, der ganz eventuell daran schuld ist und Rasputin, der seinen Nashornkumpel und irgendwie auch sich selbst sucht. Die Geschichte begleitet mich seit 2016. Ich wusste lange nicht, was ich wollte und dann nicht, was ich tue, daher ist der ganze Entwurf unordentlich und wirr und darf nochmal ein Schläfchen machen, bis ich mit LudK fertig bin. Dann ist 7,5D wieder dran.
LudK heisst vollständig "Leander und das Knochenross". Das Besondere an LudK ist, dass einige Figuren nicht von mir sind, sondern von Freundinnen, mit denen ich auch das Setting, ein paar Dialoge und einen Teil der Handlung erarbeite (immerhin gehört die zweite Hauptfigur nicht mir, da muss seine Besitzerin mitreden :D). In dieser Geschichte schlägt sich Leander mit toten Freunden und einem süssen, aber leider ("leider") männlichen Freund herum - an einer guten Ein-Satz-Zusammenfassung feile ich noch. Wie bei 7,5D kommt auch hier wieder viel Queerness, Aussenseitertum, Trauma, ein bisschen Grusel und schlechte Witze zusammen. Die Gewichtung ist allerdings etwas anders. Mehr oder weniger absichtlich greife ich immer wieder die gleichen Themen auf, aber ich versuche, sie jedes Mal unterschiedlich zu betrachten.
Legst du besonderen Wert auf Diversität in deinen Geschichten?
Ja, sehr! Im feministischen Sinne, also bei der Repräsentation von Minderheiten und marginalisierten Gruppen, achte ich bisher als "Standard" darauf, mind. zwei queere Charaktere, zwei Frauen und zwei PoC unter den Figuren zu haben. Ausserdem halte ich die Augen offen, wer und was noch Platz finden könnte in einer Geschichte. Queere Charaktere bringen sich bei mir quasi selbst unter. Was PoC angeht, ist es manchmal schwieriger. Bei LudK beispielsweise habe ich unter meinen Figuren tatsächlich nur eine Person of Color. Leander selbst war schon lange vor der Geschichte als weiss lesbar definiert, seine Nichte sollte hellblond sein und ist entsprechend weiss, den pseudo-Antagonisten will ich nicht als Einzigen of color machen, weil der ein bisschen einseitig dargestellt ist (Leander als PO.V.-Charakter mag ihn nicht, berechtigterweise). Da bleibt noch Leanders Schwester. Sie ist wie er aus einer fiktiven Ethnie und sieht zwar nicht wirklich weiss aus, aber inwiefern das als Repräsentation zählt, sei mal dahingestellt. Dafür bietet LudK Repräsentation in andere Richtungen, z.B. dadurch, dass Leander ADHS hat und recht sicher auch autistisch ist. In 7,5D ist wiederum der halbe Cast of color (Čert zähl ich dabei nicht, der ist nur wortwörtlich blau). Zukünftig will ich noch mehr auf verschiedene Behinderungen und mehrgewichtige Charaktere achten. Mir geht es darum, möglichst viel Diversität einzubauen, während ich drauf achte, was bei meinen Figuren möglich ist. Es muss sich stimmig anfühlen. Das tut es zum Glück meistens.
Diversität im feministischen Sinne ist für mich aber nur der Anfang. Ich will Charaktere, die sich nicht nur in Herkunft, Neurotyp, Behinderungsgrad, Gewicht usw. unterscheiden, sondern auch in anderen Dingen: Persönlichkeit, Kleidungsstil, Moralvorstellungen, Fähigkeiten, Musikgeschmack, Humor, Hintergrundgeschichte, Problemlöseverhalten... Erst, wenn die Charaktere wirkliche Individuen sind, hat man auch wirkliche Vielfalt. Wenn man einen Charakter als Schablone fertigt, durch welche die Leserschaft die Welt betrachten kann oder als vager Schemen, in dem jede*r sich selbst sehen soll, wird der Charakter auch nie mehr sein als das. Was bringt mir eine ace Figur of color mit ADHS und Hörbehinderung, wenn sie die Persönlichkeit und Faszination von Pappe hat? Ich möchte mich auch in ihren Sorgen wiedererkennen, ihre Witze lustig finden und sie durchschütteln wollen, weil sie dumme Entscheidungen trifft. Platt gesagt, ich möchte eine Person, nicht nur eine Stichwortsammlung. Figuren sind nicht nur, womit sie geboren werden, sondern auch, wozu sie sich machen. Das zeichnet gute Repräsentation für mich aus.
Und als Sahnehäubchen achte ich zudem auf Diversität im Fantasy-Sinn. Ich habe zwar keine klassischen Fantasy-Rassen, sondern meine eigene, aber auch da gibt es viele verschiedene Fähigkeiten, kulturelle Elemente, Hautfarben, Hörnerformen, Möglichkeiten aufzuwachsen usw. Čert und Maève sind beide noch nicht lange untot und gehören dem Kreaturtyp (ein Überbegriff für das, was bei mir einer eigenständigen Fantasy-Rasse am nächsten kommt) der Rosenaugen an, dennoch haben sie durch ihr Untotsein völlig unterschiedliche Erlebnisse. Leander und seine Nichte sind beide geboren übernatürlich und etwa gleich alt, aber ihre Übernatürlichkeit beeinflusst ihr Leben ebenfalls auf unterschiedliche Weise.
Ich nehme den Begriff "Diversität" so wörtlich wie möglich :D
Woran macht man fest, ob es der Plot oder die Charaktere sind, welche die Geschichte primär beeinflussen? Und von welchem beider Aspekte lassen sich deine Geschichten leiten?
Lass mich mein Notizbuch hervorkramen, mit der Frage habe ich mich nämlich schon mal beschäftigt.
Charakter-betont:
- wichtige Ereignisse werden überwiegend von Hauptcharakteren verursacht
- Fokus auf das Innere der Charaktere, ihre Gedanken, Gefühle usw.
- Konsequenzen sind vor allem (innerlich) für die Charaktere spürbar
Plot-betont:
- wichtige Ereignisse werden überwiegend von ausserhalb (des Hauptcasts) verursacht
- Fokus auf äussere Ereignisse, die auch die Umwelt betreffen
- Konsequenzen sind vor allem in der Umwelt der Charaktere spürbar, was sich aber natürlich auch auf die Charaktere auswirkt
Ich glaube, die Überlegungen sind sogar hauptsächlich von mir bzw. ein Mischmasch aus Aufgeschnapptem und eigener Wahrnehmung.
Meine Geschichten sind eher Charakter-betont. Charaktere sind einfach mein Lieblingsaspekt in Geschichten xD Ich würde sagen, wenn eine Geschichte bei zwei Punkten in die gleiche Richtung tendiert, ist sie auch in diese Richtung betont.
Danke für deine kurze Liste, da können wir alle ja mal überlegen, wer zu welchem Typ gehört ... ;)
Hältst du es für notwendig, Diversität in den eigenen Texten als "Standard" zu behandeln?
Hmmm. Ja. Die breiteste Möglichkeit der Diversität über alle Menschengruppen hinweg ist allerdings nicht in jedem Werk möglich und vielleicht auch nicht für jeden Schreiberling machbar. Ich würde daher allen raten, ihre Figuren innerhalb der Möglichkeiten so breit wie möglich aufzustellen. Allein aus storytechnischen Gründen, weil die einzelnen Figuren dadurch automatisch individueller werden im Vergleich zu den anderen und damit besser erkennbar. Wenn eine Geschichte 1867 im tiefsten Russland spielt, sind wahrscheinlich alle Charaktere weisse Russ_innen, die bestimmte Vorstellungen, Lebensweisen und andere Dinge gemeinsam haben. Aber das heisst nicht, dass sie nicht verschiedene Geschlechter, Ziele, romantische und sexuelle Orientierungen, körperliche Einschränkungen, weitere Wertevorstellungen, Haarfarben, Charakterzüge usw. haben können. Selbst, wenn ich ein Bild ganz in blau male, kann ich durch verschiedene Sättigungs- und Helligkeitsgrade einen extrem dynamischen und spannenden Anblick schaffen. :D
Das hast du schön gesagt <3
Zu Beginn hast du kurz das Thema 'Sprachen als Inspiration' angeschnitten. Welche Aspekte deiner Geschichten beeinflussen sie?
Vor allem mein Worldbuilding, weil ich dort eine eigene Sprache baue. Wenn mir die irgendwann zu langweilig werden sollte, gibt's noch eine.
Und dann, natürlich neben der üblichen Wortwahl, das Benennen von Figuren, Orten und allem, was ich für meine Geschichten so benennen muss. Klang und ggf. Bedeutung solcher weltinternen Begriffe machen die halbe Atmosphäre der Welt und der Geschichte für mich aus. Wenn es möglich ist, achte ich zudem auf eine möglichst selbsterklärende Begriffsbedeutung - wobei ich manchmal das Gefühl habe, dass sie nur für mich selbsterklärend sind xD Für meine fiktiven Arten beispielsweise möchte ich, dass sie namentlich ein bisschen an alte, düstere Sagengestalten erinnern, aber ich will auch etwas Mystisch-Märchenhaftes und obendrein naheliegende Namen, weil ich das leichter zu merken und organischer finde. Und so kam ich zu den Mahrklauen, die auf den ersten Blick durch ihre klauenartigen Zeigefinger auffallen, den Rosenaugen, deren spezielle Nickhaut oft rosa ist, den Siebentoten, die oft sieben mal sterben können usw.
Bei meinen Charakteren wähle ich die Namen meistens nach Klang, manchmal auch nach Bedeutung aus und schaue dann, was sich in Bezug auf sie als Person dazu so ergibt. Oft widerspiegelt der Name nämlich einen Aspekt der Figur - aber eben nur einen Aspekt. Beispiel: Ein Charakter von mir heisst Čert. Der Name ist kurz und kräftig wie ein Biss ins Genick, spielt mit der Bedeutung "Teufel" auf Čerts Ersteindruck an und die Art, wie er sich gern präsentiert (dazu passt es ausserdem, dass der Name selbstgewählt ist). Aber bei dieser Betrachtung ignoriert der Name andere wichtige Aspekte von Čert, etwa seine sehr begeisterungs- und knuddelfreudige Gluckenseite. Der Rufname ist bei mir in der Regel eines der ersten Dinge, die ich über eine Figur weiss. Ein guter Name bringt mir schon die halbe Figur mit. :D
Ausserdem bringe ich gern verschiedene Sprachen (und manchmal auch Sprachbarrieren) ein, und sei es nur im Hintergrund. Der Grossteil meiner Charaktere dürfte fliessend mehrsprachig oder sogar mehrsprachig aufgewachsen sein.
Schreibst du lieber mit oder ohne Musik?
Mit. Beim Beantworten dieser Fragen habe ich bisher auch immer Musik gehört. :P Die Art der Musik variiert nach Szene und meiner Tagesverfassung, meistens ist es aber etwas, das ich auch sonst die ganze Zeit höre. Ich nutze sie, um besser in die Atmosphäre oder Stimmung einer Szene zu finden und manchmal einfach nur, um mein Hirn nebenher zu bespassen.
Welche Tipps würdest du anderen Autor*innen weitergeben, die mehr Diversität in ihre Texte einbringen wollen?
Wenn ihr Informationen über die Gruppe wollt, der eure Figur angehört, sucht euch so viel wie möglich von echten Menschen aus dieser Gruppe. Das sollte eure erste Informationsquelle sein. Gute Anlaufstellen sind soziale Netzwerke, weil dort viele Posts zum Thema gemacht werden, sodass ihr die Infos quasi direkt auf die Hand kriegt. Es gibt Blogs und Posts, die sich explizit mit Diversität in Geschichten auseinandersetzen, aber sucht auch nach Berichten aus dem echten Leben, die von Alltag und Alltagsdiskriminierung handeln (ich kann gerne ein paar Ressourcen teilen). Es ist okay, wenn man Gruppen nicht in seine Figurensammlung aufnimmt, weil man sich einfach nicht hineinversetzen kann o.ä. Seid bereit, Fehler zu machen und aus euren Fehlern zu lernen. Wenn ihr euch bei etwas unsicher seid, recherchiert gründlich, besprecht es evtl. mit jemandem und ändert es im Zweifelsfall ab oder lasst es aus. Nur, weil eine Person einer bestimmten Gruppe angehört, heisst das nicht, dass sie darüber Auskunft geben kann oder möchte - fragt vorher oder, noch besser, sucht von vornerein jemanden, der von sich aus kommuniziert, gerne Auskunft zu geben. Eine einzelne Person hat nicht das ultimative Erlebnis davon, was es heisst, xy zu sein, also seht euch nach möglichst vielen verschiedenen Quellen und Erfahrungen um. Eure Figuren sind Individuen, keine Standardausführung ihrer (marginalisierten) Identität(en). Setzt euch unbedingt mit euren bewussten und unbewussten Vorurteilen auseinander. Sonst reproduziert ihr schlimmstenfalls schädliche Stereotypen oder verwendet diskriminierende Sprache, was mir auch schon passiert ist, weil ich nicht ausreichend recherchiert und meine eigenen Vorstellungen hinterfragt habe. Zu dem Thema gibt es noch sehr viel mehr zu sagen, als ich innerhalb und ausserhalb dieses Interviews jemals erzählen oder wissen könnte, also recherchiert! Recherchiert so viel! :D Nutzt den Schwung eurer Motivation, um zu überlegen, wie ihr helfen könnt, Diskriminierung im Alltag zu bekämpfen. Repräsentation, worauf (feministische) Diversität ja hinausläuft, ist nur ein einzelner Schritt in diese Richtung.
Um den Begriff "Diversität" wieder wörtlicher zu nehmen: Beschäftigt euch damit, wie ihr z.B. verschiedene Persönlichkeiten einbringen könnt. Haltet die Augen offen nach allem, was eure Figuren unterschiedlich machen könnte. Gibt es etwas, das alle eure Charaktere gemeinsam haben und das ihr vielseitiger gestalten könntet? Probiert verschiedene Inspirationsquellen aus, das kann wirklich alles sein - Tierarten, denen bestimmte Verhaltensweisen zugeschrieben werden, wie sich verschiedene Dinge im Wind verhalten, um die Körpersprache eurer Figuren zu beschreiben, die Frisuren der Menschen, denen ihr täglich begegnet, Stimmungen, die von Liedern transportiert werden… Vergleicht eure Charaktere miteinander - wenn ihr z.B. die Ebene des Aussehens rausnehmt, woran könntet ihr sie noch unterscheiden, wenn sie den gleichen Raum betreten? Kombiniert verschiedene Archetypen innerhalb einer Person. Sucht euch ein System, um die Persönlichkeiten von Figuren zu begreifen oder entwickelt ein eigenes, wenn euch sowas hilft. Und, wie bei allen Schreibtipps: Probiert herum, was für euch funktioniert und was nicht.
Würdest du uns eine besondere Anekdote aus deinem Schreiballtag erzählen?
Ich musste mal eine halbe Stunde über einen Witz lachen, den ich acht Jahre zuvor geschrieben hatte. :') Ich finde ihn immer noch witzig, weil es so absurd ist, dass ein Fahrstuhl für ca. 20 Stockwerke 20 Minuten Fahrt braucht (Zeitgefühl hatte ich noch nie und damals auch absolut keine Ahnung von Fahrstühlen). Und die Hauptfigur hat sich das auch noch angetan und ist mit diesem verdammt langsamen Fahrstuhl gefahren. xD
Hahahaha, so eine Geschichte kannte ich auch noch nicht xD
Auf welche Erfahrung hättest du gerne verzichtet und gibt es eine Erkenntnis, die du im Nachhinein daraus ziehen kannst?
Eine gewisse orange Plattform hat das letzte Kapitel der Geschichte, die ich vor acht Jahren angefangen habe (s.o.), durch einen Bug gelöscht. Die Geschichte ist bis heute unvollendet. Ich hab's mittlerweile verkraftet, aber was war das für ein Schlag in die Fresse D: Speichert, als ginge es um euer Leben. Vertraut niemandem. (Beziehungsweise vertraut keinen Plattformen, deren Bezug zur Kundschaft schlecht und deren Bugs zahlreich sind.)
Oh nein, das tut mir leid!
Hoffentlich nehmen sich die Leser*innen hier das zu Herzen und speichern ihre Geschichten jetzt immer doppelt und dreifach ab!! :')
Welche Pläne hast du für die Zukunft?
Was das Schreiben angeht: Natürlich alle Projekte fertig stellen, die ich mir momentan vorgenommen habe. Und dabei Spass haben! Ich möchte ausserdem eine kleine Internetpräsenz mit begeisterter Stammleserschaft aufbauen, aber das soll sich eher nebenher über die Zeit ergeben.
Möchtest du sonst noch etwas sagen?
Ein persönliches Anliegen: Kümmert euch um eure männlichen Charaktere. Lasst sie vom klassischen Männlichkeitsbild abweichen (meilenweit!), gebt ihnen Humor, gebt ihnen Ängste, gebt ihnen niedliche Eigenschaften, ohne sie auf ihre Niedlichkeit zu reduzieren. Gebt ihnen Nischeninteressen, auffällige Kleidung, lange Haare. Gebt ihnen rote Haare, macht sie übergewichtig, macht sie zu Nerds, ohne sie dafür lächerlich zu machen. Wenn ihr sie maskulin macht, macht das bewusst. Lasst sie Röcke tragen. Macht sie menschlich, macht sie emotional, macht sie verletzlich und lasst sie gleichzeitig (innerlich) stark sein. Macht sie lauchig und unsportlich. Macht ihre ungewöhnlichen oder leider oft als nicht-attraktiv gesehene Eigenschaften attraktiv. Macht sie androgyn, macht sie queer (und vor allem, gebt ihnen auch andere queere Eigenschaften als Homosexualität). Gebt ihnen verschiedene Religionen, macht sie spirituell. Gebt ihnen Liebe zu Tieren. Kombiniert all diese Dinge in einer Person. Macht sie zu People of Color, gebt ihnen sichtbare und unsichtbare Behinderungen, macht sie neurodivers. Lasst sie anderen männlichen Charakteren Trost spenden und lasst sie getröstet werden. Gebt ihnen emotional intime Freundschaften mit anderen (männlichen) Figuren. Macht all das, woran ich jetzt nicht gedacht habe. Gebt ihnen all das, vor allem, wenn es für die Hauptgeschichte keine Rolle spielt.
Ich weiss, dass dieser Ruf nach mehr, na ja, Menschlichkeit für eine bestimmte Figurengruppe vor allem für nicht männliche Geschlechter gestellt und dort auch dringend benötigt wird. Er ist für alle Gruppen nötig, die es nur geben kann. Diversifziert eure Charaktere innerhalb einer Gruppe. Aber weil ich es so selten sehe, will ich mich hiermit auf einen einzigen Aufruf konzentrieren: Macht eure männlichen Charaktere so vielfältig wie möglich und gebt ihnen ein bisschen Liebe. Irgendein Junge dort draussen hat es bitter nötig, sich selbst in einem anderen (fiktiven) Jungen zu erkennen (und ich bin sicher, auf bereits erwachsene Jungs trifft das auch zu). Ich war mal dieser Junge und habe mir meine Vorbilder schlussendlich selbst ausgedacht, weil ich in der realen und fiktiven Welt nirgends welche gefunden habe.
Das hast du wunderschönen gesagt - vielen vielen Dank für das Interview und deine tollen, ausführlichen Antworten! <3