Der nächste Tag begann trübe. Schneeflocken trieben über den Moorseehof und Thorstein hüllte sich fröstelnd in ein dickes Schaffell, bevor er sich in die Scheune zu seinen Knechten aufmachte. Sie hatten die gefangene Familie spät in der Nacht mit dorthin genommen, nachdem klar geworden war, dass Thorstein den dreien Unterkunft und Essen gewähren würde, so lange die Kälte über dem Kattegat tobte. Manches von dem, was Hege und Dag berichtet hatten, war für den Steuermann noch nicht so ganz verständlich gewesen, vor allem die Tatsache, dass die Familie schon mehr als einen Mond unterwegs gewesen war. Wo, bei Thors Hammer, hatten sie sich so lange versteckt gehalten? Woher hatten sie die Vorräte genommen?
Waren sie nicht nur entlaufene Sklaven, sondern auch Diebe?
Er hatte mit Teitr seine Zweifel geteilt, doch dieser hatte ihm nur lachend auf die Schulter geklopft, als er von der Gefahr sprach, die er in den dreien sah.
'Þjófar vega eigi', hatte er ein altes Sprichwort ins Feld geführt und Thorstein hatte letztendlich kleinbeigegeben. Teitr hatte wohl recht - 'Diebe töteten nicht'.
Trotzdem gab es mehr als eine Frage, die er vor allem Dag noch stellen wollte.
Und er musste um jeden Pries wissen, ob sich noch mehr Volk in der Nähe seines Hofes herumtrieb. In manchen Momenten war ihm gestern Nacht so gewesen, als würde Hege ihren Mann warnend anschauen. Immer wenn das geschehen war, hatte sich dieser in Andeutungen und Ausflüchte gehüllt. Doch damit gab sich Thorstein nicht zufrieden.
Ein Donner rollte von ferne heran und der Wind nahm zu. Kritisch betrachtete der Steuermann den Himmel. Mit Stürmen und Wolken kannte er sich besser aus als manch anderer. Was da oben aufzog, konnte schnell zu einem Eissturm härtester Art anwachsen. Keinen seiner Leute und ebenso kein Tier würde er heute unnötig hinaus schicken. Türen und Fenster mussten geschützt werden. Die Kamine des Grubenhauses und die Feuerstätten der Ställe und der Scheune würde er nicht befeuern lassen. Dafür blies der Wind viel zu heftig in die Schlote. Es war besser, wenn Oddi so schnell wie möglich auf die Dächer stieg und die Öffnungen mit Stroh und Schilf fest verstopfte. Einen Brand oder ein abgedecktes Dach konnten sie gerade gar nicht gebrauchen.
Thorstein stieß die Tür zur Scheune auf, stemmte sich gegen den zunehmenden Wind und zog das schwere Eichenholz kraftvoll hinter sich zu.
"Thor grollt nicht wenig", begrüßte ihn Oddi grinsend. Obwohl der Mann mit seiner Katla eine eigene Hütte bewohnte, war er bereits am frühen Morgen in der Scheune erschienen. Auch ihm war das drohende Unwetter nicht entgangen.
Thorstein nickte. Ja, der Donnergott war heute nahe. Man hatte ihn nicht überhören können. "Es ist kein gutes Zeichen, wenn das Wetter uns auch im Winter grollt", stimmte er zu. "Der Sturm, der es sich gerade ankündigt, kann uns schnell gefährlich werden."
Die Männer um ihn herum schwiegen und erwarteten seine Anweisungen. Nur die drei Neuankömmlinge musterten sich gegenseitig ängstlich.
Der Hofherr tat so, als wäre ihm der stille Austausch unter den dreien nicht aufgefallen. "Sorgt dafür, dass die Tiere in den Ställen alles haben, was sie für zwei bis drei Tage brauchen", befahl er den Knechten. "Dann verschließt alle Türen und Fensteröffnungen gründlich. Nagelt zusätzliche Bretter vor die Türen, damit sie auch im schärfsten Sturm nicht aufreißen. Löscht alle Feuer bis auf jenes im Haupthaus und sammelt alle herumliegenden Dinge auf dem Hof ein."
Er wandte sich an Oddi, der zu seinen Worten zustimmend nickte. "An dich, Oddi, habe ich eine besondere Bitte", teilte er dem neuen Knecht mit. "Wenn die Feuer gelöscht sind, steigst du auf die Dächer und verstopfst die Schlote mit Stroh und Schilf. Schau nach, ob alle Beschwersteine noch an Ort und Stelle sind. Lass dir von den anderen dabei helfen."
Wieder sah sich Thorstein um. "Sagt den Mägden, sie sollen genügend Vorräte für uns alle aus dem Grubenhaus holen. Dann, wenn alles erledigt ist, treffen wir uns im großen Haus. Bringt eure Felle und Matten mit. Keiner schläft an einem anderen Ort. Nur dort wird es bei dem aufziehenden Sturm sicher und warm genug sein."
Die Knechte sammelten nun geschäftig ihre dicken Felle ein, wickelten sich die Beinlinge um die Waden und zogen ihre Fellmützen tief in die Gesichter. Schon wollte sich auch Thorstein zum Gehen wenden, als ihn ein halblautes "Wartet, Herr!", zum Bleiben zwang.
Hege war bei den Worten des Steuermanns immer blasser geworden. Nun wechselte sie mit ihrem Gefährten ein paar leise geflüsterte Worte, dann ließ dieser sie bei dem, was sie offensichtlich tun wollte, gewähren.
"Ich kann nicht einfach dazu schweigen", murmelte sie noch, an ihren Mann gewandt. Dann drehte sie sich entschlossen zu Thorstein um. "Wir haben uns eigentlich geschworen, uns niemals gegenseitig zu verraten", ließ sie den Krieger erschöpft wissen. "Doch nun, wo sie drohen, ohne unsere Hilfe jämmerlich zu erfrieren, bin ich bereit, mir eher den Zorn Odins zuzuziehen, als ihre Leben auf dem Gewissen zu haben."
Thorstein runzelte die Stirn. So war das also. Schon gestern hatte er mit irgendeinem Geheimnis gerechnet. Doch dass in der unwirtlichen Kälte noch weitere dieser bemitleidenswerten Geschöpfe ausharrten, gefiel ihm gar nicht.
"Es sind also noch mehr von euch da draußen", knurrte er halblaut. "Wo sind sie, wie sicher werden sie während eines Wintersturms sein? Sind Kinder bei ihnen?" Schon sah er in seiner Vorstellung Frauen wie seine Runa hilflos im Schneetreiben herumirren, sah Kinder in den dichten Eiswehen versinken und erfrieren - nur weil diese drei nicht rechtzeitig mit ihrem Wissen herausgerückt waren.
"Mach schon, rede!", herrschte er die verängstigte Frau an. "Oder sollen sie wirklich erfrieren? Viel Zeit, ihnen irgendwie beizustehen, haben wir sowieso nicht mehr."
Dag räusperte sich. "Es sind hauptsächlich Männer", gab er zu. "Einer von ihnen, Frode , ist schon älter. Er ist kein Sklave und kennt das Land wie kein anderer. Er allein wusste von dem trockenen Versteck im Moor …"
Wieder schwieg der Mann und Thorstein wurde langsam ungeduldig. "Was für ein Versteck, wie viele Menschen? Nun rede schon oder soll ich es aus dir herausprügeln?"
Er sah, wie Dag zusammenzuckte. Der Mann war wirklich kein Krieger. Sonst hätte er längst begriffen, dass ihm von Thorstein keine Gewalt drohte, wenn er tat, was ihm gesagt wurde. Doch die Angst saß offenbar tief …
Hege übernahm es zu antworten. "Es sind sieben Männer mit dem alten Frode, sieben Männer, zwei Frauen und ein weiteres Kind - ein kleines Mädchen. Sie sind hinter dem Engpass, der das trockene Land im Moor von den Sümpfen trennt. Wenn ihr den Ort nicht kennt …"
Thorstein schüttelte den Kopf. "Wir haben uns immer vom Moor ferngehalten. Es ist sehr gefährlich, dort hinein einen Weg zu suchen. Zu viele kommen aus solchen Sümpfen nicht mehr zurück."
Er sagte nicht dazu, dass er den Hof erst seit einigen Jahren bewirtschaftete und das auch nur mit Hilfe von Teitr. Wenn er denn einmal zu seinem Vergnügen ausgeritten war, dann immer in die Berge. Das Moor hatte er, wie alle anderen auch, tunlichst gemieden. Es war aus seiner Sicht wertloses Land, zu nichts zu gebrauchen, als im Herbst an seinen Rändern ein wenig sehr feuchtes Torf zu stechen.
Doch es schien dort ein Geheimnis zu geben. Und wer weiß? Vielleicht war ihnen in Zukunft ein Ort, der Sicherheit barg, weil er beinahe unerreichbar war, irgendwie nützlich?
"Sie haben ein paar halb verfallene Hütten dort", erzählte Hege nun ausführlicher. Früher müssen schon einmal Menschen im Moor gelebt haben - vielleicht ein paar mutige Köhler? Doch vor einem Sturm, wie du ihn erwartest, werden diese Unterkünfte niemanden schützen."
Thorstein straffte sich. "Nun gut! Wir werden sehen, was wir tun können. Würdest du den Ort wiederfinden, wenn wir ihnen zu Hilfe eilen? Vielleicht auch von einem Pferd aus?"
Hege nickte. "Ja, da bin ich mir sicher. Es ist nicht so schwer, wenn man den Eingang zu den geheimen Wegen kennt."
"Dann geh zu Runa und lass dir dicke Kleidung geben und einen Feuertopf für alle Fälle. Sie soll auch Brot einpacken und ein paar zusätzliche Felle. Ich werde mit Teitr sprechen. Wir brechen so schnell wie möglich auf."
1: "Päällä talvisen maan hetki kuin ikuisuus" - finnisch - "Im Winterland ist ein Moment eine Ewigkeit!" aus: "Taikatalvi" Songtest aus dem Album Imaginaerum von Nightwish
Ich weiß natürlich, dass in Dänemark KEIN Finnisch gesprochen wird!!! Doch man kommt an Nightwish einfach beim Schreiben NICHT vorbei und das Stück hat mich damals beim Schreiben nebst einem echten Wintergewitter in der Leipziger Tieflandsbucht begleitet und inspiriert.
Hört doch mal rein: