Während Jorunn mit dem größten Teil der Thingbesucher nach Straumfjorður
zurückkehrte, machten Horiks Männer, Ragnar und dessen wichtigste Krieger diesen Umweg nicht. Mit den verbliebenen noch lebenden Schuldigen brachen sie direkt Richtung Moseby auf. Der König wollte Zeuge sein, wenn sein Richtspruch zur Ausführung kam.
Ragnar war hin und her gerissen. Einerseits drängte es ihn nach Rache für die Bedrohung seiner Siedlung. Lange genug hatte er unter der Ungewissheit gelitten, ob er bei seiner Rückkehr sein Zuhause in Frieden vorfinden würde oder doch nur rauchende Trümmer von dem stolzen Hafenort geblieben sein würden.
Auf der anderen Seite stieß es ihm übel auf, dass man Arngrim zu einem unwürdigen Feuertod verurteilt hatte. So weit wäre er nicht gegangen, das wusste er. Dennoch würde die Hinrichtung auch in seinem Namen geschehen. Die Mosebyer würden ihren neuen Herrn von Anfang an nicht nur fürchten, sondern hassen. Durch den Tod in den Flammen wurde Arngrim der Weg nach Walhalla versperrt. Deshalb hatte Horik diese Strafe gewählt. Doch war es richtig, eine solches Urteil zu vollstrecken, dass noch über den Tod hinauswirkte? Ragnar zweifelte daran. Er brauchte jemanden, mit dem er darüber sprechen konnte. Sein Bruder Rollo hatte den Überfall von Arngrims Männern miterlebt. Seine Sicht der Dinge konnte vielleicht nützlich sein.
Der Jarl sah sich nach seinem Bruder um. Wie fast immer in der letzten Zeit fand er ihn in der Gesellschaft von Thorstein. Einen Augenblick lang zögerte Ragnar. Doch dann nickte er sich selbst zu und lenkte sein Pferd in die Richtung der beiden. Auch wenn er die Freundschaft Thorsteins verspielt hatte, einen Rat zu geben, würde sich der Ältere sicher nicht weigern.
»Du kannst nicht erwarten, dass sie diese neue Herrschaft ohne Widerstand hinnehmen werden«, konnte Ragnar hören, als er näherkam und er sah Thorstein nicken.
»Das denke ich auch nicht. Aber ihnen fehlen jetzt, nachdem Horik sie alle getötet hat, ihre besten Männer, um sich zur Wehr zu setzen. Das macht es schwerer.«
Ragnar schloss zu den Diskutierenden auf. »Wollt ihr einen Aufstand anzetteln?«, versuchte er, scherzend mit den beiden ins Gespräch zu kommen. »Fast könnte man das euren letzten Worten entnehmen. Doch ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr zugunsten von Moseby sprecht, oder?«
Rollo lachte auf und Thorstein schüttelte den Kopf. »Nein, das tun wir nicht. Doch wir haben gerade darüber nachgedacht, wie es mit der Siedlung weitergehen wird. Es könnte schwierig werden, sie unter deinen Herrschaftsbereich zu bringen. Du wirst viel Zeit dort verbringen müssen, um dir die Mosbyer gefügig zu machen. Sie werden dich nicht mit offenen Armen empfangen!«
Der Jarl nickte. »Das erwarte ich auch nicht. Um ehrlich zu sein, habe ich mir noch keine Gedanken darüber gemacht, wie es in Moseby weitergehen soll. Horiks Urteil beschäftigt mich zu sehr.«
Thorstein schaute erstaunt auf. »Was kann dich daran beschäftigen?«, forschte er nach. »Du wusstest doch sicher schon bevor es von Horik verkündet wurde, was Arngrim erwartet. Habt ihr das Vorgehen nicht im Voraus gemeinsam geplant?«
Der Steuermann hatte fest angenommen, dass Horiks Rechtsprechung mit seinen Getreuen abgesprochen gewesen war. So sah es die Tradition vor, so handelten sie auch in ihrer Gemeinschaft im Großen wie im Kleinen.
Doch Ragnar schüttelte den Kopf. Auch er war von Horiks Alleingang überrascht worden, doch gegen das Wort des Königs hatte er nicht zu sprechen gewagt.
»Es mag sein, dass Horik Berater hatte«, gab er zu. »Doch ich war es nicht.«
Er richtete sich ein wenig im Sattel auf und sah zu Rollo und Thorstein hinüber, die ihn beide ungläubig anstarrten.
»Am Abend vor dem Thing empfahl mir der König, mich auszuruhen, weil ich ihm noch unsicher auf den Beinen erschien. Ich war froh, dass er mich gehen ließ, denn ich war wirklich erschöpft. Doch vielleicht ging es ihm gar nicht darum, mir Erholung zu verschaffen«, mutmaßte der Jarl. »Vielleicht wollte er mich bei seinen Plänen auch aus dem Weg haben. Ich weiß es nicht. Doch wenn es nach mir gegangen wäre, hätten nur Arngrim und seine Franken den Tod gefunden, nicht der halbe Ort.« Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Mag sein, dass der König das ahnte. Mag aber auch sein, dass es ihm egal gewesen wäre. Ihm geht es darum, seine Macht auszubauen. Seine Gegner werden es sich zweimal überlegen, ob sie ihn angreifen, wenn sie hören, wie er über den Verräter aus seinen eigenen Reihen gerichtet hat.«
Rollo knurrte und schaute sich vorsichtshalber um. »Ich mag es nicht, zu welchen Mitteln er gerade greift. Ja, man muss den Überfall bestrafen. Aber so …? Du wirst über Jahre ständig auf der Hut sein müssen, damit dir keine der Mosebyer Witwen ein Messer in den Rücken stößt oder deine Kinder vor deinen Augen vergiftet. Zuviel Gewalt erzeugt Gegenwehr. Das kann ich dir sagen.« Er schwieg einen Moment und seine Ohrmuscheln überzog ein feines Rot. »Auch ich habe versucht, mit zu viel Gewalt Gehorsam zu erzwingen. Es ist unmöglich! Doch als König sollte Horik das wissen …«
Thorstein war dem Gespräch aufmerksam gefolgt. »Es ist mehr als das«, murmelte er dann ebenso leise, wie die beiden Männer vor ihm gesprochen hatten. »Er übt eine andere Macht aus als bisher. Dieses Thing … Wo blieb denn da der Wert der Gemeinschaft? Wo war die Abstimmung, die Verhandlung? Wann wurden die Zeugen gehört? Das war kein Thing – es war eine Demonstration von Macht! So wie es auch die kommenden Tage sein werden: Horik wird uns zeigen, dass er über uns alle bestimmen kann. Und wenn er nach Århus zurückkehrt, wird sein Machtanspruch dennoch spürbar bleiben. Er lässt uns sogar seine Tochter hier, um nicht in Vergessenheit zu geraten.«
»Birthe.« Ragnar senkte den Kopf. »Wie hätte ich sie abweisen können? Doch sie gefällt mir nicht. Sie ist zänkisch und mit dem, was ich ihr bieten kann, nicht zufrieden.« Er seufzte. »Jede andere Frau hätte ich zur Ordnung rufen können, sei es zur Not mit einer Tracht Prügel. Doch bei ihr …? Ich konnte sie nicht einmal davon abhalten, Björn bei unserer ersten Mahlzeit zu den Knechten zu schicken. Es ist zum Haare ausreißen!«
Die Männer schwiegen eine Zeitlang einträchtig. Dann nahm Rollo das Thema wieder auf. »Was also schlägst du vor? Du bist nicht zu uns gekommen, um zu plaudern. Das passt nicht zu dir. Hast du Ideen, wie wir dieser Entwicklung begegnen sollen?«
Ragnar war sich sicher, dass er die Nornen lachen hören konnte. »Ich werde etwas tun müssen, wenn ich Straumfjorður nicht völlig in Horiks und Birthes Hand geben will. Doch im Moment sehe ich keinen Weg, der uns zu den alten Zeiten zurückführen würde.« Er strich sich über den Bart.
»Wenn ich Horik offen widerspreche, wird er noch mehr Gewalt ausüben, um seine Stellung zu behaupten. Der Ansicht bin nicht nur ich. Auch Erik sieht das ähnlich. Man kann dem König die Rechtsprechung nicht verweigern, man kann sie nicht einmal laut anzweifeln. Am Tod Arngrims und der Franken führt kein Weg mehr vorbei.«
Der Jarl sah seine Zuhörer nicken. »Arngrims Tod war an dem Tag beschlossen, als wir seine Männer in Straumfjorður besiegten«, stimmte Thorstein zu. »Auch du hättest ihn nicht am Leben gelassen, wenn du hättest entscheiden müssen. Doch nach der Rache muss es einen Weg geben, den Frieden wiederherzustellen. Wir können nicht über Monde hinweg Moseby als feindselige Nachbarn neben uns haben. Das ist zu gefährlich und es fügt sich nicht in unsere Traditionen.«
Rollo stimmte ihm zu. »Wir werden die kommenden Tage hinter uns bringen müssen und dann zusehen, dass wir so schnell wie möglich Ruhe schaffen.« Seine Stimme wurde zu einem Flüstern, sodass seine Zuhörer ihn kaum verstanden. »Du solltest diesen Sklavenhandel des Thing irgendwie rückgängig machen. Damit kannst du die Stimmung zu deinen Gunsten verbessern.«
Die Sklaven freilassen – daran hatte der Jarl auch schon gedacht. Doch mit einem solchen Schritt würde er sich offen gegen Horik aussprechen. Konnte er einen solchen Weg einschlagen? Oder würde er damit all seine Macht in Straumfjorður
verlieren? Ragnar war unsicher. »Vielleicht ließe sich so etwas nach und nach machen. Aber nicht sofort und nicht, bevor der König zurück in Århus ist. Bis dahin müssen wir alle dieses Spiel mitspielen, auch wenn es uns zuwider ist.«
Die drei Männer sahen sich an und wussten, dass sie ein neues gemeinsames Ziel gefunden hatten - die Zukunft Straumfjorðurs zu sichern. Sie hätten sich nicht schlimmer irren können.