Kiesel spritzten auf und eine Staubwolke wirbelte über den Weg hinter der Gruppe galoppierender Krieger. Schaum rann Rollos Pferd aus dem Maul und wurde vom Wind weggerissen. Die kühle Morgenluft fuhr unter jedes Kleidungsstück und ließ den angespannten Mann frösteln. Endlich war es soweit! Der lang erwartete und fast schon herbeigesehnte Kampf mit Arngrims Mannen nahte. Rollo aber, der nichts mehr hasste als untätiges Warten, fühlte sich frei und kraftvoll, bereit, dem Angreifer zu trotzen und die hinterhältigen Betrüger zu Hel zu schicken. Keinen Moment lang zweifelte er in diesem Augenblick an ihrem Sieg, der Odin gefällig sein musste. Scheute doch auch der Hrafnáss die Verräter und Lügner, wie man an seinem Umgang mit Loki sah.
Ja, der Tag war gut, um einen Kampf zu bestehen. Der leichte Frühnebel hob sich, die schimmernden weißen Wölkchen des Morgens versprachen einen klaren, wenn auch kühlen Tag. Das Pferd unter ihm bewegte sich stark und leichtfüßig und seine Männer waren ebenso sehr auf eine Schlacht aus wie er, selbst wenn sie nur eine kleine Gruppe waren und sich gegen einen ebenso zahlenmäßig schwachen Gegner stellen wollten. Heute ging es um ihre Heimat, ging es um Straumfjorður, da würde keiner von ihnen sich halbherzig in den Kampf werfen, sich vor einem überlegenen Gegner drücken oder sich schonen.
Rollos Gruppe kam gut voran. Der Drang nach Waffengeklirr und Kampfgeschrei war so groß in den Männern, dass sich ihre Unruhe auf die Pferde übertrug, die kaum zu bändigen waren. Bald ließ sich daher Gunnars Hof - ihr Ziel - aus der Ferne erkennen. Der Jarlsbruder atmete auf, als er sah, dass nur ein zartes Rauchwölkchen über dem Hof stand, welches das brennende Herdfeuer verriet. Noch gab es keine schwarzen Schwaden, die auf den Angriff der Feinde und die damit verbundene unvermeidliche Brandschatzung hindeuteten.
Rollo zügelte sein Pferd und ein wenig gemächlicher trabten sie durch Gunnars Tor, das dessen Knechte sofort geöffnet hatten, als die Männer sich näherten. Zufrieden betrachtete Rollo, was Lathgerthas Bruder im Winter geleistet hatte: Dort, wo man von außen nur eine schmale Holzeinfriedung erkannte, lehnte sich innen eine starke Steinmauer gegen die Stämme, die an jeder der vier Seiten einzelne Aussparungen hatte, sodass ein Mann über die Mauer hinaussehen und notfalls auch einen Speer werfen oder einen Bogen abschießen konnte. Noch nie zuvor, so dachte Rollo, waren einzelne Höfe so gut geschützt worden. Arngrims Mannen würden sich die Zähne ausbeißen, sollten sie bei Gunnar oder einem anderen der grenznahen Bauern plündern wollen.
Der Hausherr kam ihnen – ebenfalls bewaffnet – mit schnellen Schritten entgegen. »Rollo! Habt ihr sie schon gesehen?«
Der Jarlsbruder schüttelte den Kopf. »Auf dem Weg von der Siedlung hierher war alles friedlich«, brummte er unzufrieden. »Könnten sie es auf einen anderen Hof als deinen abgesehen haben?«
Gunnar runzelte die Stirn. »Bisher habe ich nichts gehört. Drei meiner Männer sind draußen, um zu lauschen und uns frühzeitig zu warnen, sollten Arngrims Männer einen unverhofften Weg einschlagen. Doch bisher kam keiner der drei zurück.«
Rollo stieg vom Pferd und seine Männer folgten ihm. Dichter drängten sie sich zusammen, um nichts zu verpassen, was nun besprochen werden musste. Jeder von ihnen war irgendwann Teil der Diskussionen des Winters geworden. Keiner zweifelte mehr an den räuberischen Absichten Arngrims. Und doch … So viel Zeit hätten sie sich nicht gelassen, wären sie selber auf einen Beutezug ausgezogen.
Die Rede ging hin und her. Ungeduldig traten die Männer von einem Fuß auf den anderen. Sie wollten kämpfen! Doch Rollo zögerte. Er wollte nicht angreifen, ohne sich der Pläne der Gegner ganz sicher zu sein. Ein Hinterhalt konnte tückisch sein. Ja, es konnte schon verheerende Folgen haben, wenn der Moment der Überraschung verpasst wurde.
»Wir werden hier warten und uns nicht vor den Toren blicken lassen«, wies der Jarlsbruder an. »Sveinn und Gylve, ihr reitet vorsichtig nach Osten und schaut nach, wo diese Hundesöhne denn nun bleiben. Haltet euch versteckt, aber versucht so viel wie möglich herauszubekommen. Macht nicht auf euch aufmerksam! Sie sollen sich in Sicherheit wiegen.«
Als die beiden Genannten aufbrachen, sahen ihnen ein gutes Dutzend erwartungsvoller Augenpaare nach.
Gylve und Sveinn waren gute Späher und so fanden sie die Gegner am frühen Nachmittag problemlos an der Grenze zum nachbarlichen Herrschaftsbereich. Anders als erwartet, kam ihnen jedoch kein bis an die Zähne bewaffneter Trupp finsterer Räuber entgegen. Nein, die Feinde hatten auf einem Hügel ihr Lager aufgeschlagen und schienen zu ruhen. Hier und da sah man einen Krieger sein Schwert schleifen. Ein Knappe machte sich am Zaumzeug eines Hengstes zu schaffen und ein in auffälliges Rot gekleideter hoch gewachsener Mann ließ ein Trinkhorn herumgehen. Die ungewöhnliche Kleidung ließ vermuten, dass sie einen der Franken vor sich sahen, von denen Frode berichtet hatte. Alles in allem war das Bild auf den ersten Blick friedlich und ließ nicht sofort auf einen baldigen Angriff schließen.
Nachdem sich die beiden Späher einen ersten Eindruck verschafft hatten zogen sie sich zurück.
»Da stimmt irgendwas gewaltig nicht!«, murmelte Sveinn leise. »Kein Anführer mit einem Krümel Verstand würde ohne Grund einen Lagerplatz wählen, der so gut einsehbar ist. Da oben gibt es kaum mehr als einen Baum und ein paar dürftige Sträucher, um im Notfall Deckung zu haben. Glauben die wirklich, dass wir völlig ahnungslos sind und sie hier machen können, was sie wollen?«
Auch Gylve war von ihrer Entdeckung irritiert.
»Selbst wenn sie die Überraschung auf ihrer Seite wähnen - hätten sie dennoch versteckt rasten können.« Er raufte sich den Kinnbart. »Es muss einen Grund haben, warum sie sich dort oben aufhalten. Da steckt vielleicht mehr dahinter als nur eine Pause vor dem Angriff.«
»Du meinst, sie verfolgen ein geheimes Ziel oder erwarten noch jemanden?« Sveinn starrte zurück zu dem einsamen Hügel mit den wenigen Bäumen, auf dem sich Arngrims Männer gefanden. »Man kann von dort oben weit ins Land hinein schauen«, nahm er an. »Wenn sie also weitere Männer erwarten …«
Gylve nickte. »… oder irgendein Zeichen zum Angriff …« Der Ältere straffte sich. Er hatte einen Entschluss gefasst. »Reite du zurück und gib Rollo Bescheid, dass wir Arngrims Mannen gefunden haben. Dann kann er an die Nachbarhöfe Boten senden und uns geschlossen entgegenkommen. Vielleicht ziehen wir so den Moment der Überraschung auf unsere Seite.« Noch einmal sah er abschätzend zu der kleinen erhöht wachsenden Baumgruppe. »Ich aber werde hier bleiben und herausfinden, worauf diese flohzerfressenen Hunde dort oben warten. Sobald ich mehr weiß, folge ich dir in Richtung Gunnars Hof.«
Sveinn schlich davon und Gylve wagte sich nach und nach näher an die Lagernden heran. Der Nachmittag verging und bis zum Abend hatte sich nicht viel ereignet. Selbst im Dämmer der herannahenden Nacht erfuhr er aus den Handlungen der Feinde wenig. Zwar bestätigte sich, dass sie etwas zu warten schienen, denn irgendwann im Licht der tiefstehenden Sonne sah er einen Mann aus einer hohen Tanne herabklettern, der sofort von einem anderen ersetzt wurde. Gylve grinste still in sich hinein. Blind waren diese Dummköpfe, dass sie ihn nicht erkannt hatten, obwohl er so dicht vor ihnen gut versteckt unter einem Brombeergetrüpp hockte. Die Dornenzweige bildeten einen natürliche Höhle, zu der er einen Eingang gefunden hatte, waren die Ranken doch über ein halbhohes Bäumchen gewachsen, welches sich unter der zusätzlichen Last nach unten bog und einen kniehohen Einlass bot. Die spitzen Dornen der Brombeeren würden dafür sorgen, dass weder die feindlichen Reiter noch ihre Pferde gerade hier einen Späher vermuteten.
Gylve sah, wie der aus dem Baum herabgestiegene Mann seinem Anführer Meldung erstattete. Ein mehrfaches Kopfschütteln und eine vage Geste nach Süden ließen ihn ahnen, dass das Erwartete - ein Zeichen oder neue Ankömmlinge - noch nicht zu sehen gewesen war.
Der Krieger dachte nach. Straumfjorður lag deutlich weiter im Südwesten als die Geste des Mannes gewiesen hatte. Dort, wohin die Hand gezeigt hatte, gab es ein paar Weiden, ein wenig Wald und dahinter die Klippen der Steilküste. Warum sollten sich Männer, die auf Beute aus waren, die Mühe machen, dort entlang zu gehen, wenn sie auch die eigenen Wege nutzen konnten? Nein, dass von dort Verstärkung käme, erschien Gylve unwahrscheinlich. Doch was sonst könnte der Franke aus dieser Richtung erwarten? Ragnars Freund grübelte weiter und besah sich dabei die Rastenden auf dem Hügel genauer. Mehr als ein Dutzend Männer hockte nicht dort oben. Nach ihren Berechnungen aber musste Arngrim doppelt so viele waffenfähige Krieger zurückgelassen haben. Wo also waren diese?
Ragnars Freund wurde unsicher. Sollte er lieber zu Rollo zurückkehren und mit diesem seine Gedanken und Befürchtungen austauschen? Oder sollte er doch lieber warten und hoffen, ein wenig mehr herauszufinden?
Gylve wusste es nicht und am Ende nahm ihm der zur Neige gehende Tag die Entscheidung ab. Im letzten Dämmer konnte er kaum die lange Strecke zurückreiten. Also blieb er, wo er war und hoffte auf das Beste.