Jorunn war das Thing so wichtig, dass sie auf ihre Weise daran teilnahm. In einem kleinen Krug Wasser hatte sie schwarzes Bilsenkraut aufgelöst. Sie suchte sich einen bequemen Platz nahe dem Feuer in ihrer Hütte und trank das Gebräu Schluck für Schluck. Nach einer Weile spürte sie, wie ihr Geist sich erhob und ihren Körper verließ. Schwerelos schwebte sie über dem Thingplatz und betrachtete die dort versammelten Männer. Ohne Überraschung sah sie Ragnar und Gylve hinter dem König stehen. Dass der aus Franken stammende Fremde Horik ins Ohr flüsterte, irritierte sie einen Moment lang. Dann verstand sie, dass dieser Berater ein Teil der neuen Zeit war, die vor ihnen lag.
Jorunn sah, wie die gefangenen Männer aus Moseby und die Familie Arngrims und seiner Getreuen vor den König gebracht wurden. Sie spürte die Anspannung der Männer, die Angst der Frauen und Kinder und ahnte, dass dieser Tag nicht ohne Blutvergießen enden würde. Noch einmal ließ Horik das Geschehene in seinem Bericht vor den Männern ablaufen, dann wandte er sich den Angreifern zu.
»Ich sehe in euch keine ehrenwerten Feinde«, ließ er die Gefangenen wissen. »Dies war kein würdevoller Kampf. Es war hinterhältiger Verrat, den ihr begangen habt. Und wie Verräter werde ich euch bestrafen. Daran zu denken, mit euch in Walhalla zu trinken, widert mich an. Es gibt nichts, womit ihr diesen Frevel wiedergutmachen könntet. Nicht einmal einen ehrenhaften Tod habt ihr verdient. In meinen Augen seid ihr weniger wert als der geringste Sklave eurer Siedlung.«
Horik wandte sich von den Gefangenen ab und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Männer von Straumfjorður. »All jene, die euch angegriffen haben, werden sich heute durch die Hand meiner Männer auf den Weg zu Hel machen. Doch um euch zu entschädigen, sollt ihr nicht nur die Herrschaft über Moseby erhalten. Ich will euren Wohlstand stärken und biete euch hiermit an, jede Frau und jedes Kind, die ihr hier sieht, als Sklaven in eure Haushalte zu holen. Wollt ihr dies nicht, so werden sie ihren Männern in die Anderwelt folgen.«
Fassungslos beobachtete Jorunn das Chaos, welches auf Horiks Worte folgte. Männer versuchten sich zu befreien, Mütter ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Zwei alte Frauen verfielen in lautes Wehklagen, übertönt von dem Zorngeschrei Arngrims, der sich laut weigerte, diesen Richtspruch anzunehmen.
All dem setzten die Krieger Horiks bald ein Ende. Jene, die versuchten sich zur Wehr zu setzen, wurden brutal zu Boden geworfen und teilweise zusammengeschlagen. Es dauerte nicht lange, bis eine angespannte Ruhe herrschte.
»Wir werden zuerst eine Auswahl unter all jenen treffen, die uns als Sklaven tauglich erscheinen.« Horik nickte einem seiner Männer zu. »Sven wird jetzt nacheinander alle infrage kommenden Weiber und Kinder vorführen. Wer Interesse an neuen Sklaven hat, soll sich jeweils melden.«
Jorunn sah dem nun folgenden Treiben zu, ohne eingreifen zu können. Jammernde Frauen und klagende Kinder fanden sich plötzlich in der Unfreiheit wieder, von einem zornigen König in die Hände ihrer Feinde gegeben.
Die Verteilung ging schneller vonstatten, als die Völva das angenommen hatte. Am Ende blieben zwei alte Mütter zurück, die sich geweigert hatten, in die Sklaverei zu gehen und den Tod vorzogen, dazu eine junge Mutter mit Säugling, fast selbst noch ein Kind, und ein Junge und ein Mädchen, deren Vater bei dem Überfall auf Straumfjorður zu Tode gekommen war.
»Wenn keiner von euch ein Interesse an diesen unnützen Essern hat, so werden sie das Schicksal ihres Herrn teilen und mit den Männern in den Tod gehen. Gibt es noch einen, der Verwendung für diese vier hat?«
Man sah dem König an, dass er Gefallen an diesem tödlichen Handel gefunden hatte. Wahrscheinlich wäre es ihm recht gewesen, Arngrim durch den Tod dieser schwachen Kinder zu zeigen, dass er die Macht über dessen Siedlung innehatte. Doch so weit kam es nicht.
Während seiner letzten Frage hatten sich Thorstein und Rollo angesehen und wortlos ausgetauscht. Die Zeiten, in denen der Jarlsbruder ein solch sinnloses Morden hingenommen hätte, waren vorbei. Stolz richteten sich die beiden Männer auf und Rollo trat einen Schritt nach vorn. »Wir nehmen sie!«
Horik gab sich erstaunt, obwohl er seinen Ärger schlecht verbergen konnte. »Ihr wollt in Zukunft diese Mäuler stopfen? Thorstein und du? Bringen eure Höfe so viel ein, dass ihr euch das leisten könnt? Liegt nicht der Moorseehof auf kargem Land? Und fehlt dir, Rollo, nicht der Gewinn aus unserem letzten Kriegszug?«
Rollo verschlug es bei dieser Unverschämtheit die Sprache, doch Thorstein begegnete der Herausforderung mit einem Lachen. »Gerade weil mein Land recht karg ist, benötige ich viele helfende Hände. Auch Kinder werden mit den Jahren immer stärker und diese Sklaven werden mir für eine lange Zeit dienen.«
Horik nickte. Dieser Logik konnte er sich nicht verschließen. »Dann sei es so. Diese vier«, er wies mit einer Geste auf die kleine verängstigte Gruppe, »gehören nun Rollo und dir«.
Jorunn atmete auf. Zumindest diese vier Leben waren gerettet worden. Sie bewunderte die beiden Männer, die sich mutig dem Wunsch des Königs entgegengestellt hatten. Doch sie ahnte, dass Horik diese Kränkung nicht so schnell vergessen werden. Thorstein und Rollo mussten in der kommenden Zeit sehr vorsichtig sein.
Jetzt allerdings, nachdem die Familien der Verräter auseinandergerissen und als Sklaven auf die Höfe Straumfjorðurs verteilt worden waren, begann das eigentliche Gericht.
»Wir haben zwei Arten von Verrätern hier, scheint mir«, führte Horik seine Überlegungen aus. »Jene, die den Angriff planten und wünschten, und jene die ihren Anführern folgten. Letztere, so scheint mir, haben sich weniger schuldig gemacht und einen schnellen Tod verdient.«
Während er sprach, waren seine Hauskrieger hinter jener Männer getreten, die den Befehlen Arngrims gefolgt waren. Auf ein Zeichen ihres Königs legten sie ihren Opfern Stricke um den Hals und erwürgten sie.
Vielen der Männer Straumfjorðurs entfuhren Laute des Entsetzens. So hatten sie sich die Rechtsprechung nicht vorgestellt. Starb ein Mann auf diese ehrenlose Weise, blieb ihm der Platz in Walhalla vorenthalten.
Doch Horik war noch nicht am Ende seines Gerichts angekommen. Nicht alle Männer aus Moseby waren dem Strang zum Opfer gefallen. Noch standen Arngrim und die Franken lebendig vor ihrem Richter.
»Wir haben nun jene gerichtet, die ihren Anführern gefolgt waren. Doch was soll mit jenen geschehen, deren Plan es war, die eigenen Nachbarn zugrunde zu richten? Ihre Strafe, so glaube ich, muss härter sein als ein schneller Tod.«
Horik musterte die Gefangenen, als sähe er sie heute zum ersten Mal. »Wir haben hier«, dabei wies er mit der Hand auf die gefangenen Franken, »Männer aus einem fernen Land. Sie sind zu uns gekommen, um zwischen uns Unfrieden zu säen. Wie wir wissen, ist ihnen das gelungen. Um hierher zu gelangen, haben sie einen weiten Weg über das Meer auf sich genommen. Nun denn! Ich glaube, es wird das beste sein, sie dem Meer zurückzugeben.«
Mit einem düsteren Lächeln quittierte er das Aufatmen der Fremden. »Allerdings denke ich nicht, dass der Frankenkönig sie zurückhaben möchte. Man kann ihnen nicht trauen.
Deshalb wird es am besten sein, sie dem Urteil von Njörðr zu überlassen. Ich bin sicher, dass sich in Moseby ein altes Fischerboot finden wird, mit dem wir sie auf das Meer bringen können. Sollte es ihnen gelingen, ohne Segel und Ruder an Land zu gelangen, so sollen sie frei sein.«
Jorunn sah, wie die Franken aufatmeten. Sie ahnten nicht, welch langes Sterben und welch grausamer Tod ihnen beschieden worden war. Gewiss glaubten sie, dass ein Boot sie in Sicherheit bringen könne. Aus Erfahrung wusste die Völva jedoch, dass es schier unmöglich war, ein Fischerboot ohne Ruder oder Segel in einen sicheren Hafen zu bringen. Die Männer würden in falscher Hoffnung über das Meer irren, bis sie verdursteten oder Njörðr ein Einsehen hatte und das Boot sinken ließ.
Man brachte die gefangenen Franken weg und es blieb nur noch Arngrim als letzter der Verräter vor dem König stehen. »Das Urteil über dich hat mir großes Kopfzerbrechen bereitet«, ließ Horik den ehemaligen Jarl wissen. »Dein Tun erscheint mir so ungeheuerlich und ehrenlos, dass mir die Worte fehlen. Du bist kein Nordmann! Und du bist auch kein Jarl! Du hast kein Recht, als freier Mann unter uns zu stehen. Du bist ein Nichts, eine stinkende Jauchegrube, ein Hundeschiss, Abschaum! Keiner von uns legt Wert darauf, deinem Tod auch nur zuzusehen. Und das werden wir auch nicht tun.«
Horik räusperte sich und trat einen Schritt nach vorn
»All dein Besitz wird in meine Hand übergehen. Deine Halle jedoch, die Halle eines Verräters, wird brennen.« Er starrte Arngrim mit unbeweglicher Miene in die Augen. »Und du mit ihr. Am Ende werden wir die Asche im Meer zerstreuen und nichts wird mehr übrig bleiben als ein Stäubchen auf den Wellen, die der Nordwind davontreiben wird.«
Jorunn hatte genug gehört. Dieser Tag nahm eine schlimmere Wendung, als sie es gedacht hatte. Horik hatte alle Macht an sich gerissen und der Versammlung des Thing keine Möglichkeit gegeben, an einer Entscheidung über die Verräter teilzuhaben. Die Völva sah den Unglauben und auch die Unzufriedenheit in den Augen vieler Männer. Noch hatten nur wenige von ihnen verstanden, dass dieses Gericht mehr bedeutete als nur die Bestrafung eines Verräters. Eine neue Art der Herrschaft hatte sich heute zum ersten Mal im Nordland gezeigt. Ein einzelner Mann erhob sich über das Gesetz des Thing und richtete ohne die übliche Abstimmung.
Jorunn ahnte, dass dieser Entscheidung weitere folgen würden. Die Zeit, wie sie sie kannten, die Zeit, in der freie Männer würdige Entscheidungen trafen, schien vorbei zu sein. Arngrims Halle, das sah sie bereits voraus, würde brennen und er mit ihr. Doch die neue Herrschaft in Moseby würde ebenso dem König dienen müssen, wie es Ragnar schon heute tat.
Der Jarl von Straumfjorður hatte zu den Ausführungen Horiks ebenso erstaunt geschwiegen wie seine Männer. Aus Sicht der Völva wog dieses Schweigen mehr als es jede Zustimmung getan hätte. Mit diesem Schweigen gab Ragnar einen Teil seiner Macht aus der Hand, denn an ihm wäre es zuerst gewesen, den Angreifer zu richten. Dass er dieses Privileg an seinen König abgab, konnte für die Zukunft nichts Gutes bedeuten.
Seufzend kehrte die alte Seherin in ihren Körper zurück. Die Übelkeit setzte ihr zu und sie verließ ihre Hütte, um sich schwallartig in ein nahe gelegenes Gestrüpp zu übergeben. Sie musste nun viel trinken und danach ausruhen. Eine andere Möglichkeit bot ihr die Nachwirkung des Bilsensuds nicht. Jorunn hasste diese Schwäche, die der Trank ihr aufzwang. Sie glaubte jedoch nicht, dass es ihr überhaupt möglich war, eine Veränderung der Zukunft herbeizuführen. Es war die Aufgabe des Jarls, seine Macht zu sichern. Gelang ihm das nicht, so war der König im Recht, eine geeignetere Person zu berufen. Sie, die Völva, stand hierbei abseits. Es war nicht ihre Aufgabe zu herrschen. Die Alte seufzte.
Doch dann erinnerte sie sich an einen Traum, der ihr in den letzten Monden mehrfach erschienen war. Sie hatte sich selbst an Bord einer Knorr gesehen, die nach Westen gesegelt war. Irgendwo weit hinter dem Horizont, das hatte sie im Traum ganz sicher gewusst, lag das Ziel. Um sie waren Freunde und starke Nordmänner gewesen. Sie hatte gespürt, dass an diesem Ziel, hinter dem Horizont, ein neuer Anfang lag.