Anders als seine Freunde und Mitstreiter zuhause in Straumfjorður fand Jarl Ragnar auch nach der erfolgreichen Eroberung Haithabus keine Ruhe. Mit sechs wertvollen Súðs, die die Franken respektvoll ›Drachenschiffe‹ nannten, war er aufgebrochen. Zurück brachte er ganze vier. Ebenso hatte er mehr Männer verloren als gedacht, von den Verwundeten ganz zu schweigen.
Ja, sie hatten Harald aus Haithabu vertrieben, König Horik hatte den Handelsplatz zurückerobert und im Gegenzug allen seinen Getreuen sämtliche Steuern und Eidesgelder für die kommenden beiden Jahre erlassen. Sie hatten Beute gemacht – wahrlich nicht wenig – und bei der Verfolgung Haralds Richtung Süden tief ins Jütland hinein waren ihnen Fischer und Bauern hilfreich entgegengekommen, ihre Vorräte aufzufrischen. Auch hier war Horik willkommen gewesen – über Harald wurde wenig Gutes berichtet.
Die Plünderungen und Brandschatzungen, die der Halfdansson bei seiner Eroberung des Jütlandes gestattet hatte, lagen erst zwei Jahre zurück und waren gerade bei den reicheren Bauern unvergessen. Auch nahm man es ihm übel, dass er sich mit den Christen verbündet und seine Macht aus dem Heer Balderichs von Friaul bezogen hatte. Auch wenn die Händler Jütlands ihre Waren gern mit den Männern aus dem Süden tauschten und deren Handelskraft durchaus zu schätzen wussten – ihre eigenen Werte und Götter lagen ihnen näher am Herzen. So war Horik als Befreier und Nordmann, der den richtigen Göttern huldigte, mehr als willkommen gewesen. Ragnar hätte also trotz seiner Verluste zufrieden sein können.
Doch da gab es noch Arngrim, seinen raffgierigen Nachbarn, den er an manchen Tagen öfter sah, als es ihm lieb sein konnte. Der Mann strich auffällig um Horik herum, um dessen Gunst und Anerkennung werbend.
Auf dem Kattegat hatte Ragnar darauf geachtet, seinem Widersacher immer ein Stück voraus zu sein. Nun aber musste er mitansehen, wie Arngrim vor seinen Augen um das Wohlwollen des Königs buhlte. Und da er ihn nicht öffentlich anklagen konnte, da sein Wissen lediglich von ein paar entlaufenen Unfreien stammte, hatte er gegen den Skauð nicht viel ins Feld zu führen. Da half nur noch, Horik von seinen eigenen Qualitäten zu überzeugen. Und so buhlten die beiden Jarls mehr oder weniger unauffällig um die Gunst des Königs.
Ragnar fiel dabei auf, dass Horik diese Ehrerbietung durchaus gefiel und er nutzte dessen gute Stimmung, um ihn bei einem abendlichen Umtrunk zu überreden, auf der Rückfahrt einen Umweg über Straumfjorður zu machen. Hier, so führte er ins Feld, könne sich sein Gebieter ein Bild davon machen, wie fleissig seine Gefolgsleute den Ort wiederaufgebaut hatten und er, Ragnar, bekomme so die Gelegenheit, seinen Herrn ausgiebig zu feiern.
Der Jarl sah befriedigt, wie Arngrim blass wurde, als Horik dieser Einladung zustimmte. Nun saß der Gegner wehrlos in der Falle, die Ragnar ihm damit gestellt hatte. Und der Jarl warf die Schicksalsknöchelchen erneut, indem er Arngrim mit großer Höflichkeit und unter Anrufung ihrer jahrelangen nachbarlichen Freundschaft in diese Einladung einschloss. Eine Ablehnung, ohne dass sich der Mann vor seinem König und Gebieter bloßstellte, war nicht denkbar. Also blieb Arngrim nur, den Plänen Ragnars zuzustimmen, was dieser mit einer gehörigen Portion Genugtuung aufnahm.
»Wenn das Wetter hält«, hatte Horiks Steuermann am Ende des Abends festgestellt, »könnten wir in nur zehn Tagen vor Ragnars Siedlung sein.« Der König hatte zufrieden genickt und sein Methorn erhoben. »Auf gutes Wetter!«, brachte er einen ersten Trickspruch aus. »Mögen uns die Götter auch weiterhin gewogen sein.«
Sie tranken zufrieden und auch Ragnar sprach dem kühlen Trunk zu. Lang wurde der Abend und erst, als schon die beginnende Dämmerung einen neuen Tag ankündigte, krochen die Männer unter die Felle.
Vielleicht war es die Sorge um das Kommende, vielleicht auch der Verdacht, dass sich ihm keine zweite solche Gelegenheit bieten würde, den sonst so wachsamen Jarl aus dem Weg zu räumen … Arngrim jedenfalls hatte dem Met weniger intensiv zugesprochen als die anderen und sich gegen seine Gewohnheit früh zurückgezogen. Er habe ein hübsches junges Weib unter den Gefangenen entdeckt, das ihm schon den ganzen Tag im Kopf herumginge, ließ er die Feiernden wissen.
Zotige Sprüche hagelten gutmütig auf ihn ein, als er sich mit diesen Worten vom Feuer entfernte. Ein vorlauter Krieger wünschte dem Davongehenden gar ein standhaftes Gemächt, was mit lautem Gelächter und einem erneuten Umtrunk beantwortet wurde.
Doch Arngrim hatte ganz anderes im Sinn als eine weiche Sklavin für sein Lager. Nachdem er aus dem Lichtkreis des Feuers heraus war, wandte er sich schnellen Schrittes zum Rand des Lagers. Hier wurde er schon von einer im Dunkel nur schemenhaft wahrnehmbaren Gestalt erwartet. Halblautes Flüstern deutete auf ein streitbares Gespräch oder eine zähe Verhandlung hin. Dann wechselte ein Beutel den Besitzer und die Männer gingen in verschiedene Richtungen davon.
Arngrim kam nun doch seiner Rede vor Horik nach und holte sich aus der Gruppe der Gefangenen ein junges Mädchen, dass er mit sich aufs Lager zog. Von dort ließen bald schmerz- und lusterfüllte Geräusche darauf schließen, dass Horik Gefallen an seiner Wahl fand. Die Gestalt des anderen Mannes aber verschmolz mit der Dunkelheit und verlor sich bald zwischen den irrlichternden Schatten des Lagers, als er sich still hinter einer Zeltwand auf die Lauer legte.
Langsam sank das Feuer in sich zusammen, um das sich Horiks beste Mannen versammelt hatten. Der König nahm einen letzten Schluck aus dem Methorn, dann nickte er in die Runde. »Wir brechen mit der nächsten Flut auf. Ruht euch bis dahin aus, so gut ihr könnt.« Zustimmendes Gemurmel grollte durch die Kriegerrunde und nach und nach wandten sich alle ihren Nachtlagern zu. Auch für Ragnar war unter einem ausgedienten Segel ein Lager vorbereitet worden. Der müde Jarl war froh über die weichen Felle, zwischen die er nun kriechen konnte. Der Tag war übermäßig lang gewesen.
Der Schatten hinter dem benachbarten Zelt bewegte sich langsam und vorsichtig, beinahe lautlos. Nur einem besonders aufmerksamen Beobachter wäre der sich anpirschende Mann im langen Mantel aufgefallen, der sich dank seiner Kleidung kaum von der Dunkelheit abhob. Selbst sein Haar war unter einem dunklen Tuch verborgen worden. Nur der spitze Dolch in seiner Hand gab einen Schimmer von sich, wenn das Restlicht der erlöschenden Flammen darauf fiel.
Vielleicht war es dieses kleine, sich bewegende Funkeln, das die Aufmerksamkeit von Ragnar auf sich zog und dessen Müdigkeit wie ein Stäubchen im Wind davonblies. Schon beim Weggang Arngrims war dem Jarl dessen übereiltes Verschwinden auffällig erschienen. Nie und nimmer wäre der sonst so trunkfreudige Mann aus seiner Sicht auf den Gedanken gekommen, auf einen wirklich guten Met zu verzichten. Konnte er doch die Frau, auf die er es abgesehen hatte, auch noch später auf sein Lager holen. Ragnar hatte sich selbst zur Vorsicht gemahnt und von dem herumgehenden Methorn nach Arngrims Weggang nur noch genascht. So war er zwar erschöpft aber nicht völlig trunken, als er sich zu seinem Lager begab, auch wenn er das vortäuschte.