Anna wälzte sich in ihrem Bett umher. Seit mehreren Stunden konnte sie schon nicht mehr schlafen. Als sie das erste Mal auf die Uhr gesehen hatte, war es kurz vor vier Uhr morgens. Nun war es bereits sechs Uhr.
Anna seufzte.
Irgendwas stimmte nicht! Sonst konnte sie ohne Probleme bis acht oder neun Uhr durchschlafen. Aber heute, war dies unmöglich.
Das Mädchen war hell wach! Kein Auge konnte sie mehr zumachen. Sie deckte sich auf und sprang mit einem kraftvollen Schwung von ihrem Bett auf, dann schaltete sie das Licht an und setzte sich an ihren Schreibtisch. Dort warteten schon zwei Bücher auf sie. Das eine handelte von der Geschichte der Samurai und das andere Buch war ein Ratgeber zu dem Spiel Go. Der Professor hatte es auf Annas bitten besorgen lassen. In dem Buch standen Tipps und Tricks wie man Go schnell erlernen konnte.
Anna hatte sich das Ziel gesetzt den Dämon im Go-Spiel zu schlagen. Sie wollte es unbedingt einmal schaffen!
Es kamen bereits ein paar Spielzüge aus dem Buch zum Einsatz. Der Dämon war dadurch sehr überrascht, konnte sie aber jedes Mal wieder in die Enge treiben und besiegen. Mit normalen Tricks klappte es also nicht. Sie musste seine Spielweise analysieren und Gegenstrategien entwickeln! Vielleicht konnte sie mit dieser Kombo den Dämon irgendwann besiegen. Anna nahm das Strategiebuch und schlug es dort auf, wo sie gestern aufgehört hatte zu lesen.
***
Es war kurz vor neun Uhr morgens. Theodor Eisenhart sahs gähnend in seinem Büro. Er hatte das morgendliche Frühstück bereits gerichtet. Nun musste er die Vier nur noch wecken.
Der Professor lief mit seiner Kaffeetasse in der rechten Hand zu den Zellen. Er klopfte an jede der Türen und sagte ihnen, dass das Frühstück fertig sei und sie in sein Büro kommen sollen. Die einzige, die sofort auf sein Klopfen reagierte war die Nummer zehn. Das war sehr unerwartet. Normalerweise war sie diejenige, die immer am längsten für das Aufstehen benötigte. Tom war es, der sonst immer bereits wach war und direkt mit dem Professor zurück zu seinem Büro ging. Aber heute Morgen war nichts von ihm zuhören. Dies konnte der Professor gut nachvollziehen. Der Junge musste erschöpft sein.
Eisenhart war gestern nach einer langen Besprechung mit den anderen Wissenschaftlern kurz vor Mitternacht wieder zurück zu seinem Büro gekommen. Vor seiner Tür stand Tom. Dieser schien auf ihn gewartet zu haben. Der junge Mann hatte es anscheinend gestern mehrmals bei ihm versucht, aber leider ging die Besprechung für mehrere Stunden. Er erzählte dem Professor, das sich die drei anderen sorgen um Mark machten. Tom schilderte seine Befürchtungen genaustens dem Professor. Mark schien nicht einmal mehr gewillt zu sein mit den Dreien zu sprechen. Das Gespräch zwischen Eisenhart und Tom dauerte 1,5 Stunden. Um halb zwei Uhr verabschiedete sich Tom und ging zurück zu seiner Zelle. Er musste sehr müde sein.
Der Professor klopfte sicherheitshalber noch einmal etwas fester an Toms Tür. Als er hinter der Tür ein leises grummeln vernahm ging er mit Eduard, der in der Zwischenzeit aus seinem Zimmer gekommen war, zurück in sein Büro. Fünf bis zehn Minuten später kamen Tom und Anna gemeinsam in das Büro gelaufen und setzten sich zu den Beiden an den Tisch. Es vergingen weitere fünfzehn Minuten, aber Mark kam nicht nach.
„Wo bleibt denn Mark?“, fragte der Professor. Die drei Probanden sahen sich beunruhigt an. „Tom, konntest du gestern noch mit dem Professor reden?“, fragte Eduard. Der Professor nickte. „Ja, Tom hat mich gestern Abend noch angetroffen und hat mir eure Befürchtungen mitgeteilt! Wir haben ausgemacht heute gemeinsam mit Mark darüber zu reden.“
„Vielleicht hat Mark ja zu große Angst um seine Zelle zu verlassen.“, sagte Anna. Tom und Eduard nickten zustimmend. Der Professor dachte kurz nach. Dann klatschte er in seine Hände. „Nun gut, wenn Mark nicht zu uns kommt, dann begeben wir uns gemeinsam zu ihm. Vor seiner Zelle können wir dann mit ihm reden.“ „Halten sie das für eine kluge Idee? Als wir gestern zu dritt mit ihm reden wollten war er denke ich bereits überfordert.“, entgegnete ihm Eduard. Eisenhart sah ihn nachdenklich an. „Lasst es uns zuerst gemeinsam versuchen! Vielleicht wird ihm ja bewusst, dass wir uns alle nur sorgen um ihn machen. Sollte dies nichts nützen geht ihr fürs erste wieder auf eure Zellen und ich rede mit ihm alleine!“
Zusammen gingen sie zu der Zelle von Mark. Der Professor klopfte drei Mal an die Tür. Es kam aber keine Antwort.
„Mark, was ist los? Wieso bist du nicht zum Frühstück in mein Büro gekommen?“
Keine Antwort!
Eisenhart sah die Drei an. Sie sahen sehr besorgt aus. Er klopfte erneut, mit viel mehr Kraft an die Tür. „Mark? Bist du da?“
Stille.
„Okay, was machen wir nun?“, fragte Tom. „Will er nicht mit uns reden?“, fragte Anna. „Oder ist er gar nicht da?“, meinte Eduard.
Der Professor sah sich im Gang um. Nach kurzer Zeit fiel ein Blick auf die Türklinke. Seine Hand ging ganz langsam in die Richtung der Klinke. Je näher sie kam, desto unbehaglicher wurde es Eisenhart. Was war das nur für ein schlechtes Gefühl? Ihm lief ein kalter Schauer den Rücken herunter. Seine Hand hatte nun die Türklinke erreicht. Er umfasste diese und drückte sie herunter. Die Tür war nicht verschlossen! Eisenhart öffnete sie langsam. Innen im Raum war es stockdunkel. Nur der Schein des Lichtes aus dem Gang kam leicht hinein. Der Professor konnte nur ein paar Schemen erkennen. Auf dem Bett lag etwas, aber es war zu klein um ein ausgewachsener Mann zu sein.
Wo war Mark?
Eisenhart trat in den Raum und griff nach der Schnur für das Licht.
Klick.
Es flackerte kurz, dann ging es komplett an.
Der Professor wollte sich gerade zu den anderen umdrehen, doch in seinem Augenwinkel bemerkte er, dass in der Ecke hinter der Tür, etwas kauerte. Er blieb mitten in der Drehung stehen. Seine Augen weiteten sich vor Schock. Der Mund klappte nach unten auf.
Durch den Blick des Professors alarmiert rannten Tom und Eduard in den Raum. Sie sahen zu der Ecke. Ihnen stockte der Atem. Eduard fiel auf die Knie. Tom biss sich auf die Unterlippe. Er stand mit geballten Fäusten da, seine Augen brannten vor Wut.
Zum Schluss trat Anna ganz langsam in den Raum. Sie hörte ihr Herz ganz laut schlagen. Jedes weitere Geräusch blendete sie komplett aus. Schritt für Schritt ging sie weiter, bis sie neben den Dreien stand und sich langsam zu der Ecke drehte.
Eisenhart wollte sie aufhalten. Diesen Anblick würde sie nicht standhalten! Doch es war längst zu spät! Anna sah in der Ecke eine Gestalt kauern. Es war Mark! Er sahs in einer riesigen Blutlache.
Mark war tot!
Neben seinem Leichnam lag eine blutige Rasierklinge. Er musste sich die Pulsadern aufgeschnitten haben. Der Mann hatte seine Augen geschlossen. Er lächelte erleichtert. An der Wand neben ihm stand in Blut geschrieben:
„JETZT KANN ICH ENDLICH IN RUHE SCHLAFEN!“
Mark musste diesen Satz kurz vor seinem Tod geschrieben haben. Anna war geschockt. Sie blieb komischer weise aber völlig gefasst und ruhig. Sie sah Mark nun etwas genauer an. Wäre nicht überall auf dem Boden Blut zusehen gewesen, könnte man glatt denken, dass Mark nur schlafen würde. Das Bild sah verstörender weise sehr friedlich aus. Vielleicht lag es genau daran, dass das junge Mädchen so gefasst bleiben konnte.
Anna drehte sich zu dem Professor um und sah ihm genau in die geschockten Augen. „Ich hole einen der Ärzte aus der Krankenstation. Dieser kann uns sicher sagen, wann Mark gestorben !“ Dann ging sie aus dem Raum und in Richtung der Krankenstation davon.
Eisenhart sah Anna fassungslos nach. Diese Reaktion hatte er nun wirklich nicht erwartet. Anna blieb ihm viel zu gefasst. Er hatte eher erwartet, dass sie laut aufschreien oder in Ohnmacht fallen würde. Aber es geschah nichts dergleichen!
Der Professor sah wieder zu Marks Leichnam. Sein Gesicht sah so friedlich aus. Als würde er nur dasitzen und in Ruhe schlafen.
„Wir hätten gestern hartnäckiger sein sollen. Ich hätte dich nicht aufhalten dürfen Tom. Gemeinsam hätten wir die Tür aufreißen und ihn aus der Zelle zerren sollen. Dann hätten wir anständig mit ihm geredet und alles wäre gut gegangen“, sagte Eduard mit zitternder Stimme.
Der junge Mann kniete immer noch auf dem Boden, sein Oberkörper war nach vorne gebeugt. Er stützte sich mit seinen Händen am Boden. Seine rechte Hand ballte sich zur Faust und er hämmerte drei Mal auf den Betonboden ein. „Verdammt!“
Tom erwiderte nichts er stand immer noch mit Wut verzerrtem Gesicht da. „Ihr dürft euch für den Tod von Mark keine Schuld geben! Wenn jemand Schuld ist an dieser Situation, dann bin das ich! Ich hätte viel eher die seelische Verfassung von Mark erkennen sollen und geeignete Maßnahmen einleiten müssen!“
Eisenhart sah traurig zu Boden.
Anna kam nach kurzer Zeit mit einem Arzt im Schlepptau wieder zur Zelle zurück.
Der Arzt sah das Bild von Marks Tod geschockt an. So einen Anblick hatte er anscheinend noch nie gesehen. Der Arzt erklärte Mark für tot.
„Doktor, können Sie uns sagen, wann der Zeitpunkt des Todes eingetreten ist?“, fragte Eisenhart.
Anna musste bei diesem Satz an einen Krimi denken. Ein schlauer Detektiv mit seinen Gefährten klärt einen abscheulichen Mordfall auf. Leider war dies kein Film und spaßig war es noch weniger. Mark war tot. Er würde nie wieder mit ihnen reden oder lachen können. Das Mädchen wurde traurig. Wie konnte sie nur bei so einer Situation so gefasst bleiben? Sie war über sich selbst so geschockt. Als wären alle in dieser Zelle nur Fremde, die nichts mit ihr zu tun hätten. Im Grunde genommen kannten sie sich erst seit drei Wochen, aber die Gefangenschaft hatte sie verbunden. Sie hätten Mark nie kennengelernt, wenn die Entführungen nicht gewesen wären.
Der Arzt beugte sich nun schon seit zehn Minuten über den Leichnam und untersuchte diesen. Er richtete sich wieder auf und ging zu Eisenhart. „Ich kann den Zeitpunkt nicht ganz genau bestimmen, aber ich bin mir sehr sicher, dass der Tod zwischen fünf und sechs Uhr morgens eintrat.“ Der Professor nickt. „Vielen Dank, dass sie uns auf die Schnelle eine Antwort geben konnten.“ Der Doktor nickte. „Ich werde jemanden rufen lassen, der sich um den Leichnam kümmert.“ Dann drehte sich der Arzt um und ging schnellen Schrittes davon.
Als Anna den Todeszeitpunkt hört, musste sie einen großen Kloß im Hals herunterschlucken. Um diese Uhrzeit war sie bereits wach und konnte nicht mehr schlafen. Wenn sie nur etwas geahnt hätte, dann wäre sie ihm zur Hilfe geeilt. Sie hätte auf ihn eingeredet bis er sich wieder umentschieden hätte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
„Bitte haltet Mark mit einem besseren Bild in euren Erinnerungen fest. Verabschiedet euch noch von ihm, dann verlassen wir die Zelle. Ich werde die Tür hinter uns abschließen.“
Der Professor sah fertig aus. Sein Gesicht war blass und er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Die Vier verharrten schweigend noch kurz im Raum, um sich zu verabschieden. Danach verließen sie die Zelle und der Professor schloss ab.
Nachher würde das Aufräumkommando kommen, um den gesamten Raum zu säubern und alle Gegenstände einschließlich des Leichnams zu entsorgen.
Eisenhart seufzte. Er drehte sich zu den drei verbliebenen Probanden um. Sie sahen alle nicht sehr gut aus. Der Schock schien tief in ihren Seelen zu sitzen. „Ich glaube wir lassen die Tests für heute und morgen ausfallen. Ihr, nein, wir müssen mit dem Schock erst einmal fertig werden. Bitte sprecht mit mir oder mit den Ärzten der Krankenstation, wenn euch etwas auf dem Herzen liegt. Meine Tür steht immer offen, falls ihr jemanden zum Reden braucht! Ich möchte nicht, dass es euch wie Mark ergeht! Lasst eure Seele nicht von der Dunkelheit auffressen! Ruht euch am besten die zwei freien Tage aus. Redet auch miteinander wenn ihr nicht mit mir reden wollt. Aber seit euch sicher, ich bin für euch da!“
Die Drei nickten. Sie gingen ohne ein weiteres Wort zurück in ihre Zellen.
Eisenhart seufzte erneut. Er musste alle außergewöhnliche Geschehnisse dem Vorstandsvorsitzenden melden. Dafür hatte er nun gar keine Kopf! Er fuhr sich mit der Hand durch seine Haare.
Was für ein schrecklicher Morgen!