Harry fühlte sich als sei ein dunkler Schatten von ihm abgefallen als er die Augen öffnete. Das Licht der Morgensonne fiel durch das Fenster und erst jetzt wurde ihm gewahr, dass er sich im Krankenflügel befand. Er drehte den Kopf und entdeckte den roten Schopf von Ginny Weasley im Bett neben sich. Mühsam rappelte Harry sich auf. Er rieb sich den Hals.
Was um alles in der Welt war eigentlich passiert? Er konnte sich an absolut nichts erinnern. Hatte er etwa wieder einen Blackout gehabt?
„He, du bist wach!“, hörte er die Stimme von Draco neben sich.
Harry blickte in seine Richtung und entdeckte seinen Kumpel im anderen Bett neben sich.
„Was ist geschehen?“, wollte Harry wissen.
„Das glaubst du mir nie!“, antwortete Draco. „Das Monster hat dich und Ginny Weasley verschleppt. Aber ich und Onkel Sev haben es dem Biest gezeigt!“
Harry sah wie Draco die Brust schwoll. Ausführlich erzählte sein Freund ihm wie sie die Kammer des Schreckens gefunden hatten, mit dem Basilisken kämpfen und sie dann aus der einstürzenden Höhle mit Hilfe des Phönix flohen.
„Also war es Ginny, die für alles verantwortlich war?“, fragte Harry.
„Wohl eher der Geist in dem Buch. Wenn ich Severus richtig verstanden habe, dann war es ein Teil der Seele von Tom Riddle.“
Draco gefiel sich, in den Tagen nach ihrer Entlassung aus dem Krankenflügel, in der Rolle des edlen Retters und er erzählte wirklich jedem davon. Egal, ob er es hören wollte oder nicht.
„Oh Draco, wie mutig von dir!“, sagte ein Mädchen namens Pansy und gab ihm einen dicken Kuss auf die Wange.
Harry konnte sehen wie Draco rot bis zum Haaransatz wurde. Ihm selbst war jedoch gar nicht gut zumute. Niemand wollte ihm so recht erzählen, was mit ihm passiert war. An einem Nachmittag jedoch saß Harry im Schneidersitz auf der Couch bei Severus und sah gedankenverloren in die Flammen.
„Glaubst du, dass mir das wieder passieren wird?“, fragte Harry.
„Das Buch ist nicht mehr. Ebenso wenig wie der Geist darin.“, antwortete Severus.
„Das meinte ich nicht.“, sagte Harry. „Was ist wenn Voldemorts Geist es wieder versucht über mich die Kontrolle zu erlangen. Letztes Jahr hat er es geschafft und dieses Jahr konnte er mich sogar aus der Ferne kontrollieren.“
Severus schwieg für einen Augenblick. Dann stemmte er sich mit den Ellenbogen auf die Knie und strich sich über das Kinn.
„Ich weiß was du meinst.“, entgegnete er schließlich. „Es gibt vielleicht eine Methode wie du dich vor solchen Angriffen schützen kannst, aber Dumbledore würde mir den Kopf abreißen, wenn ich es dir beibringen würde.“
„Warum?“, wollte Harry wissen. „Wenn es mich schützt ...“
„Es ist hohe Magie und noch dazu nicht besonders gesellschaftstauglich.“, antwortete Severus. „Aber du hast recht, zwischen dir und Voldemort besteht eine Verbindung und er wird zweifellos immer wieder versuchen diese auszunutzen.“
„Kannst du es mir beibringen?“, fragte Harry.
„Darüber muss ich nachdenken.“, sagte Severus.
Für Harry erschloss sich nicht, was es da lange nachzudenken gab. Er fürchtete sich im Moment wohl vor nichts so sehr wie, dass Voldemort ihn erneut gefügig machen konnte. Und wenn er Ginny, die diese Verbindung nicht besaß, offenbar so weit bringen konnte, dass sie die Kammer des Schreckens öffnete und das Monster auf die Schüler los ließ, was sollte dann erst mit ihm passieren? Wie sollte Harry auch nur ein Auge nachts zu tun können?
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„Sie wollen was?“, fragte Albus Dumbledore völlig von der Rolle.
„Es scheint mir die einzige Möglichkeit dafür zu sorgen, dass Harry wenigstens in seinem Kopf sicher vor Voldemort ist.“, antwortete Severus. „Wir haben alle gesehen, was dieses und letztes Jahr geschehen ist. Wie viele solcher Angriffe wird es in Zukunft wohl noch geben?“
„Aber Okklumentik … es braucht Jahre um darin zur Meisterschaft zu kommen. Und Harry ist noch ein Kind.“, entgegnete der Schulleiter. „Davon abgesehen ist diese Schule der Magie nicht gerade das, was man allgemeintauglich nennen könnte.“
„Ich wusste, dass sie das sagen würden.“, erwiderte Severus. „Es ist aber besser als den Jungen den psychischen Angriffen meines alten Meisters auszusetzen. Ich unterrichte ihn, mit Ihrer Zustimmung oder ohne.“
„In meiner jetzigen Lage wäre es nicht gut, wenn derartiges nach außen dringen würde.“, sagte Albus.
„Gut, dann findet der Unterricht außerhalb von Hogwarts statt. Ist ja nicht so als ob ich keine Alternativen hätte.“, antwortete Severus. „Machen Sie sich keine Sorgen, Albus. Es wird nicht auf sie zurück fallen.“
„Na schön, auf ihre Verantwortung, Severus.“, entgegnete Albus schließlich.
Severus war froh, dass der Schulleiter einwilligte. Tatsächlich war die Kunst der Okklumentik nicht von heute auf morgen zu erlernen. Es brauchte langes, geistiges Training. Je eher sie also anfingen desto besser.
Am Ende des Schuljahres holte Severus Harry vom Bahnhof in Hogsmead ab. Er hatte vorher einen Brief an die Dursleys geschickt, dass Harry den Großteil der Ferien bei ihm verbringen würde. Sicher wäre ihnen das nur recht.
Severus nahm die Hand des Jungen und gemeinsam apparierten sie zu seinem Haus. Es war ein altes Landhaus, weit abgelegen am Rand eines Waldes. Er verbrachte nur wenige Wochen im Jahr hier, da er die meiste Zeit in Hogwarts wohnte, doch es war das, was einem Zuhause noch am nächsten kam.
„Hier wohnst du?“, fragte Harry.
„Könnte man wohl so sagen.“, antwortete Severus.
Er ging zur Haustür und öffnete sie mit einem Wink des Zauberstabes. Drinnen war es dunkel, doch er erhellte den Flur mit einer Handbewegung. Die alten Gaslampen flackerten auf und offenbarten das alte Parkett und die holzgetäfelten Wände. Es roch nach altem Holz und Pflanzen. Severus zeigte Harry das Haus. Unten befanden sich die Küche, das Bad, ein Wohnzimmer mit Kamin und das private Laboratorium. Eine enge Treppe führte in das obere Stockwerk, wo Severus' Arbeitszimmer und sein Schlafzimmer lagen. Am Ende des Flurs hatte er ein weiteres Zimmer für Harry vorbereitet. Es war ein altes Gästezimmer. Nicht, dass Severus hier jemals Gäste empfing. Er hatte es lange als Lager genutzt. Jetzt jedoch hatte er es wieder etwas wohnlich hergerichtet.
„Du kannst hier deine Sachen verstauen.“, sagte Severus.
Während Harry sich einrichtete ging er nach unten in das Wohnzimmer. Mit einem Schlenker seines Zauberstabs fachte er den Kamin an. Auch wenn jetzt noch sommerliche Temperaturen herrschten wurde es schnell kalt. Und Severus war schon immer eine Frostbeule.
Das Wohnzimmer war der größte Raum im Haus. Es gab Reihen von vollgestopften Bücherregalen, zwei bequeme Sessel und eine Couch. Auf dem Boden lag ein alter Perserteppich. Severus stand da und sah aus dem großen Fenster. Er mochte die Stille dieses Ortes. Ganz anders als im Schloss, wo ihn ständig jemand auf die Nerven ging.
Nach einer Weile hörte er wie Harry herein kam. Der Junge sah sich unsicher um.
„Also dann.“ Severus zog sich sein Jackett aus und hängte es über die Lehne des Sessels. Er setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und bedeutete Harry mit einer Handbewegung sich ihm gegenüber zu setzen.
„Die hohe und mysteriöse Kunst der Okklumentik.“, sagte Severus ausschweifend. „Das ist die Fähigkeit seinen Geist vor Angriffen von außen zu schützen und ihn völlig zu verschließen. Aber es ist eine schwierige, magische Kunst. Manch einer behauptet auch sie sei Schwarze Magie.“
„Und ist sie das?“, fragte Harry.
„Es gibt in der Welt kein schwarz und weiß. Ebenso ist es bei der Magie. Es sind viele Facetten von grau, wenn man denn schon mit Farben daher kommt. Nicht die magische Kunst ist gut oder böse, sondern derjenige, der sie anwendet. Wir Menschen sind es, die sie benutzen und ihr ihr moralisches Gewicht geben. Vergiss das niemals.“, antwortete Severus.
„Und wie verschließe ich meinen Geist?“, wollte Harry wissen.
„Noch gar nicht. Das wichtigste ist, dass du lernst deine Gedanken und Gefühle zu kontrollieren. Dein Kopf muss völlig frei sein von Ablenkungen und Emotionen.“, erklärte Severus. „Wenn ich dir jetzt sage du sollst nicht an Sahnetörtchen denken, woran denkst du dann?“
„An Sahnetörtchen?“, erwiderte Harry unsicher.
„Genau. Die erste Stufe, die du lernen musst ist daher deinen Geist völlig frei schweben zu lassen. Egal was geschieht.“
„Und wie schaffe ich das?“, fragte Harry.
„Durch Meditation. Das ist vermutlich der schwerste Teil. Also, versuche dich zu entspannen. Lass deine Muskeln locker. Schließe die Augen.“
Harry saß da und schloss die Augen.
„Gut, höre auf meine Stimme.“, sagte Severus leise. „Lass dich fallen. Lass dich treiben. Deine Gedanken sind ein Fluss. Aber du ertrinkst nicht darin. Du hast die Kontrolle. Über das Wasser. Über die Richtung des Stroms. Du bist der Strom.“
Severus streckte die Hand aus. Mit den Fingern berührte er Harrys Stirn.
„Fühlst du den Strom?“
„Ja.“, antwortete Harry.
„Dann lass ihn alles davontragen. Sorgen. Nöte. Erinnerungen.“ Severus zog seine Hand zurück. „Atme tief ein. Und wieder aus. Öffne die Augen.“
Harry blinzelte ihn an.
„Das war … eigenartig.“, entgegnete Harry und rieb sich die Augen.
„Beim ersten Mal ist es immer seltsam. Wir üben das jeden Tag bis ich denke, dass du bereit bist für mehr.“, erwiderte Severus.
Jeden Abend saßen sie in den kommenden Wochen beieinander und Harry versuchte unter Severus' ruhiger Stimme seinen Geist zu entleeren. Schneller als er erwartete konnte der Junge die einzelnen Schritte dieser Übung auswendig. Sie verlegten sich darauf, dass er ab jetzt jeden Abend selbst üben konnte.
Die Grundlage der Okklumentik war die Meditation und die Herrschaft über die eigenen Gefühle. Später würde er lernen müssen diesen Zustand der Leere in wenigen Sekunden zu erreichen, doch bis dahin war es noch ein langer Weg.
Tagsüber arbeitete Severus im Labor. Harry durfte ihm beim Vorbereiten der Zutaten helfen, auch wenn er damit gegen seine eigenen Prinzipien verstieß, denn im Grunde hatte er es noch niemanden erlaubt das Labor zu betreten. Harry war im Unterricht nicht so schlecht wie manch anderer, aber eben auch nicht wirklich gut. Severus sah das hier eher als eine Art Nachhilfe.
Er zeigte dem Jungen einige Kniffe, die man in keinem Buch fand. Etwa dass das zerdrücken von safthaltigen Pflanzen mehr brachte als sie zu zerschneiden. Oder das es bestimmte Tränke kräftiger und haltbarer machte, wenn man nach der eigentlichen Fertigstellung noch ein paar Kräuter hinzu gab. Außerdem schmeckten sie dann nur noch halb so scheußlich.
In seinem Garten, der hinter dem Haus lag brachte er Harry bei die Unterschiede zwischen den Kräutern zu erkennen und wie man sie am besten konservierte. Etwas, dass nach Severus' Meinung im Pflanzenkundeunterricht immer zu kurz kam, weil man sich rein auf magische Gewächse konzentrierte.
Abends saßen sie dann zusammen. Severus saß meist in irgendein Buch vertieft im Sessel und Harry lümmelte auf der Couch herum.
„Sag mal, Severus, warum lebst du eigentlich so allein?“, fragte der Junge auf einmal.
Severus sah auf. Mit dieser Frage hatte er nun wirklich nicht gerechnet.
„Ich mag die Abgeschiedenheit.“, antwortete er schließlich.
„Nein, ich meine, warum hast du nicht noch jemanden?“
„Ich .. also ...“ Severus stockte und legte das Buch beiseite. „Wie kommst du darauf?“
Harry zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß nicht. Ist mir grad so durch den Kopf gegangen.“
„Ich war nie gut mit Frauen.“, entgegnete Severus.
„Mit meiner Mutter aber offenbar schon.“, sagte Harry.
„Das war etwas anderes.“, erwiderte Severus.
„Warum?“
„Wieso interessiert dich das?“, wollte Severus von ihm wissen.
„Ich dachte nur es gibt einen bestimmten Grund warum du so lebst.“, antwortete Harry.
Severus atmete tief. Er stand auf und setzte sich zu dem Jungen hinüber.
„Die Wahrheit ist wohl, dass ich nach dem Tod deiner Mutter nicht mehr der Selbe war.“
„Weil Sie sie geliebt haben?“, fragte Harry.
„Hmm.“, machte Severus, der wusste, dass er die Antwort auf diese Frage dem Jungen noch irgendwie schuldig war.
„Heißt das Ja?“
„Vielleicht.“, drückte sich Severus um eine klare Rückmeldung. Sie hatten diese Unterhaltung vor knapp einem anderthalben Jahr schon einmal geführt. Damals war es für Severus jedoch zu schmerzlich gewesen darüber zu reden.
Harry atmete tief und wollte sich gerade erheben als Severus ihn jedoch am Arm festhielt.
„Ich habe sie geliebt.“, sagte er. Severus rang sich zu dieser Antwort durch. „Es gab nie jemand anderen. Ihr Tod hat mich mehr verletzt als es irgendetwas sonst hätte tun können.“
Severus ließ Harrys Arm los. Der Junge blickte ihn an. Das erste Mal konnte er den Ausdruck in seinen Augen nicht deuten.
„Ich wollte nie wieder eine Frau, um diesen Schmerz nicht noch einmal durchmachen zu müssen. Du begreifst es vielleicht noch nicht. Wenn du älter bist, dann wirst du es verstehen.“, entgegnete Severus und sah dabei zu Boden.
Harry nickte nur. Er ging aus dem Raum und Severus hörte wie er die Treppe nach oben stiefelte. Er war dennoch froh es gesagt zu haben. Endlich war diese Last von ihm genommen.
Fortsetzung folgt in
SLYTHERIN! - Teil 3: Von Wölfen und Raben