Am nächsten Tag fühlte Harry sich hundeelend. Zum einen weil er kaum ein Auge zugetan hatte und zum anderen weil der Dementor ihn gedanklich noch immer verfolgte. Vor den anderen wollte er sich nichts anmerken lassen, aber er war sich ziemlich sicher, dass sie es trotzdem taten. Seine Laune besserte sich ein wenig als sie am Morgen Pflege magischer Geschöpfe hatten. Anders als Draco hatte Harry keine Vorurteile gegenüber Hagrid. Ihm war es gleich, dass er ein Halbriese war. Hagrid war es, der ihn gesagt hatte, dass er ein Zauberer war und er fortan nicht mehr bei den Dursleys leben musste. Das allein war Grund ihn zu mögen.
Hagrid führte die Klasse etwas Abseits seiner Hütte an den Rand des Waldes. Dort begegnete ihnen ein wundersames Geschöpf. Ein Hippongreif. Eine Mischung aus Adler und Pferd. Majestätisch stand das Wesen dort. Die Schüler sahen ihn teils mit Furcht und teils mit Bewunderung an.
„Das ist Seidenschnabel!“, stellte Hagrid den Hippongreif vor. „Hippongreife müsst ihr wissen sind äußerst stolze Kreaturen. Wenn ihr einen Hippongreif beleidigt ist es womöglich das Letzte, was ihr tut. Also, wer tritt vor und begrüßt ihn mal?“
Keiner trat vor.
„Ach kommt schon, Leute, er beißt nicht. Zumindest nicht, wenn ihr tut, was ich sage.“, bemerkte Hagrid.
„Ha!“, machte Draco neben Harry. „Ich wette das dumme Vieh krieg ich ohne Probleme in den Griff!“
Zuerst dachte Harry Draco machte nur wieder einen seiner großspurigen Sprüche, doch dann trat er tatsächlich vor.
„Mister Malfoy, gut, schön.“, sagte Hagrid. „Du machst folgendes. Du trittst auf ihn zu und verbeugst dich. Dabei musst du ihm aber immer in die Augen sehen und darfst dich erst erheben, wenn er es auch tut.“
„Und wenn er sich nicht verbeugt?“, fragte Draco.
„Dazu kommen wir, wenn es so weit ist.“
Draco verdrehte genervt die Augen, dann machte er einen Schritt auf Seidenschnabel zu und verbeugte sich. Er sah dem Hippongreif genau in die Augen. Kein Blinzeln. Eine schiere Ewigkeit stand er so da. Hagrid neben ihm wurde schon nervös, doch dann verbeugte sich Seidenschnabel vor ihm. Hagrid klatschte euphorisch in die Hände.
„Gut gemacht! Wirklich sehr gut gemacht!“, freute sich der Halbriese mit strahlendem Gesicht. „Du kannst jetzt auf ihm reiten, wenn du willst.“
„Was?“, machte Draco überrascht. Ehe er jedoch ein Wort einwenden konnte hatte Hagrid ihn bereits gepackt und auf den Rücken des Tieres gesetzt.
„Halt dich gut fest und reiß ihm keine Feder aus!“ Ohne Vorwarnung klatschte Hagrid Seidenschnabel auf den Hintern und der galoppierte los, breitete seine Flügel aus und schwang sich in die Lüfte. Harry konnte sehen wie sein Freund sich an den Hals klammerte und die Augen zu kniff. Harry musste unwillkürlich auflachen. Draco konnte gut mit Besen umgehen, doch schon auf dem Anwesen seiner Eltern mied er die Rücken der Pferde. Jetzt auf einem zu sitzen, dass auch noch fliegen konnte … er wollte wirklich nicht in Dracos Haut stecken!
Sie beobachteten den Himmel und sahen wie der Hippongreif eine große Runde ums Schloss flog. Hagrid steckte zwei Finger in den Mund und Pfiff laut, woraufhin das Tier mit Draco im Gepäck auf den Boden zurückkehrte. Als Harrys Freund vom Rücken des Hippongreifes rutschte hatte er wacklige Knie.
„Du hättest dein Gesicht sehen sollen!“, lachte Harry.
„Das war der reine Irrsinn!“, meinte Draco und musste nun selbst lachen. „Aber nochmal mach ich das ganz bestimmt nicht! Dann lieber ein Besen!“
Die weitere Stunde durfte noch andere Schüler auf Seidenschnabel reiten. Harry überlegte, ob er es auch wagen sollte, aber eigentlich war ihm der Boden unter seinen Füßen dann doch lieber. Anders als Draco hatte er ja noch nicht einmal auf einem echten Pferd gesessen. Da flößte Harry das Geschöpf vor ihm dann doch zu viel Respekt ein.
Die ganze Klasse hatte bis zum Nachmittag kein anderes Thema als die tolle Unterrichtsstunde bei Hagrid. Harry freute es, dass es Hagrid gelungen war die Schüler zu begeistern. Selbst Draco hielt den Mund wegen seiner Riesenherkunft.
Am Nachmittag hatten sie dann ihre erste Stunde bei Professor Lupin und auch dieser Unterricht war völlig anders als Harry erwartete. Ihr neuer Lehrer für Verteidigung gegen die Dunklen Künste brachte sie in einen Raum mit einem großen Schrank in der Mitte. Dieser rumpelte hin und her als würde sich im Inneren jemand prügeln.
„Wer kann mir sagen, was da drin ist?“, fragte Lupin ohne Umschweife.
Jemand meldete sich.
„Ja?“, fragte Lupin.
„Ein Irrwicht ist da drin.“
„Sehr richtig. Und wer kann mir sagen, was ein Irrwicht ist?“, sagte Lupin in die Runde.
Eine andere Hand ging nach oben.
„Ein Irrwicht verwandelt sich immer in das, was einem am meisten Angst einflößt.“
„Ganz genau!“, bestätigte Lupin. „An sich ist ein Irrwicht nichts gefährliches, aber er kann einem ganz schön auf die Nerven schlagen und wird daher oft als äußerst furchteinflößend wahrgenommen. Gegen diesen kleinen Plagegeist gibt es jedoch einen einfachen, kleinen Spruch. Und den werden wir erst einmal üben. Sprecht mir bitte nach: Riddikulus!“
„Riedikulus!“
„Ridikulus!“
„Riddikkulus!“
„Denkt daran, den vorderen Teil schnell und den hinteren langsam auszusprechen!“, sagte Lupin und sie versuchten es erneut.
„Riddikulus!“
„Richtig! Genau so!“, entgegnete Lupin erfreut als es endlich alle richtig sagten. „Als nächsten Schritt, denkt an eure größte Angst und dann macht ihr folgendes: Ihr macht sie lächerlich! Irrwichte wollen euch Angst einjagen und sie hassen nichts mehr als wenn ihr lauthals über sie lachen könnt! Also gut, ein Beispiel … Neville kommst du bitte nach vorn.“
Harry sah zu dem schüchternen Gryffindor mit den schwarzen Haaren. Es schien ihm schon große Angst einzujagen überhaupt erst einmal auf Lupin zu zugehen. Sie alle kannten ihn als die wandelnde Katastrophe im Zaubertrankunterricht und Severus hatte sich mehr als einmal ihm gegenüber heißer geschrien, weil er seinen Kessel regelmäßig in eine tickende Zeitbombe verwandelte.
„Also, Neville, was ist deine größte Angst?“, fragte Lupin in einem Plauderton als würde er übers Wetter reden.
„Prffsor Snpe.“, nuschelte Neville.
„Wie bitte?“, fragte Lupin.
„Professor Snape.“, sagte Neville laut und viele Schüler lachten.
„Natürlich.“, entgegnete Lupin. „Und ich habe gehört du lebst bei deiner Großmutter.“
„Aber der Irrwicht soll auch nicht so aussehen wie sie!“, rief Neville, den nun offenbar Panik ergriff.
„Nein, nein, das wird er nicht.“, versicherte Lupin ihm. „Stell dir ihre Kleider vor. Nur ihre Kleider und dann machst du folgendes ...“ Leise und dennoch gut hörbar gab Lupin seine Anweisung: „Stell dir Professor Snape in den Kleidern deiner Großmutter vor.“
Nevilles Augen weiteten sich als wäre die bloße Vorstellung der blanke Horror.
„Schaffst du das?“, fragte Lupin sicherheitshalber.
Neville nickte, obwohl er nicht so aussah als würde er die Begegnung mit dem Irrwicht für überlebenswürdig halten. Lupin klopfte ihm noch einmal aufmunternd auf die Schulter, dann hob er seinen Zauberstab und entriegelte die Tür des Schranks. Einen Augenblick geschah gar nichts, dann jedoch entstieg dem Inneren des Schranks ein überraschend lebensechter Severus Snape. Neville schien für eine Sekunde die Augen zusammen zu kneifen, dann rief er laut: „Riddikulus!“
Der Irrwicht taumelte einen Schritt zurück und schon stand er da in einem grünen Kleid mit einem großen Hexenhut auf dem ein Geier thronte. Für Harry war es äußerst merkwürdig die Verwunderung auf Severus' Gesicht zu sehen. Neville lachte laut los und auch einige der anderen Schüler konnten sich ein schallendes Lachen nicht verkneifen. Harry musste zugeben, dass es auf skurrile Art witzig war, dennoch verzog er nur müde das Gesicht.
„Wunderbar!“, sagte Lupin freudig. „Also gut, stellt euch in einer Reihe auf!“
In einer Reihe kamen sie einer nach dem anderen daran gegen ihre größte Furcht anzutreten. Harry war mulmig zumute. Zuerst dachte er an Voldemort, doch dann drängte sich wieder diese Zugfahrt in sein Bewusstsein. Wie um alles in der Welt sollte er einen Dementor lächerlich erscheinen lassen? Das schien ihm ähnlich unmöglich wie es Neville erschienen sein musste Severus in etwas witziges zu verwandeln. Bevor er jedoch diesen Gedanken zu ende denken konnte kam Draco dran, der genau vor ihm stand. Harry hatte keine Ahnung, was sein Freund fürchtete und umso überraschter war er als es ausgerechnet sein Vater war in den sich der Irrwicht verwandelte. Draco wich zurück.
„Zauberstab hoch, Draco! Los!“, rief Lupin, doch Draco war unfähig sich zu rühren. Harry bemerkte wie er nach Luft schnappte und dann von einem Augenblick auf den anderen rannte Draco davon.
„Mister Malfoy!“, rief Lupin ihm hinterher, doch Draco war schon längst über alle Berge.
Der Irrwicht-Lucius nahm Notiz von Harry. Noch bevor er sich wirklich darauf vorbereiten konnte erschien eine große, schwarze Kapuzengestalt. Harry spürte die durchdringende Kälte in seinen Gliedern und er war unfähig zu reagieren. Zum Glück nahm ihm Lupin die Entscheidung ab. Er machte einen Satz vor den Irrwicht und dieser verwandelte sich abrupt in eine große, gelbe Scheibe.
„Riddikulus!“, sagte Lupin und das gelbe Etwas verwandelte sich in einen Luftballon, den er zischend zurück in den Schrank trieb.
„Entschuldigt bitte diesen Zwischenfall.“, erwiderte Lupin der Klasse. „Aber man soll bekanntlich aufhören, wenn es am Schönsten ist. Der Unterricht ist beendet.“
Während die anderen Schüler gingen stand Harry noch immer wie versteinert da und starrte den Schrank an. Er spürte wie Lupin ihm die Hand auf die Schulter legte.
„Alles in Ordnung?“, fragte er und Harry erwachte aus seiner Starre.
„Ich, also … ähm ...“
„Komm einen Augenblick in mein Büro.“, sagte Lupin.
Harry nickte und folgte ihm. Lupins Büro sah anders aus als das anderer Lehrer. Es wirkte sonderbar gemütlich mit einem prall gefüllten Bücherregal und den Sesseln vor dem Kamin. Über diesem hing ein Teekessel.
„Setz dich doch.“, meinte Lupin und wies auf einen der Sessel.
Sein Lehrer beschwor zwei Teetassen auf dem Tischchen zwischen ihnen.
„Was willst du trinken?“, fragte Lupin freundlich.
„Was?“, erwiderte Harry verdattert.
„Pfefferminz. Hagebutte. Himbeer-Erdbeer. Schoko-Zimt.“
Harry brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass er offenbar Teesorten aufzählte.
„Ähm, Pfefferminz.“, antwortete er. Harry wusste nicht, was das hier werden sollte.
„Also dann ...“, meinte Lupin und sogleich richtete er den Zauberstab auf die Teekanne, die ihnen daraufhin ihren Pfefferminztee eingoss. „Nur damit kein falscher Eindruck entsteht, ich habe dich aufgehalten, weil ich nicht wollte, dass ein lebensechter Lord Voldemort im Zimmer steht.“
Harry stutzte erneut. Lupin schien keinerlei Problem damit zu haben Voldemorts Namen voll auszusprechen.
„Ich habe erst an Voldemort gedacht, doch dann kam mir wieder dieser Dementor in den Sinn.“, entgegnete Harry.
„Ja, Dementoren sind bösartige Kreaturen. Sie nähren sich von jedem noch so kleinem bisschen positiver Energie in uns.“, erklärte Lupin und nippte an seinem Tee.
„Ich hätte nicht gewusst wie ich ihm begegnen soll.“, gab Harry zu.
„Da warst du ja nicht der Einzige. Denk an deinen Freund Mister Malfoy. Weglaufen ist natürlich eine Option, wenn man einem Irrwicht nichts entgegensetzen kann.“
Harry antwortete nichts darauf. Das Draco seinen Vater gesehen hatte und nun jeder wusste, dass er riesige Angst vor ihm hatte, das würde er sicherlich nicht so einfach auf sich sitzen lassen.
„Es ist traurig, wenn ein Kind derartige Furcht vor seinen eigenen Eltern hat.“, bemerkte Lupin auf einmal. „Das ist wesentlich schlimmer als ein Dementor, möchte ich meinen.“
„Dann hätten sie ihn vielleicht aufhalten sollen und nicht mich?“, fragte Harry.
„Vielleicht, aber ich habe die Wahrheit gesagt: Ich dachte, dein Irrwicht würde die Gestalt Voldemorts annehmen. Den hätte nicht einmal ich lächerlich aussehen lassen können.“
„Und ein Dementor?“, erwiderte Harry.
„Schwierig, aber machbar.“, sagte Lupin und lächelte ihn an.
Harry nickte und nippte an seinem Tee.
„Danke.“, sagte er nach einigen Augenblicken. „Für den Tee und alles.“
„Keine Ursache.“, erwiderte Lupin.
Schweigend trank Harry seinen Tee ehe er sich verabschiedete und ging. Als er im Gemeinschaftsraum der Slytherins ankam fand er Draco auf dem Sofa vor dem Kamin vor. Schweigend saß er da, mit einem Gesicht, dass Harry verriet wie sehr ihn die letzte Stunde beschäftigte.
„Draco.“, sagte Harry ruhig. Sein Freund reagierte jedoch nicht, sondern sah nur in die Flammen. Er atmete tief, entschloss sich jedoch dazu ihn in Ruhe zu lassen. Harry war ja auch kaum besser ergangen mit diesem Irrwicht.