Die Begegnung mit dem Herrn der Schmerzen hing Francine noch sehr lange in den Knochen. Sie fühlte sich, als wäre sie bei lebendigem Leibe gerädert worden. Jeden einzelnen Muskel schien sie zu spüren und jede noch so kleine Bewegung schmerzte ungemein. Zum Glück ließ Monsieur Albert ihr genug Zeit, sich zu erholen, ihre Wunden zu lecken und ihren Gedanken nachzugehen. Trotz der erlittenen Schmerzen ging ihr der Marquise Alexandre nicht aus dem Sinn. Irgendetwas hatte er an sich, was sie ungemein anzog. Doch das schob sie einfach in die hinterste Ecke ihres Gedächtnisses. Sie war Monsieur Albert verpflichtet und durfte sich nicht auf andere Herren einlassen, so sehr diese ihr auch gefielen. Monsieur Albert wäre sehr ungehalten, wenn sie hinter seinem Rücken verbotene Dinge tun würde.
Francine überlegte, ob es richtig war, hier bei Monsieur Albert zu leben, ohne mit ihm ehelich verbunden zu sein. Dass sie bereits einen Ehemann hatte, verdrängte sie einfach. Sie liebte ihn nicht, auch nicht das Kind, das sie zusammen hatten. Das war ihre Vergangenheit, vorbei, aber noch nicht vergessen. Sie wollte nicht mehr so leben wie während der Zeit vor Monsieur Albert. Dabei ging es ihr damals keineswegs schlecht. Sie hatte alles, was sie sich wünschte. Auch über ihren Ehemann konnte sie sich nicht beklagen. Er war gut zu ihr, obwohl sie sich ihm gegenüber keineswegs korrekt benommen hatte. Sie war ihm keine gute Gattin. An ihr Kind mochte sie erst recht nicht denken. Sie wollte es nie, doch konnte das Kind nichts dafür, dass sie sich eingeengt und eingesperrt fühlte und versuchte, aus ihrem angeblichen Gefängnis auszubrechen.
War sie jetzt nicht auch eingesperrt? Wurde sie nicht wie ein Stück Dreck behandelt und erniedrigt? War es wirklich das, was sie wollte. Francine haderte mit sich selbst. Doch dann sah sie die Bequemlichkeit ihres Lebens bei Monsieur Albert. Er gab ihr die Freiheit, die sie vorher nie hatte. Da waren seine Forderungen als Gegenleistung an sie Kleinigkeiten, die sie ihm gerne gab. Tief in ihrem Herzen liebte sie ihn. Oder war sie ihm bereits hörig? Sie wusste es nicht.
Eines Tages saß Francine auf der Terrasse des Monsieurs und genoss die ersten Strahlen der Frühlingssonne. Jean hatte einen Sonnenschirm aufgestellt, unter dem es sich Francine bequem gemacht hatte. Neben ihr auf einem kleinen Tisch stand eine Schale mit Gebäck und eine Tasse mit Pfefferminztee. Die junge Frau hing ihren Gedanken nach und versuchte, sich an ihre Kindheit zu erinnern. Plötzlich hörte sie aus dem Haus laute Stimmen.
„Monsieur Albert ist nicht im Hause“, hörte sie Jean sagen. „nein, Ihr könnt nicht hier auf ihn warten“, gingen seine Worte weiter, unterbrochen von einer weiblichen Stimme. Francine stand auf und schlich sich zur Terrassentür. Hier konnte sie den Gesprächsverlauf besser verfolgen.
„Nein, Madame Adalie“, wehrte Jean erneut ab und versuchte den Redeschwall der unbekannten Besucherin zu unterbrechen. Irgendwie kam Francine die Stimme der Frau bekannt vor. Nur woher? Francine überlegte.
Wieder redete die Frau auf den Diener ein. Ihre Stimme überschlug sich beinahe. Plötzlich erinnerte sich Francine. „Maman“, stieß sie aus. Sie machte fast einen Freudenhüpfer. Francine raffte ihre Röcke und ging ins Haus.
„Jean, was ist hier los?“, rief sie aus, als sie die Empfangshalle betrat.
Die Frau stockte, drehte sich zu ihr um und schaute in Francines Richtung. Sie wurde blass. „Francine, ma cheré“, stieß sie hechelnd aus. Dann sackte sie ohnmächtig zusammen.
Francine stürzte zu ihrer Mutter, um ihr behilflich zu sein. Sie kniete sich neben die ohnmächtige Frau und bettete deren Kopf in ihren Schoß. „Maman“, flüsterte Francine unter Tränen. „Maman, liebste Maman.“ Sie konnte es nicht fassen, ihre Mutter hier zu sehen. „So hilf mir doch, sie auf dem Chaiselongue zu betten“, fuhr Francine Jean an, der wie versteinert in der Halle stand und auf die beiden Frauen starrte.
„Halte ihren Kopf, während ich aufstehe“, befahl Francine. Jean jedoch hob die immer noch ohnmächtige Frau hoch, als würde sie federleicht sein und trug sie zur Sitzecke. Dort legte er sie auf dem Chaiselongue ab. Francine stand wie in Trance daneben und wusste nicht, was sie denken, geschweige denn, tun sollte. So lange Zeit hatte sie ihre Mutter nicht gesehen, nicht einmal Sehnsucht nach ihr hatte sie jemals verspürt. Und nun tauchte sie plötzlich wie aus dem Nichts auf und brachte ihr Gefühlsleben durcheinander.
„Ich gehe und hole eine Schüssel kaltes Wasser und ein Tuch“, hörte sie Jean sagen. Francine nickte nur. Dann kniete sie sich vor das Sofa und schaute nach ihrer Mutter.
„Wie alt sie geworden ist“, stellte sie fest. Tiefe Falten hatten sich in das ehemals ebenmäßige Antlitz gegraben. Zärtlich streichelte Francine über ihre Wange.
Plötzlich schlug Madame Adalie die Augen auf. „Francine“, rief sie erfreut aus, „endlich!“
„Maman, was machst du hier?“, fragte Francine.
„Bitte, komm zurück. Dein Mann braucht dich“, erwiderte Adalie.
„Nur mein Mann? Was ist mit meinem Kind, braucht es mich nicht?“, wollte Francine wissen.
Madame Adalies Blick verschleierte sich. Tränen rannen aus ihren Augen. „Dein Kind. Es ist vor drei Monaten gestorben“, presste sie heraus. Der Schmerz über den Verlust ihres Enkelkindes war ihr ins Gesicht geschrieben.
Francine fühlte sich nach dieser Auskunft wie auseinander gerissen. Ihr Kind. Tot? Sie konnte es nicht glauben. Obwohl sie nie viel für ihren Nachwuchs übrig hatte, tat es ihr weh, dass es so jung sein Leben lassen musste. Doch ihr Gatte tat ihr keinesfalls leid. Hatte er sie früher nie gebraucht, musste er sie jetzt auch nicht haben.
„Für was braucht mich dann mein Gatte? Unser Kind ist tot und er hat es nicht einmal für nötig gehalten, es mir mitzuteilen. Nach drei Monaten fällt es dem werten Herrn ein, es mir durch dich übermitteln zu lassen!“ Francine redete sich in Rage. „Und genau so du und Papa. Ihr habt mich früher nicht gebraucht, also braucht ihr mich jetzt auch nicht.“
„Francine, bitte…“, versuchte ihre Mutter sie zu bremsen.
„Nichts, Francine, bitte“, wurde Adalie von ihrer Tochter unterbrochen. „Ihr seid ein feiges, widerwärtiges Volk. Erst verstoßt ihr mich, weil ich nicht in euer Schema passe und nun soll ich zu euch zurück kommen.“
„Francine“, schluchzte die Mutter.
„Lass es, Maman“, fuhr Francine sie an. „Geh einfach. Ich will euch nicht sehen. Nicht heute und später auch nicht! Nie mehr!“ Aufgebracht rauschte Francine von dannen und ließ ihre Mutter einfach sitzen.
Kopfschüttelnd schaute Jean, der die Szene von der Tür zum Küchentrakt aus beobachtet hatte, der fliehenden Francine hinterher.
„Madame, es ist besser, ihr geht jetzt“, sagte er zu Madame Adalie. Er wusste nicht, was die beiden getrennt hatte. Es stand ihm auch nicht zu, den Grund zu erfahren. Klärende Worte wären wohl das Beste für die Frauen, doch Francine dazu zwingen konnte er nicht.
„Madame, bitte“, wandte er sich erneut an die Frau, die ihrer Tochter wie erstarrt hinterher schaute.
„Ihr habt Recht“, erwiderte Adalie, während sie sich stöhnend erhob. „Vielleicht ist es besser so“, sprach sie weiter. Jean konnte ihr die Qual, die sie sie erlitt, ansehen.
„Madame, was immer geschehen sein mag. Francine ist eure Tochter. Irgendwann zieht es die Kinder immer wieder zu ihrem Ursprung zurück“, versuchte er die Frau zu trösten.
„Es ist sinnlos. Mein Kind ist stur wie ein Esel. Genau wie ihr Vater“, erwiderte Adalie traurig. Abrupt drehte sie sich um und verließ ohne ein weiteres Wort das Haus.
Aufgewühlt und voller Wut rauschte Francine aus der Halle. Sie wollte nur noch weg. Weg von der Frau, die sie geboren und zu guter Letzt einfach an einen wildfremden Mann verschachert hatte, den sie nicht liebte. Und nun wagte sich diese impertinente Person einfach so daher zu kommen und um ihre Gunst zu betteln. Francine war sich sicher, ihrer Mutter nie verzeihen zu können. Dabei wollte sie doch nur den Weg gehen, den sie für ihr Leben bestimmt hatte. Dass dies nicht mit den Wünschen ihrer Eltern und ihres Ehemanns übereinstimmte, dafür konnte sie doch nichts.
Mit Schwung warf Francine die Tür ihres Zimmers hinter sich zu. Sie ging zum Fenster und schaute hinaus. Gerade noch konnte sie sehen, wie ihre Mutter den Weg zum Tor hinunter ging und dann das gusseiserne Tor hinter sich schloss.
„Da geht sie dahin“, murmelte Francine und blickte der gramgebeugten Frau hinterher, bis sie gänzlich verschwunden war. Sollte es das wirklich gewesen sein? Francines Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Es war doch ihre Mutter, die sie weggeschickt hatte wie eine Bettlerin, die ihr im Wege stand. Doch dann musste Francine erneut an das denken, was ihr angetan wurde. Nein, das war niemals zu verzeihen. Warum sollte sie wie eine keusche Jungfer leben und einem Ehemann wie eine Magd dienen, während es den Männern erlaubt war, herumzuhuren, ohne dafür bestraft zu werden.
Francine dachte nach, verglich ihr früheres Leben mit dem heutigen. Dank Monsieur Albert konnte sie heute ihre Vorlieben ausleben, ohne schräg angeschaut zu werden. Ihr ging es doch gut! Was wollte sie mehr?