„Oh mein Gott“, stieß Annemieke de Boer erschrocken aus, als sie vor dem Anwesen am Rande des kleinen, niederländischen Städtchens Vaals aus dem Auto stieg. Vor Staunen blieb ihr Mund offenstehen. Ein Grundstück von solch einer Größe hatte sie nicht erwartet.
Vor ein paar Tagen ahnte Annemieke noch nicht einmal, dass sie geerbt hatte. Bis die Einladung von einem Notar namens Luuk de Vries zu einer Testamentseröffnung per Post ins Haus geflattert kam und ihr mitgeteilt wurde, sie hätte ein Haus geerbt. Nun stand sie davor und wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Damit fühlte sie sich vorerst überfordert.
Das Haus lag etwas abseits der Straße, direkte Nachbarn gab es nicht. „Viel zu einsam“, dachte Annemieke, die den Trubel Amsterdams gewohnt war. Hier war die Stille für sie fast erdrückend. Doch was sollte sie tun? Das Haus gehörte nun mal ihr. Sie musste eine Lösung finden, was damit geschehen sollte.
Die Erblasserin war ihr vollkommen unbekannt und Annemieke wusste nicht, wie sie zu dieser Ehre kam. Sie lebte und arbeitete in Amsterdam und war vorher nie in der Gegend von Vaals gewesen. Der kleine Grenzort zählte gerade mal 10000 Seelen. Ein für Annemieke unbedeutendes Städtchen, das sie nicht kennen musste. Nun stand sie vor ihrem Anwesen und wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Innerlich fluchte sie, da der Notar Luuk de Vries sie nicht gewarnt hatte, in welchem Zustand sich Haus und Anwesen befanden. Vermutlich wusste er es selber nicht einmal. Ein Notar war nicht dazu verpflichtet, die zu vererbenden Immobilien zu begutachten.
Annemieke sah eine Menge Arbeit auf sich zukommen. Wie sie die neben ihrem regulären Brotjob bewältigen sollte, stand in den Sternen.
Das Grundstück grenzte auf einer Seite an einen Wald, was für Annemieke nicht gerade berauschend war. Schon als Kind fürchtete sie sich vor Wäldern. Sie waren ihr nicht ganz koscher. Geister, Elfen, Feen, vielleicht auch böse Wesen hausten darin, nahm sie damals an. Davon träumte sie oft. Manchmal waren die Alpträume so schlimm, dass sie sich nicht wagte, wieder einzuschlafen. Nicht einmal ihre Eltern konnten dann das aufgebrachte Mädchen beruhigen. Und nun hatte sie ein Anwesen geerbt, das direkt an einen Wald grenzte. Am liebsten wäre sie wieder in ihr Auto gestiegen und davongefahren. Doch die Neugier hielt sie davon ab. Sie musste unbedingt erfahren, was sie geerbt hatte.
Das kleine Tor, hinter dem ein Weg zum Haus führte, quietschte in den Angeln, als Annemieke es öffnete, um das Anwesen zu betreten. Die Scharniere hatten scheinbar bereits seit sehr langer Zeit kein Öl mehr gesehen. Auch das eiserne Gitter hatte seine besten Zeiten schon längst hinter sich. Die Farbe bröckelte ab und Rost fraß sich durch die filigranen Ornamente. Schade um die wertvolle Arbeit, deren Bestimmung hier dem Ende entgegensah.
Der Weg zum Haus war von Unkraut überwuchert. Es war eher nur ein Pfad übriggeblieben. Die schmalen Beete links und rechts daneben mussten wahrscheinlich einmal sehr schön gewesen sein. Sie waren kaum noch zu erkennen. Nur einige Rosensträucher trotzten der Wildnis. Rote und weiße Blüten wirkten wie Farbtupfer in der Einöde. Etwas weiter von der Auffahrt entfernt standen riesige Bäume. Eine dünne Schicht nassen Laubes bedeckte das spärlich wachsende Gras unter den Bäumen. Abgebrochene Äste waren zu Boden gefallen. Diese lagen wahrscheinlich schon länger dort, denn Moos hatte sich auf dem abgestorbenen Holz breitgemacht.
Bevor Annemieke ins Haus ging, wollte sie sich als Erstes im Garten umsehen. Ein Weg neben dem Haus führte dorthin. Anstatt eines Gartens fand sie eine Wiese, auf der das Gras hüfthoch stand. Auch die Wiese grenzte an diesen unheimlichen Wald, den sie bereits von der Straße aus gesehen hatte. Der Pavillon, der gleich neben dem Hinterausgang des Hauses stand, hatte auch schon bessere Tage gesehen. Krumm und schief trotzte er Wind und Wetter.
Annemieke inspizierte die angepflanzten Obstbäume. Obwohl Herbst war und somit auch Erntezeit, trugen fast alle keine Früchte. Bei den meisten waren die Stämme morsch oder viele Äste abgestorben. „Da ist nichts mehr zu machen. Die müssen alle gefällt werden, ehe sie mir auf den Kopf fallen“, stellte Annemieke mit dem geschulten Blick einer Landschaftsarchitektin fest.
Während die Frau sich durch das hohe Gras quälte, schaute sie sich weiter um. Fast am anderen Ende des Anwesens entdeckte sie einen kleinen Hügel, der nicht dazu gehören schien. Die Gegend um Vaals war recht flach und der Hügel auch viel zu klein, um natürlich zu sein. Annemieke sah ihn sich an und beschloss, sich später um die eigenartige Erhebung zu kümmern. Erst wollte sie sich im Haus umsehen und dort eine Bestandsaufnahme machen. Auf einmal stutzte sie. Was waren das für Steine, die sie hinter dem Zaun sah. Vor diesem stand eine Hecke, die so hochgewachsen war, dass sie diese gerade noch überschauen konnte. Die Neugier trieb sie zur Einzäunung.
„Oh nein, auch das noch. Warum nur muss ich immer so ein Pech haben?“, fragte sie sich verzweifelt. Direkt neben dem Grundstück erstreckte sich ein weitläufiger Friedhof. Damit hatte sie nicht gerechnet. Erst ein Haus am Waldrand, dann grenzte eine Seite des Anwesens auch noch an einen Friedhof. Noch mehr Unglück konnte sie gar nicht haben. „Naja, was soll es. Ändern kann ich es nicht“, führte sie ein Selbstgespräch. Für den Anfang hatte sie auf dieser Seite genug gesehen. Von diesem Schreck musste sie sich erst einmal erholen.
Annemieke könnte jetzt zur Beruhigung einen Kaffee vertragen. Doch wegen einem Kaffee erst in die Stadt zu fahren und ein Lokal zu suchen, dazu hatte sie keine Lust. Ein Blick auf die Uhr bestätigte ihr, sie hatte bereits zu viel Zeit vergeudet. Bald würde es dunkel werden. Bevor dies geschah, wollte sie das Haus wenigstens grob besichtigt haben. Erst danach würde sie in die Stadt fahren und dort ihre Pension aufsuchen, in der sie sich für vorerst eine Nacht eingemietet hatte.
Langsam ging die junge Frau zurück zum Haus. Ein Gefühl des beobachtet Werdens überfiel sie dabei. Sie sah sich um, konnte aber niemanden ausmachen, der heimlich nach ihr spähte. Auch am Eingangstor konnte sie niemanden sehen. Es gab hier aber auch genügend dunkle Ecken, in denen sich eine Person ohne weiteres verbergen konnte.
Ihr Blick glitt über die Fassade des Hauses. Von der Nähe aus betrachtet, war diese noch recht gut in Schuss. Auf den ersten Blick konnte Annemieke keinen bröckelnden Putz erkennen, auch die Fenster und die Haustür sahen einigermaßen gepflegt aus. Doch das hatte nichts zu sagen. Es war nur die äußere Hülle, die nicht preisgab, was sie im Inneren verbarg.
Annemieke kramte in ihrer Handtasche nach dem Hausschlüssel, den der Notar ihr nach der Testamentseröffnung überreicht hatte. Nach einigem Suchen fand sie ihn endlich. Unförmig und klobig lag er in ihrer Hand. Sie hatte das Gefühl, als würde der Schlüssel sich in ihrer Hand erwärmen. Die Hitze empfand Annemieke so stark, dass sie ihn beinahe fallenließ. Doch dann war die Wärme auch schon vorüber. Die junge Frau schüttelte den Kopf. „Alles Einbildung“, führte sie erneut ein Gespräch mit sich selbst. Mit wem sollte sie auch sprechen, außer mit sich selbst.
Plötzlich bemerkte sie eine Bewegung an einem der Fenster im ersten Stock. Sie schaute hinauf. Ein Schatten stand dort und starrte sie an. Als Annemieke rufen wollte, verschwand er so schnell wie er gekommen war. Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Hatte sie richtig gesehen oder sich die Person nur eingebildet? Das Haus war unbewohnt, wer also sollte sie hier erwarten?
Als Annemieke die wenige Stufen zur Haustür erklomm, erinnerte sie sich auf einmal an die Testamentseröffnung. Diese kam ihr bereits komisch vor. Die Kinder der Verstorbenen wussten nicht einmal, dass sie nur Geld erben sollten, während eine völlig Fremde Haus und Anwesen zugesprochen bekam. Sie blieb vor der Tür stehen, setzte sich auf eine der Stufen der Eingangstreppe und rief sich den Verlauf noch einmal ins Gedächtnis.
Zu dritt saßen sie vor dem großen Schreibtisch, hinter dem Luuk de Vries, der Notar und Rechtsanwalt, Platz genommen hatte und das Testament von Marlene Brouwer vorlas. Er machte ein ernstes Gesicht, wie es sich zu solch einem Termin gehörte.
Bevor Annemieke ihr Erbe bekanntgegeben wurde, hatten die Kinder der Verstorbenen erfahren, wieviel ihren ihre Mutter vermacht hatte. Das war mehr, als sie erwartet hatten, obwohl das Grundstück und das Haus nicht mehr ihnen gehören sollte. Sie wussten nicht einmal, dass ihre Mutter so viel Geld besaß. Die alte Frau lebte die letzten zwei Jahre in einer Seniorenresidenz, wo sie rund um die Uhr betreut wurde. Die Kinder hatten nicht genug Zeit, sich zu kümmern. Deshalb stand auch das Haus, in dem sie ihre Kindheit verbrachten, leer.
„Und sie, Frau de Boer“, wandte sich Notar de Vries an die junge Frau, die neben den beiden erwachsenen Kindern der Verstorbenen saß. „Ihnen hat Frau Brouwer ein Haus am Rande von Vaals hinterlassen, sowie 300.000 Euro als Startkapital für eventuelle Umbauten oder Renovierungs- und Aufräumungsarbeiten. Ich muss sie aus diesem Grund darauf hinweisen, dass der Geldbetrag zweckgebunden ist und sie diesen nur für diesen Zweck benutzen dürfen. Der Betrag, den sie am Ende übrighaben, steht zu ihrer freien Verwendung.“
Die zwei Nachkommen der Hinterbliebenen stießen empört den Atem aus. Vor allem Deike Brouwer echauffierte sich.
„Wer ist diese impertinente Person überhaupt, die sich das Erbe unserer Mutter erschleicht?“, wollte Deike, die Tochter der verschiedenen Frau Brouwer wissen. Sie warf Frau de Boer einen bitterbösen Blick zu. „Außerdem“, sprach Deike weiter, „sagte unsere Mutter immer, das Haus soll nach ihrem Tod veräußert werden und mein Bruder und ich sollen uns nach Abzug aller Kosten den Gewinn teilen. Jetzt bringen sie plötzlich im Testament diese Version ins Spiel. Ich bin mir sicher, meine Mutter wollte das so nicht!“
„Keine Ihrer beiden Fragen kann ich ihnen beantworten“, erwiderte der Notar. „Ich walte nur Kraft meines Amtes im Interesse ihrer Mutter. Der Name der jungen Frau stand auf der Liste mit den Hinweisen, die ihre werte Frau Mama mir für die Ausarbeitung ihres Testaments übergeben hat. Von einem Verkauf des Hauses weiß ich nichts. Ihre Mutter sprach nie davon, dass dies nach ihrem Tode getan werden soll.“ De Vries blickte zu Frau de Boer, die sichtlich beschämt auf ihrem Stuhl saß und in die Runde der Versammelten sah. Dann kramte er in einer Mappe und zog ein per Hand geschriebenes Blatt Papier hervor. „Hier steht es“, sagte er und reichte das Papier den Geschwistern. Die steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. Doch es war eindeutig die akkurate Handschrift ihrer Mutter.
„Geht das hier vielleicht nicht mit rechten Dingen zu?“, keifte die Brouwer und schnaubte entrüstet. „Weitere Überraschungen gibt es hoffentlich nicht?“, wollte Deike wissen, die ihr Erbe bereits den Bach hinuntergehen sah. Noch mehr teilen wollte sie auf keinen Fall. Es genügte schon, einer vollkommen Fremden einen Teil abgeben zu müssen.
„Was fällt ihnen ein, mich unrechtmäßiger Dinge zu bezichtigen? Ich habe einen Eid abgelegt, meinem Beruf nach bestem Wissen und Gewissen nachzugehen und mich an die gesetzlichen Vorschriften zu halten“, antwortete de Vries zornig. Seine Empörung über die Aussage der jungen Frau Brouwer empfand er als Beleidigung seines Standes.
„Ich kenne Marlene Brouwer nicht einmal“, mischte sich nun auch Annemieke in das Streitgespräch ein. Sie fand es als angebracht, ihre Stellung in diesem Theater erklären zu müssen. Genau wie Deike war sie überrascht über das Erbe, das ihr zugesprochen wurde.
Ehe Annemieke weitersprechen konnte, wurde sie von Frau Brouwer unterbrochen. „Ich werde das Testament anfechten“, schimpfte Deike entrüstet. „Meine Mutter kann doch nicht einfach so ihr Haus samt Anwesen einer Wildfremden vererben.“ Sie wandte sich an ihren Bruder Daan, der neben ihr saß und betreten zu Boden sah.
„Nun beruhige dich doch erst einmal“, versuchte Daan seine Schwester zu beschwichtigen. Daan hatte bisher schweigend dagesessen. Doch nun wurde ihm das böswillige Gezeter seiner Schwester zu viel. Er musste etwas sagen, sie zur Räson bringen. So kannte er sie auch, bösartig, aufbrausend, selbstsüchtig. Nie gönnte sie jemanden auch nur ein winzig kleines Stück Glück.
„Genau!“, mischte sich nun der Notar in die Unterhaltung ein. „Außerdem können sie das Testament nicht anfechten.“
Deike blickte den Notar grimmig an. „Warum nicht? Jedes Testament kann angefochten werden!“
„Dieses nicht. Ihre Frau Mutter hat ausdrücklich darauf bestanden, dass eine Klausel in ihrem Testament festgehalten wird, in der steht, dass es unanfechtbar ist.“ De Vries kramte erneut in dem Stapel Papiere, bis der die Seite fand, in der diese Klausel vermerkt war. Er las sie laut vor. Dabei grinste er in sich hinein, dieser unmöglichen Frau einen Dämpfer versetzen zu können.
„Das gibt es doch nicht! Unsere Mutter war wohl nicht bei Sinnen, als sie diese Farce aufsetzen ließ!“, wetterte Deike. „Soll das Haus für uns verloren sein und uns nur noch Almosen bleiben?“
„Ich widerspreche ihnen vehement. Ihre Mutter war bis zu ihrem Tod im Vollbesitz ihrer Sinne. Das würde jeder ihrer Ärzte bestätigen. Außerdem, als Almosen kann der Betrag, den sie erben, nicht gerade benannt werden. Es ist schon eine beträchtliche Summe“, erwiderte de Vries und zuckte mit den Schultern. „Aber es ist nichts gegen das Testament zu machen. Finden sie sich damit ab. Vielleicht werden sie sich mit Frau de Boer einig und sie verkauft ihnen das Haus“, wusste der Notar Rat. „In diesem Fall aber, würden die 300.000 Euro, die Frau de Boer erhalten hat, einer gemeinnützigen Institution zugesprochen werden.“
„Was?!“ Deike sprang wutentbrannt auf. Nun war es ihr Gesicht, das rot anlief. Sie japste nach Luft. „Mit dieser impertinenten Person will ich nichts zu tun haben. Ihre Almosen kann sie sich gerne sonst wohin stecken!“, schrie sie aufgeregt. An das Geld, das dann eine Institution erhalten sollte, dachte sie lieber nicht. Auf die paar Kröten, wie sie es nannte, konnte sie gut und gerne verzichten.
De Vries sah Deike ratlos an, dann blickte er zu Annemieke. Die saß weiß wie eine Wand auf ihrem Stuhl und wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Die Situation war ihr peinlich. Doch etwas dagegen tun konnte sie nicht. Daher musste sie es so hinnehmen, wie es war.
„Und wenn ich das Erbe nicht möchte?“, fragte sie leise.
„Tut mir leid, wie ich schon sagte, das Testament ist unanfechtbar, somit können sie auch nicht zurücktreten. Die verstorbene Frau Brouwer wird schon ihren Grund gehabt haben, ihnen das Haus zu vermachen. Nur kann sie uns leider nicht mehr mitteilen, warum sie dies so wollte“, antwortete der Notar. „Aber seien sie beruhigt, das Haus und das Anwesen sind nicht mit Darlehen belastet. Sie müssen sich also keine Sorgen machen. Ich nehme an, sie werden vielleicht ein paar kleine Renovierungsarbeiten machen müssen, ehe sie einziehen oder vermieten können. Wie hoch die Belastung sein wird, entzieht sich leider meiner Kenntnis.“
„Ich weiß nicht, so weit weg vom Schuss. Ich lebe hier in Amsterdam, habe hier meine Wurzeln, meine gesamte Familie. Was soll ich mit einem Anwesen, das ich noch nicht einmal kenne.“ Annemieke war verzweifelt. Die Option einer Vermietung klang jedoch gut in ihren Ohren.
„Schauen sie es sich erst einmal an und entscheiden sie dann, was sie damit machen. Laut Testament ist es leider so, dass sie es nicht verkaufen dürfen“, beruhigte de Vries Annemieke und lächelte ihr freundlich zu.
„Das wird wohl das Beste sein, was ich tun kann“, erwiderte Annemieke und lächelte zurück.
„Sehen sie, für alles wird es eine Lösung geben. Ich denke, sie werden das schon meistern. Sie sind doch eine taffe junge Frau.“ Der Notar hätte Annemieke am liebsten noch ein paar Komplimente gemacht. Sie gefiel ihm, doch ihm waren die Hände gebunden, ein Techtelmechtel mit einer Klientin war tabu. „Aber vielleicht später, wenn alles abgewickelt ist“, dachte er sich und wandte sich resolut dem Abschluss der Testamentseröffnung zu.
„Kommen wir nun zum Ende“, sagte er zu Deike und Daan und bat sie, wieder Platz zu nehmen. „Sie haben nun vernommen, was ihre Frau Mutter“, wandte er sich erneut an die Geschwister, „per Testament bestimmt hat. Ich fasse noch einmal kurz zusammen: Sie beide erhalten je zwei Millionen Euro, Frau de Boer, wie testamentarisch bestimmt, das Anwesen und Haus in Vaals, plus die zweckgebundenen 300.000 Euro.“ Er nickte Annemieke zu. „Sie erhalten nachher gleich die Hausschlüssel von mir. Der Grundbucheintrag wurde bereits in Auftrag gegeben. Ich denke, in etwa einer Woche werden sie diesen per Post an ihre Meldeadresse zugeschickt bekommen. Sie können aber schon, bevor sie die amtliche Bestätigung in den Händen halten, das Grundstück in Besitz nehmen.“
„Dann muss ich mich wohl oder übel dem Willen der Verstorbenen beugen“, sagte Annemieke. „Ich würde nur gerne wissen, wieso gerade ich dieses Haus geerbt habe, obwohl ich Frau Brouwer Senior gar nicht kannte.“
„Tja, wie gesagt, ich weiß es leider auch nicht. Frau Brouwer hat sich mir gegenüber nie geäußert. Vielleicht finden sie im Haus einen Hinweis darauf. Lassen sie es mich bitte wissen, falls dies der Fall sein sollte.“
„Das tue ich gerne“, antwortete Annemieke.
„Gut, dann sind wir am Ende angekommen. Ich danke ihnen für ihr Erscheinen“, schloss Luuk de Vries. „Denken sie bitte daran, dass das Testament nicht anfechtbar ist. Kein Gericht wird es in Frage stellen, wenn es Frau Brouwer so bestimmt hat.“
Deike stieß nur erneut ein entrüstetes Schnauben aus, Daan enthielt sich der Stimme. Die Geschwister verabschiedeten sich zuerst. Mit hoch erhobenem Kopf rauschte Deike grußlos zur Tür hinaus, eine Wolke ihres schweren Parfüms hinterlassend. Daan vergaß seine gute Kinderstube nicht und dankte dem Notar höflich für seine Arbeit.
„Einen Moment bitte, Herr Brouwer“, hielt er Daan noch einmal kurz zurück. „Die Kosten der Testamentseröffnung sind bereits beglichen. Ihre Mutter zahlte die Rechnung im Voraus.“
„Vielen Dank, entschuldigen sie bitte auch das Verhalten meiner Schwester. Sie ist schon immer so bösartig“, sagte Daan noch einmal und verabschiedete sich nun endgültig.
„Nichts zu danken“, rief Luuk de Vries dem Klienten nach, als dieser zur Tür hinaus zu seiner Schwester ging.
Deike hatte im Flur gewartet. Der Notar und die zurückgebliebene Annemieke hörten noch, wie Deike ihren Bruder anfauchte, was er noch für Heimlichkeiten mit dem Notar hätte, die sie wohl nicht hören sollte. Daan winkte nur ab und ließ seine Schwester in ihrem irren Glauben.
„Eine sehr ungemütliche Person“, meinte Luuk de Vries, nachdem die Geschwister gegangen waren. „Diese Frau möchte ich nicht geschenkt bekommen. Kein Wunder, dass ihre Mutter sie nur mit Geld bedacht hat. Der Bruder tut mir leid. Er scheint unter ihrem Pantoffel zu stehen. Armer Tropf.“
„Wir müssen ja keinen weiteren Kontakt mit Frau Brouwer haben“, erwiderte Annemieke.
„Wahre Worte“, sprach Luuk und lächelte dabei die junge Frau erneut an. „Apropos Kontakt“, wagte er dann den Angriff. „Ich würde sie gerne wiedersehen. Vielleicht auf einen Kaffee.“
Annemieke errötete. Luuk de Vries war kein abstoßender Typ. Er gefiel ihr sogar. Sie war sich sicher, mehr als nur freundschaftliche Gefühle für Luuk de Vries zu empfinden, dabei glaubte sie nicht einmal an die Liebe auf den ersten Blick. „Wenn sie meinen, warum nicht. Unsere geschäftliche Verbindung ist nun ja beendet und niemand kann uns mehr nachsagen, wir hätten das Testament gefälscht. Ihre Bitte kommt mir zwar ein wenig überraschend. Aber warum eigentlich nicht. Oder haben wir etwas zu verlieren?“
De Vries konnte darauf nur den Kopf schütteln. „Sagen sie doch Luuk zu mir. Wir wollen uns doch nicht so steif verhalten. Was meinen sie?“
„Gerne“, antwortete Annemieke und nannte auch ihren Vornamen.
Annemieke stand nun nachdenklich vor dem Haus. Jetzt musste sie sich wirklich sputen, noch das Innere zu besichtigen. Die Dämmerung brach an, nicht mehr lange und es würde hier stockfinster sein. Eine Taschenlampe hatte Annemieke nicht mitgebracht, die hatte sie schlichtweg vergessen. Von Luuk wusste sie, die Stromzufuhr wurde der Sicherheit wegen abgestellt. Pech für sie, doch ändern könnte sie das jetzt auch nicht mehr.
Nun mühte sich Annemieke damit ab, die Tür zu öffnen. Das Schloss klemmte, der Schlüssel ließ sich nur schwer drehen. Doch dann gelang es ihr, den Schlüssel zu bewegen. Sie spürte, wie im Inneren des Schlosses etwas knackte. Der Drehknopf bewegte sich endlich, die Tür jedoch gab nur wenige Zentimeter nach. Die junge Frau musste mehr Kraft aufwenden, rüttelte sogar kräftig daran. Es kam ihr vor, als würde das Haus ihr den Zutritt verweigern. „Wenn ich nur Luuk mitgenommen hätte“, dachte sie sich. Doch Luuk konnte bei der ersten Besichtigung nicht dabei sein, da er wichtige Termine hatte, für die er unabkömmlich war. So stand Annemieke allein und verlassen vor diesem grusligen Haus und wusste immer noch nicht, ob sie hineingehen sollte.
Nachdem sie es endlich geschafft hatte, die sperrige Tür zu öffnen, riskierte sie doch einige Schritte ins Innere des Hauses. Sie wollte die erste Besichtigung so schnell wie möglich hinter sich bringen. Mit Grausen dachte sie an die Gestalt, die sie hinter einem Fenster im ersten Stock bemerkt hatte. „Ein Geist wird es nicht sein, es gibt nämlich keine“, machte sie sich Mut und startete ihren Rundgang.