„Wie, sagten sie, heißt die Person, die jetzt zu unserem Gespräch dazukommt?“, fragte Annemieke Detektiv Thijs Huismann.
Der lächelte in ihre Richtung und sagte nur ein einziges Wort: „Ruben.“
Annemieke dachte nach, in welchen Zusammenhang sie den Namen schon einmal gehört hatte. Doch auf Anhieb fiel ihr dies nicht ein. „Wer soll das sein?“, fragte sie.
„Das werden sie in wenigen Augenblicken erfahren. Ich bin nicht befugt, dies ihnen mitzuteilen“, erwiderte Huismann, ohne eine Miene zu verziehen. Auf sein Pokerface war er sehr stolz, was ihm öfter zugutekam, dass ihm niemand ansehen konnte, was er gerade fühlte.
Ruben kam langsam näher und beobachtete dabei genau die Reaktionen seiner Tochter. Annemieke sah ihn an, konnte sich aber immer noch keinen Reim darauf machen, woher sie diesen Mann kennen sollte.
„Ich bin Ruben de Boer“, stellte sich der Mann vor, als er bei seiner Tochter angekommen war.
Annemieke stutzte. Sie wurde blass. Aber dann besann sie sich, sagte ihren Namen und stellte auch Luuk vor.
„Wir kennen uns schon“, warf Luuk ein, worauf Annemieke ihn erstaunt ansah.
„Wieso kennt ihr euch? Was geht hier vor?“ Empört schaute sie ihren Freund an.
Luuk lächelte sie an. Eben wollte er weitersprechen, wurde aber von Ruben unterbrochen. „Warten sie, ich sage ihr es.“
„Was sagen?!“, fuhr Annemieke hoch. „Was wird hier gespielt? Ich komme mir vor, als wäre ich im falschen Film. Fragen über Fragen und niemand hat angeblich Ahnung, was hier vor sich geht!“
„Rege dich nicht auf“, versuchte Ruben sie zu beruhigen. „Ich werde dir alles genau erklären.“
Annemieke murrte unwillig.
„Gut, ich sage es jetzt. Dann habe ich es hinter mir“, begann Ruben. „Also, Annemieke. Ich bin dein Vater“, stieß er schnell aus. Seine Aufregung war ihm anzusehen, auch, wie froh er war, endlich den Anfang gefunden zu haben.
„Sie sind wer?“ Annemieke riss die Augen auf. „Das kann nicht sein. Mein Vater ist tot.“
„Das ist die Version deiner Mutter“, versuchte Ruben zu erklären.
„Und wie ist ihre Version?“
„Ich war nie tot, sonst würde ich nicht hier stehen und versuchen, mich zu erklären.“
„Aber…“, Annemieke schluchzte. „Das kann doch nicht sein.“
„Lass es mich dir erklären. In aller Ruhe, ohne Aufregung“, sprach Ruben weiterhin beruhigend auf sie ein.
„Ja, bitte, Annemieke, höre ihm doch zu“, mischte sich nun auch noch Luuk ein.
„Du?! Warum sagst du, du würdest ihn kennen?“, sie zeigte mit dem Finger auf Ruben. „Du hast erst heute Morgen zu mir gesagt, du wüsstest über nichts Bescheid und nun kennst du ihn auf einmal. Da beißt sich etwas ganz gewaltig. Was ist nun richtig? Raus mit der Sprache! Ich habe es satt, ständig auf den Arm genommen zu werden!“
„Lass es mich kurz aufklären“, sagte Luuk. „Ja, ich kenne Ruben de Boer. Er hat Marlene Brouwer begleitet, als sie mich in meiner Kanzlei aufsuchte, damit ich ihr Testament aufsetze. Aber ich wusste nicht, dass er dein Vater ist.“
Annemieke runzelte die Stirn. „Das klingt irgendwie weit hergeholt. Aber ich will dir mal glauben.“ Sie wandte sich an Ruben. „Nun sind sie dran. Raus mit allem!“
Ruben räusperte sich. Seine Tochter hatte er sich nicht so burschikos vorgestellt. Aber wie sollte er sie auch kennen, wenn er sie schon seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte. „Es stimmt, ich bin dein Vater. Daher meine ich, du musst mich nicht siezen. Sag du zu mir. Das gehört sich so zwischen Vater und Tochter.“ Er sah Annemieke bittend an.
„Kommen sie, geben sie sich einen Ruck“, mischte sich nun auch Thijs Huismann ein.
„Na gut“, antwortete Annemieke und setzte sich wieder auf die Gartenbank. Luuk holte noch einen weiteren Stuhl herbei, damit auch Ruben Platz nehmen konnte.
Kaum saß Ruben, begann er zu erzählen. Er wollte möglichst schnell alles loswerden, was ihm auf der Seele brannte. Die Sehnsucht nach seinem Kind, das unmögliche Verhalten der Mutter seiner Tochter, belasteten ihn.
„Deine Mutter und ich waren vor vielen Jahren ein Ehepaar. Das war vor deiner Geburt. Du kamst zur Welt, alles war gut, wir waren ein glückliches Paar mit einem glücklichen Säugling. Plötzlich benahm sich deine Mutter eigenartig. Von Jetzt auf Gleich änderte sich ihr Benehmen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, warum sie mir gegenüber so abweisend war. Sie sprach auch nicht darüber. Bis sie eines Tages die Scheidung wollte. Ich fiel aus allen Wolken und weigerte mich, mich von ihr zu trennen. Sie war meine Traumfrau. Ich liebte sie über alles und wollte sie nicht verlieren.“
„Das wusste ich alles nicht“, sagte Annemieke. „Meine Mutter sagte immer nur, du wärst vor meiner Geburt gestorben.“
„So ähnlich drückte sie sich mir gegenüber auch aus. Ich wäre für sie gestorben“, antwortete Ruben traurig. Am liebsten hätte er geweint, doch gegenüber seinem Freund, der Tochter und deren Freund wollte er sich nicht die Blöße geben, mehr Gefühle zu zeigen als nötig. „Aber weder du noch ich waren tot. Im Gegenteil, wir sind beide quicklebendig.“ Er überlegte kurz, wie er weitersprechen sollte.
„Warum wollte meine Mutter die Scheidung“, fragte Annemieke.
„Sie hatte einen anderen Mann kennengelernt, mit dem sie nach Deutschland gehen wollte. Er war Deutscher“, erwiderte Ruben. „Ich nehme an, das war der Mann, der dich an meiner Stelle großgezogen hat.“ Ruben sah Annemieke wehmütig an. „Aber als ich trotzdem die Scheidung verweigerte, dachte sie sich eine ganz gemeine Tücke aus. Ich begreife immer noch nicht, wie sie mir diese Schmach antun konnte. Eines Tages stand die Polizei mit einem Haftbefehl vor meiner Tür. Sie behauptete, ich hätte sie vergewaltigt und aufs ärgste misshandelt. Das stimmte natürlich nicht. Nie würde ich eine Frau vergewaltigen, geschweige denn misshandeln. Ich konnte leider nicht beweisen, dass ich ihr nichts getan hatte. Und gegen ihre angeblichen handfesten Beweise konnte ich nichts tun. Sie hatte Gutachten von Ärzten, die die Tatvorwürfe bestätigten. Ich landete für einige Jahre im Gefängnis. Dass es mir dort als angeblicher Vergewaltiger von Frauen nicht gerade gut ging, kannst du dir bestimmt denken. Außerdem wurde mir das Sorgerecht für dich abgesprochen. Einem Vergewaltiger könne man kein Sorgerecht für ein Kind zugestehen, hieß es beim Familiengericht.“
„Das gibt es nicht“, seufzte Annemieke. „Dabei habe ich meiner Mutter und ihrem Ehemann immer geglaubt. Nie hätte ich gedacht, dass sie dich auf so eine fürchterliche Art und Weise losgeworden ist, nur wegen einem anderen Mann. Unglaublich.“ Annemieke schüttelte den Kopf. „Ich weiß aber auch nicht, ob ich dir glauben kann. Ich kenne dich nicht. Du bist für mich ein fremder Mann, der behauptet, mein Vater zu sein.“
„Ich kann dir die Unterlagen vom Gericht vorlegen“, erwiderte Ruben. „Sind das Beweise genug?“ Er hielt kurz inne und kramte in der Tasche, die er mitgebracht hatte. Dann hatte er endlich gefunden, was er suchte. Ruben hielt Annemieke ein Bild hin.
Sie nahm es und schaute es sich an. „Das Bild kenne ich“, sagte sie. „Ich habe es schon einmal gesehen. In einem Fotoalbum meiner Mutter. Sie sagte, das wäre ich als Säugling, aber nie, wer der Mann ist, der mich hält.“ Annemieke schaute genauer und verglich das Bild mit dem älter gewordenen Rubens. „Das könnte stimmen“, meinte sie darauf. „Das könntest wirklich du als junger Mann gewesen sein.“
„Das bin ich“, erwiderte Ruben.
Annemieke saß wie erstarrt auf der Bank. Sie wusste immer noch nicht, was sie von dem Ganzen halten sollte. Auch nicht, ob sie Ruben de Boer glauben durfte. Die Namensgleichheit könnte reiner Zufall sein. Sie schaute Ruben an. Plötzlich fiel ihr etwas ein. „Hast du irgendetwas, was noch beweisen könnte, dass du mein Vater bist?“
Jetzt lächelte Ruben verschmitzt und sagte darauf: „Du bist vom Wesen wie ich. Immer alles hinterfragen und nicht gleich alles glauben.“ Er kramte erneut in seiner Tasche und zog Annemiekes Geburtsurkunde heraus.
Annemieke riss erstaunt die Augen auf. „Das gibt es doch nicht“, stieß sie aus, als sie die Urkunde in Augenschein genommen hatte. „Wo hast du die her?“, fragte sie.
Ruben lachte. „Die habe ich kurz nach deiner Geburt bekommen. Aber ehe du weitere Fragen stellst, diese Urkunde bekommt jeder nach seiner Geburt nur einmal. Alle, die danach angefordert werden, werden mit dem Vermerk „Amtliche Kopie“ weitergegeben.“
„Ah, das wusste ich nicht“, erwiderte Annemieke. „Deshalb steht auf meiner Geburtsurkunde dieser Vermerk drauf. Ich habe mich schon immer gewundert, warum das so ist und wieso mir meine Mutter nicht das Original ausgehändigt hat.“ Sie sah Ruben, nun auch lächelnd, an. „Ich kann es immer noch nicht begreifen, dass ich plötzlich meinem Vater gegenüberstehe, von dem ich immer gedacht habe, er wäre bereits gestorben. Genauso, wie ich plötzlich Hausbesitzerin bin und auch hier nicht weiß, wie die Zusammenhänge sind.“
„Das bitte später“, erwiderte Ruben. „Ich möchte dir erst noch berichten, wie ich dich gefunden habe.“
„Bitte, tu dir keinen Zwang an“, sagte Annemieke darauf und sah ihren Vater neugierig an.
„Na da bin ich aber mal gespannt“, warf nun auch Luuk ein. Die Neugierde war ihm ins Gesicht geschrieben.
Ruben bat erneut um Aufmerksamkeit und begann zu erzählen.
„Ich hatte durch alte Freunde erfahren, dass deine Mutter dich mit nach Deutschland genommen hatte. Immer wieder versuchte ich, mit ihr in Kontakt zu kommen. Immerhin wollte ich mein Kind sehen. Aber alles nützte nichts, sie blockte jede Anfrage ab, ich wäre für sie gestorben und ich sollte es nicht noch einmal versuchen. Es hätte keinen Zweck. Du hättest jetzt einen Vater, der alles besser machen würde als ich.“ Er blickte Annemieke mit Tränen in den Augen an. Der Schmerz, sein Kind nicht sehen zu dürfen, war ihm ins Gesicht geschrieben.
„Dann lernte ich durch einen Zufall Thijs Huismann kennen“, Ruben schaute zu dem Detektiv hinüber, der zustimmend nickte. „Thijs war ein Glückstreffer für mich. Nicht nur, dass er mein bester Freund wurde, sondern er machte es auch möglich, trotzdem an deinem Leben teilhaben zu können, ohne dass deine Mutter davon wusste. Sie ahnte nicht einmal, dass ich ihr auf der Spur war.“
„Wie das?!“ Annemieke war erstaunt.
„Ganz einfach“, meinte Ruben lächelnd. „Er hat deine Mutter beschattet, machte sogar regelmäßig Bilder von dir, die er mir dann gab. Das war besser als gar nichts, reichte mir aber trotzdem nicht. Ich hoffte immer wieder, dass sich deine Mutter umstimmen lässt. Tat sie aber nicht, was ich traurigerweise hinnehmen musste. Die Bilder, die ich von Thijs bekam, waren aber ein kleiner Trost.“
„Ich habe nie bemerkt, dass wir beschattet wurden. Weder als Kind, noch später.“
Ruben grinste. „Thijs ist halt ein guter Privatdetektiv.“
Annemieke lachte darauf nur und schaute Thijs an. „Da haben wir es also ihnen zu verdanken, dass wir hier nun zusammensitzen“, sagte sie zu ihm.
„So ist es“, erwiderte Thijs und lächelte zurück.
„Ich erzähle mal weiter“, sprach Ruben einfach dazwischen. „Eines Tages kam Thijs zu mir und sagte, deine Mutter wäre wieder in Holland und du wärst mit ihr gekommen. Damals warst du noch minderjährig.“
„Ja, da war ich gerade sechzehn geworden“, sagte Annemieke. „Mutters Mann war kurz vorher gestorben und sie wollte nicht allein in Deutschland bleiben. So nahmen wir unsere Habseligkeiten und kamen zurück.“
„Durch Thijs habe ich euren Wohnsitz erfahren. Wieder versuchte ich, Kontakt zu dir zu bekommen“, erzählte nun Ruben weiter. „Doch deine Mutter blockte erneut ab und ich blieb in der Hoffnung, dich endlich sehen zu können, wenn du volljährig geworden warst.“ Er stockte kurz. „Aber dann warst du auf einmal weg und nicht auffindbar.“
„Als ich achtzehn wurde und die Mittlere Reife hinter mir hatte, ging ich zum Studieren nach Amerika. Das wusste nur meine Mutter“, erklärte Annemieke. „Ich blieb bis vor einem Jahr dort und bin dann zurückgekommen. Es gefiel mir dort nicht mehr. Ich wollte zurück in die Heimat, obwohl mir Holland eher wie eine zweite Heimat vorkam. Immerhin bin ich in Deutschland aufgewachsen, hatte dort meine Freunde, mein soziales Umfeld. In den knapp zwei Jahren, die ich hier gelebt habe, fand ich nie richtig Anschluss und war froh, hier wieder wegzukönnen.“
„Du bist halt eine kleine Globetrotterin“, meinte Ruben lachend. „In deinem Alter war ich auch so. Ich wollte die Welt sehen, Leute kennenlernen, Spaß haben.“ Er freute sich über die Gemeinsamkeit, die er mit seiner Tochter teilte.
„Naja, Spaß war das Studium in Washington nicht, eher viel Stress, tagein, tagaus nur lernen, lernen, lernen. Aber ich habe einen sehr guten Abschluss gemacht“, erklärte Annemieke.
„Das freut mich sehr“, erwiderte Ruben. „Ich denke, mit einem guten Abschluss in der Tasche kannst du auch hier eine gute Arbeit finden. So wie ich weiß, hast du auch eine.“
Annemieke stimmte dem zu. „Ja, die habe ich zum Glück. Ich arbeite für die Stadt Amsterdam als Landschaftsarchitektin, was ich in den USA studiert habe. Ich kümmere mich für die Stadt um die Parks, Grünflächen und so weiter.“
„Ich weiß“, sagte Ruben, verschmitzt grinsend. „Nun haben wir dich endlich gefunden und ich bin sehr froh, dass du mir glaubst.“
„Es ist für mich immer noch ein wenig eigenartig, plötzlich einen Vater zu haben“, meinte Annemieke. „Erst einen neuen Freund“, sie wandte sich Luuk lächelnd zu, der sie auf die Wange küsste, „und dann auch gleich noch einen verlorengegangenen Vater dazu.“ Sie schaute Ruben an. „Aber nun fehlt noch ein wenig mehr, das aufgeklärt werden muss.“
„Ach ja, das Anwesen hier“, antwortete er. „Das ist eine sehr lange Geschichte, die ich dir auch noch erklären muss. Ich denke aber, wir tun dies woanders. Hier draußen ist es mir etwas zu kühl geworden. Immerhin haben wir Ende Oktober, kein guter Zeitpunkt, lange draußen zu sitzen.“
„Du hast Recht“, erwiderte Annemieke. „Was schlägst du vor? Ich kenne mich hier in Vaals nicht aus.“
Erneut lächelte Ruben. „Was hältst du von meiner Wohnung?“, fragte er.
Annemieke riss die Augen auf. „Du wohnst hier in Vaals?“
Ruben nickte erneut. „Schon sehr viele Jahre. Du hast auch hier gewohnt, als Säugling. Mich zog es nach der Trennung von deiner Mutter zurück zu meinen Wurzeln. Ich bin hier geboren und aufgewachsen.“
„Das gibt es doch nicht! Da sind wir jahrelang fast Nachbarn gewesen und haben uns nie gefunden. Welch ein Zufall. Wir lebten damals in Monschau, in der Eifel.“
„Ich weiß“, war Rubens ganz kurze Antwort. Dann schlug er vor, zu seiner Wohnung zu gehen.