Obwohl Annemieke am Abend recht schnell eingeschlafen war, schreckte sie nachts öfter aus dem Schlaf. Sie träumte vom Haus und den vielen Rätseln, die wie aus heiterem Himmel aufgetaucht waren und von denen sie nicht wusste, wie sie diese entwirren sollte. Kurz vor der Morgendämmerung hielt sie es nicht mehr aus und stand auf. Luuk schlief noch. Daher versuchte sie so leise wie möglich zu sein, um ihn nicht aufzuwecken.
Lächelnd sah Annemieke zu ihrem schlafenden Freund. Als sie in der Nacht aus ihren Träumen hochschreckte, war er ein paar Mal erwacht und hatte versucht, sie zu beruhigen. Er sorgte sich um sie, aber nun schien er tiefer zu schlafen.
Annemieke ging zum Fenster und zog die Gardine auf. Sie schaute auf die noch dunkle Straße hinunter. Die wenigen Laternen spendeten genug Licht, sodass der Fußweg gut beleuchtet war. Keine Menschenseele war zu sehen. Nur von der nahen Hauptstraße war das Motorengeräusch vorbeifahrender Autos zu hören. Ein Blick auf die Armbanduhr sagte ihr, es war gerade einmal vier Uhr. Viel zu zeitig, um sich für das Treffen mit dem ihr noch unbekannten Thijs Huismann fertig zu machen. Sie öffnete das Fenster und beugte sich ein wenig nach draußen. Die Straße unter ihr glänzte feucht. Es hatte geregnet, vereinzelt fielen noch Tropfen. Ein kühler Wind wehte um die Hausecke und ließ Annemieke frösteln.
„Du bist schon auf?“, hörte sie auf einmal Luuks Stimme hinter sich. Ihr Freund war ebenfalls aufgestanden und trat nun hinter sie. „Konntest du nicht schlafen?“, fragte er und gähnte. Sein Haar stand wirr vom Kopf ab, die Augen blickten noch verschlafen.
„Ich habe ständig irgendwelchen Unsinn geträumt und nun bin ich wohl zu aufgeregt, um wieder einschlafen zu können“, erwiderte sie.
Luuk nickte darauf. „Das habe ich bemerkt“, sagte er. „Mir kam es vor, als hättest du Alpträume gehabt.“
„Es fühlte sich so an“, antwortete Annemieke. „Das Haus und die ganzen Rätsel darum gehen mir einfach nicht aus dem Kopf. Sie machen mich fast wahnsinnig.“
„Das verstehe ich. Ich kann es mir auch nicht zusammenreimen, was das alles sein soll. So viele Fragen, so viele Heimlichkeiten.“
„Du hast wirklich vorher nichts gewusst“, fragte Annemieke. Sie hatte Luuk schon längst in Verdacht, mehr zu wissen, als er zugab.
Luuk schüttelte den Kopf. „Wie kommst du darauf?“
„Na, ich dachte, als Notar und Rechtsanwalt von Marlene Brouwer wüsstest du mehr“, gab sie zu.
„Dachtest du das wirklich?“
„Ja“, erwiderte Annemieke wahrheitsgemäß. Warum sollte sie Luuk verschweigen, dass sie ihn in Verdacht hatte, ihr etwas zu verbergen.
„Aber nein. Du kannst mir glauben. Wüsste ich mehr, würde ich es dir sagen. Aber ich weiß wirklich nicht mehr, als ich dir bereits mitgeteilt habe.“
„Sei bitte nicht böse, dass ich dir unterstelle, mehr davon zu wissen“, versuchte Annemieke ihre Meinung zu verteidigen.
Luuk lachte. „Aber nein, warum sollte ich dir deswegen sauer sein. Es steht dir zu, diese Fragen zu stellen. Ich verstehe schon, warum du dir solche Gedanken machst. Immerhin bin, oder war, ich in die Sache involviert als Marlene Brouwers Notar. Ich kannte sie zwar bereits einige Jahre, ich habe schon das gemeinsame Testament mit ihrem Ehemann aufgesetzt, der leider schon vor langer Zeit verstorben ist. Allerdings hat sie mir auch nicht alles verraten.“
Annemieke seufzte erleichtert. „Du kannst nichts dafür, dass sie dir nicht alles gesagt hat. Es war für mich nur selbstverständlich, dass ein Klient seinem Rechtsanwalt oder Notar sozusagen alles auf den Tisch legt. Dass es nicht an dem ist, hast du mir eben gezeigt. Also entschuldige bitte, dass ich dich verdächtigt habe.“
„Ist schon in Ordnung“, erwiderte Luuk und zog Annemieke in seine Arme. Sie roch seinen herben, männlichen Duft und genoss es, von ihm umarmt zu werden. So nah wie jetzt Luuk war sie einem Mann schon lange nicht mehr. Plötzlich musste sie gähnen.
„Noch müde?“, wollte Luuk wissen.
„Ein wenig schon. Legen wir uns wieder hin. Vielleicht kann ich nochmal schlafen. Bis zum Treffen mit Huismann sind es noch fast sechs Stunden“, antwortete Annemieke. „Was hältst du davon, wenn wir direkt nach dem Frühstück zu Huismann gehen? 10 Uhr hatte er vorgeschlagen, gleich vor Ort am Haus. Ich finde, der Treffpunkt ist eine gute Wahl.“
Luuk war damit einverstanden.
Aufgeregt saß Annemieke beim Frühstück auf ihrem Stuhl im Speisesaal der Pension. Die Zeit bis zum Treffen mit Huismann rückte näher und Luuk war immer noch beim Essen. Über den Rand seiner Kaffeetasse sah er sie an und grinste.
„Man könnte denken, du hast Hummeln im Allerwertesten“, meinte er.
„Du hast gut reden“, versuchte Annemieke ihre Ungeduld zu verbergen. „Mir scheint, als könnte dich kein Wässerchen trüben.“
„Das sieht nur so aus“, erwiderte Luuk und zog die Augenbrauen hoch.
Annemieke riss die Augen auf. „Du bist also auch aufgeregt. Aber man sieht dir gar nichts an.“
„Ach. Das musste ich auch erst lernen. Was denkst du, wie aufgeregt ich jedes Mal bin, wenn ich ein Testament eröffnen muss. Da treffen Leute aufeinander, die erst vor kurzem einen geliebten Menschen verloren haben und ich muss ihnen sagen, was derjenige für sie hinterlassen hat oder, ob sie leer ausgegangen sind. Da kochen die Emotionen schon mal hoch, die ich aber in gewissen Grenzen halten muss, um den Termin gut zu meistern.“
Annemieke staunte noch mehr. „Na gut“, sagte sie dann. „Du bist also die Ruhe in Person, aber in deinem Inneren brodelt es wie in einem Vulkan.“
Luuk musste über den Vergleich lachen.
„Gehen wir?“, fragte Annemieke nach einem Blick auf die Uhr.
„Gerne“, erwiderte Luuk. „Ich würde aber sagen, wir gehen zu Fuß. So weit ist es bis zum Anwesen nicht, außerdem ist inzwischen schönes Wetter.“ Annemieke stimmte dem zu.
Etwa zur gleichen Zeit am Tor zu Annemiekes Grundstück
„Ich halte es bald nicht mehr aus“, sagte Ruben de Boer zu Thijs Huismann, dem Privatdetektiv und blickte den Weg hinunter, der in die Hauptstraße mündete. Aus deren Richtung musste Annemieke kommen, es sei denn, sie umrundete den Friedhof.
„Mach nicht schlapp so kurz vor dem Ende“, erwiderte Huismann lachend. „Annemieke wird bald hier sein. Circa in zehn Minuten. So lange wirst du schon noch aushalten können. Außerdem haben wir ausgemacht, dass ich erst einmal allein mit ihr spreche und die Lage peile. Immerhin weiß sie nichts von dir.“
„Am liebsten würde ich ihr entgegengehen. Ich habe sie so viele Jahre nicht gesehen, ich weiß nicht einmal, wie sie jetzt aussieht“, platzte Ruben heraus, der wie ein kleiner Junge aufgeregt von einem Bein aufs andere hüpfte.
„Das lässt du schön sein. Sie wird schon erstaunt genug sein, wenn sie mit mir zusammentrifft. Dein Einsatz kommt später.“
Ruben verdrehte die Augen. „Du und deine fürchterlichen Pläne. Kann es nicht einmal ganz einfach sein?“
„Wenn wir schon Nägel mit Köpfen machen, dann richtig“, wies ihn Thijs zurecht. „Irgendwie müssen wir es deiner Tochter erklären, dass du ihr Vater bist. Sie kennt dich nicht und könnte dir nicht glauben. Ich muss ihr erklären, dass jemand sie seit Jahren sehnsüchtig vermisst.“
„Ja, ja, du hast Recht“, sagte Ruben daraufhin. „Ich finde es halt nur blöd, dass ich mich erst verstecken muss. Ich habe lange genug auf sie verzichten müssen. Die vielen Jahre, die Tess sie mir vorenthalten hat. Annemiekes Kindheit ist längst vorbei, sie ist eine erwachsene Frau. Vielleicht hat sie sogar schon Kinder.“
„Bei letzterem muss ich widersprechen. Annemieke hat noch keine Kinder, sie hat nicht mal einen Mann, oder Freund. Wie alt ist sie eigentlich?“
Ruben überlegte kurz. „Dreißig“, antwortete er dann.
„Da wird es langsam Zeit, mit der Familienplanung zu beginnen. Nicht, dass die de Boers aussterben.“
„Das geht dich gar nichts an. Das ist einzig und allein Annemiekes Sache“, fuhr Ruben seinen Freund an. „Misch dich also gefälligst nicht in Familienangelegenheiten ein!“
„Schon gut, schon gut“, wehrte Thijs ab. „Warte“, flüsterte er auf einmal und schaute den Weg hinunter. „Ich glaube, sie kommt und sie ist nicht allein. Schnell, ab in dein Versteck und warte auf deinen Einsatz.“ Er blickte noch einmal den Weg hinunter. „Nun mach schon“, drängte er seinen Klienten.
Ruben blickte kurz in Annemiekes Richtung, die ihn und Thijs zum Glück noch nicht bemerkt hatte, da sie eben heftig mit ihrer Begleitung diskutierte. Rubens Herz schlug vor Aufregung hart in seiner Brust. Doch dann verschwand er schnell im Gebüsch neben dem Weg.
Schon von Weitem sah Annemieke einen Mann am Tor zum Anwesen stehen. „Das muss dieser Huismann sein, wenn ich mich nicht irre“, sagte sie zu Luuk, der neben ihr ging und ihre vor Aufregung feuchte Hand zärtlich drückte.
„Na dann schauen wir mal, was er uns zu sagen hat“, antwortete Luuk und lief ein wenig schneller, dass Annemieke Mühe hatte, ihm zu folgen.
Thijs Huismann kam Annemieke entgegen. „Sie müssen Annemieke de Boer sein“, begrüßte er sie. „Ich bin Thijs Huismann, meines Amtes Privatdetektiv“, stellte er sich dann vor.
„Dann sind sie der große Unbekannte, der mich heute unbedingt hier treffen wollte“, meinte Annemieke und musterte den großen, blonden Mann, der ihr lächelnd entgegensah. „Ich bin Annemieke de Boer“, nannte sie ihren Namen. „Und das…“, sie zeigte auf Luuk, „ist Luuk de Vries, mein Freund und der Rechtsanwalt von Marlene Brouwer.“
Luuk nickte dem Detektiv zu und hielt sich im Hintergrund.
„Gehen wir hinein?“, fragte Annemieke. „Dort können wir uns auf die Gartenbank setzen und müssen nicht hier herumstehen.“
Während sie gemeinsam den Pfad zum Haus entlanggingen, musterte Annemieke Huismann. Bisher hatte er noch nicht den Grund seines Hierseins genannt. Sie wollte gerade mit Sprechen beginnen, als Huismann schon das Wort ergriff.
„Setzen wir uns doch erst“, sagte er und zeigte auf die Gartenbank, die vor einem kleinen Tisch stand. „Ich nehme an, sie werden wissen wollen, warum ich hier bin und was ich ihnen zu sagen habe.“ Er stoppte kurz und fragte dann: „Ich dachte, sie kommen allein?“
„Das wollte ich erst“, erwiderte Annemieke. „Aber dann dachte ich, warum nicht meinen Freund mitnehmen? Oder haben sie etwas dagegen?“ Huismann schüttelte daraufhin nur den Kopf, woraufhin Annemieke weitersprach: „Auf alle Fälle will ich wissen, warum wir heute hier sind. Das Haus hier gibt mir so viele Rätsel auf, dass ich schon ganz wirr im Kopf bin. Und nun kommen auch noch sie dazu“, erwiderte Annemieke, während sie neben Luuk auf der Gartenbank Platz nahm. Huismann angelte sich einen Gartenstuhl heran und setzte sich ebenfalls.
„Nun ja“, begann der Detektiv. „Es ist so, dass es eine gewisse Beziehung zwischen ihnen und diesem Anwesen hier gibt. Das ist auch der Grund, weshalb sie es geerbt haben.“ Er sah Annemieke an und versuchte deren Reaktion zu deuten. Da sie aber noch nichts sagte, setzte er seine Rede einfach fort. „Außerdem gibt es jemanden, der sie von mir hat suchen lassen. Ich denke, das sollten sie wissen, bevor sie denjenigen treffen.“
Annemieke schnappte nach Luft. „Wer sollte mich suchen? Ich wüsste niemanden, der dies nötig hätte.“
„Es gibt wirklich jemanden, der sie dringend sucht und der ihnen auch die ganzen Zusammenhänge erklären kann“, widersprach Huismann vehement.
„Wer soll das sein?“, fragte Annemieke.
Statt ihr zu antworten, rief Thijs Huismann nur den Namen Ruben.
„Ruben?“, schoss es Annemieke in den Kopf. „So hieß doch…?! Oder irre ich mich? Nein, das kann nicht sein.“ Gerade wollte sie ansetzen, zu sprechen, als um die Hausecke ein Mann kam, der ihr lächelnd entgegenblickte.