Annemieke konnte nicht sofort losfahren. Zuerst musste sie sich ein wenig beruhigen und ihre Gedanken wieder in gerade Bahnen lenken. Das war nun wohl doch ein wenig zu viel des Guten für sie. Inzwischen war sie sicher, mit dem Haus stimmte etwas nicht. So viele Zufälle auf einmal konnte es gar nicht geben. Zuallererst sah sie einen Schatten am Fenster, danach einen Mann, der vom Grundstück flüchtete und zuletzt fand sie diesen Brief, von Marlene Brouwer persönlich geschrieben. Noch immer hatte sie keine Vorstellung, wie gerade letzteres möglich war.
Bei dem Schatten am Fenster konnte es sich nur um eine Lichtspiegelung handeln. Weder im Unter- noch im Obergeschoss hatte sie Spuren gefunden, die auf einen Aufenthalt einer Person hinwiesen. Doch der Mann im Garten war keinesfalls eine Einbildung. Sie hatte ihn mit eigenen Augen gesehen. Wahrscheinlich war er schon, bevor sie ihn entdeckte, auf dem Grundstück gewesen. Anders konnte sie sich das Gefühl des beobachtet Werdens nicht erklären, das sie befiel, als sie durch den Garten zurück zum Haus ging.
Das Verrückteste an allem war der Brief von Marlene Brouwer. Da sie bereits gestorben war, konnte sie diesen nicht selbst an der Fundstelle abgelegt haben. Das muss der Unbekannte getan haben. Oder hatte sie ihren Tod nur vorgetäuscht? Das konnte sich Annemieke nicht vorstellen. Wer war schon freiwillig tot? Es sei denn, ein Versicherungsbetrug sollte verübt werden. Von solchen Idioten hatten Annemieke bereits gehört. Das ging meist nicht gut aus, die Betrüger wurden erkannt und landeten im Gefängnis. Sie kannte die verstorbene Frau Brouwer zwar nicht, aber sie glaubte nicht an einen Betrug. Die Frau war alt, wie sie bei der Testamentseröffnung erfahren hatte, schon über 80 Jahre. Da musste jeder damit rechnen, bald abberufen zu werden.
Die Gedanken sprangen durch Annemiekes Kopf wie Eichhörnchen durch die Baumwipfel. Sie ließen ihr keine Ruhe, dass sie sogar vergaß, zur Pension zu fahren. So saß sie nachdenklich in ihrem Auto. Inzwischen war es dunkel geworden. Da sie die Beleuchtung im Auto angeschaltet hatte, konnte sie nicht sehen, was draußen vor sich ging.
Dementsprechend erschrak sie, als plötzlich an die Scheibe geklopft wurde. Erschrocken schrie sie auf. Am Auto standen ein junger Mann mit einem Hund sowie eine Frau. Sie klopften erneut ans Fenster, als Annemieke nicht sofort reagierte.
„Ist alles in Ordnung mit ihnen?“, hörte sie den Mann fragen. Seine Stimme klang dumpf durch die Scheibe.
Annemieke tätigte den Schalter der elektrischen Fensterheber und ließ die Seitenscheibe herunter. Sie zitterte vor Schreck am ganzen Körper. Trotzdem nahm sie nicht an, der Mann wolle ihr etwas tun. „Ich habe nicht richtig verstanden, was sie sagten“, antwortete sie.
„Ich wollte wissen, ob bei ihnen alles in Ordnung ist“, wiederholte der Fremde seine Frage. Die Frau stand neben ihm und sah Annemieke besorgt an.
„Wir sind hier jeden Tag mit unserem Hund“, erklärte die Frau. „Sonst ist hier draußen schon seit Jahren niemand mehr. Seit die alte Frau Brouwer in die Seniorenresidenz zog, wohnt hier niemand mehr. Nicht einmal die Kinder hielten es für nötig, hier ab und an mal nach dem Rechten zu sehen.“
„Machen sie sich keine Sorgen“, erwiderte Annemieke. „Es ist alles in Ordnung, mir geht es gut. Aber trotzdem danke, dass sie aufmerksam waren. Hier draußen liegt ja wirklich der Hund begraben.“ Sie lächelte die Frau an.
„Was tun sie hier?“, fragte dann der Mann. „Wir sind es nicht gewohnt, dass hier Fremde herumschleichen.“
„Ich habe das Haus von Frau Brouwer besichtigt“, sagte Annemieke darauf. „Ich habe es geerbt. Nun war ich hier und habe geschaut.“
„Oh, Frau Brouwer ist gestorben“, meinte die Frau. „Das wussten wir gar nicht.“
„Ja, vor vier Wochen.“
„Wir kennen Frau Brouwer nicht persönlich. Sie lebte sehr zurückgezogen und empfing nur sehr selten Besuch. Meist kamen nur ihre Kinder, oder ihr Bruder. Sie hatte wohl keine Freundinnen in der Stadt“, meinte der Mann zu Annemieke. „Wir haben die alte Dame hier nur manchmal gesehen, wenn sie im Garten saß. Sind sie mit Frau Brouwer verwandt?“
„Nein, das bin ich nicht“, erwiderte Annemieke. Doch als sie weitersprechen wollte, klingelte ihr Handy. Sie sah auf das Display. Es war Luuk. „Entschuldigen sie mich bitte“, wandte sie sich an die beiden Spaziergänger. „Mein Anwalt ruft an. Es ist bestimmt wichtig.“
„Dann wollen wir sie nicht weiter stören und wünschen ihnen einen guten Nachhauseweg“, sagten die beiden und verschwanden in der Dunkelheit.
„Na endlich! Was ist los? Ich dachte schon, dir ist etwas passiert“, hörte Annemieke Luuks besorgte Stimme am Telefon.
„Nein, mach dir keine Sorgen. Es ist alles in Ordnung“, erwiderte Annemieke. „Ich bin nur etwas müde und durcheinander.“ Sie hörte Luuk atmen.
„Bist du schon in der Pension?“, fragte er.
„Noch nicht. Ich sitze im Auto vor dem Anwesen und versuche mich zu beruhigen“, erklärte sie.
„Das klingt aber nicht so, als wäre alles in Ordnung.“
„So schlimm war es nun auch nicht. Ich habe mich nur mächtig erschrocken“, antwortete Annemieke und erzählte Luuk, was sie erlebt hatte.
„Das gibt es doch nicht. Und du bist dir sicher, dass dieser Brief noch nicht auf dem Schränkchen lag, als du ins Haus gegangen bist? Vielleicht hast du ihn auch nur übersehen? Dann auch noch dieser Mann, vielleicht wollte er dir etwas antun?“ Luuks Stimme klang nun sehr besorgt. „Am besten, du kommst sofort zurück nach Amsterdam. Ich mag dich nicht alleine lassen. Das ist ja gruslig und unheimlich.“
Annemieke lachte. „Ach, was soll schon geschehen? Es hat doch niemand gewusst, dass ich heute hier bin und das Anwesen besichtige. Ich fahre jetzt erst einmal in die Pension und wie geplant morgen früh zurück. Für heute ist es mir zu spät. Ich bin müde und abgespannt. Ich möchte im Dunkeln lieber nicht noch 230 Kilometer fahren.“
Luuk brummte ungehalten. „Das gefällt mir gar nicht“, sagte er dann. „Aber wenn du es dir nicht mehr zutraust, nach Hause zu fahren, dann begebe dich wenigstens auf schnellstem Weg in die Pension. Ich mag mir gar nicht vorstellen, dass dieser Typ, den du gesehen hast, sich noch in deiner Nähe aufhält.“
„Du siehst schon wieder Gespenster.“ Annemieke lachte. „Ich dachte heute zwar auch, ich sehe Geister. Aber sieh mal: Es gibt keine. Außerdem, der Mann ist bestimmt schon über alle Berge. Seit ich ihn entdeckt habe, ist er nicht nochmals aufgetaucht. Ich habe vorhin hier nur zwei Spaziergänger mit einem Hund gesehen, die mich angesprochen haben. Mir scheint, die Leute hier sind sehr aufmerksam und achten aufeinander.“
„Das mag vielleicht so sein. Mir ist es trotzdem nicht ganz wohl, dich dort alleine zu wissen. Fahre am besten sofort los, damit du in die Pension kommst.“
„Du bist süß“, sagte Annemieke. Gut, dass Luuk ihr Gesicht nicht sehen konnte. So erfuhr er nicht, wie sie sich über ihn ein wenig lustig machte und Grimassen schnitt.
„Ach, Mensch. Ich vermisse dich. Ich wünschte, du wärst jetzt hier“, bekannte Luuk, was Annemieke in Erstaunen versetzte.
„Morgen bin ich doch wieder in Amsterdam und am Abend sehen wir uns zum Essen im Restaurant. Bis dahin musst du schon noch auf mich verzichten“, erwiderte Annemieke. Sie vermisste Luuk auch. Dabei waren sie nicht einmal ein Paar, sondern nur ganz normale Freunde, die ab und an miteinander ausgingen oder sich auf einen Kaffee trafen. Doch für sie war es einfacher, von Luuk getrennt zu sein. Sie hatte hier zu tun und keine Zeit, ständig an ihn zu denken. Außerdem waren sie in Amsterdam auch nicht den ganzen Tag zusammen. Sie hätte nie gedacht, sich so schnell Hals über Kopf in den Notar zu verlieben. Schon als sie ihn zum ersten Mal bei der Testamentseröffnung begegnete, schlug ihr Herz ein paar Schläge schneller als gewohnt. Doch sie wollte sich nicht auf ihn einlassen, solange ihre Bekanntschaft geschäftlich war. Sie wusste, ein Notar konnte es sich nicht leisten, mit Klienten eine enge Beziehung, geschweige denn eine Liebschaft einzugehen. Es könnte schnell in den falschen Hals geraten und zum Verdacht führen, ein gemeinsames Spiel zu machen, um sich Erbschaften unter den Nagel zu reißen. Jedoch als Luuk sie um ein Date bat, nachdem die Testamentseröffnung von Frau Brouwer beendet war, konnte Annemieke nicht nein sagen. Luuk zog sie zu sehr in den Bann, dass ihr ihre Zusage aus dem Mund flutschte wie ein Stück Seife. Der Vorsicht halber hatte sie ihre Gefühle trotzdem vor ihm verborgen. Sie wollte erst einmal herausfinden, wie seine Gefühle für sie waren.
„Ich rufe dich morgen an, wenn ich losfahre“, sagte Annemieke noch, ehe sie sich verabschiedete.
Luuk brummte seine Antwort mehr. Es war ihm anzumerken, dass er sich sorgte und er sich Annemieke lieber gleich zurück in Amsterdam wünschte. Doch zwingen konnte er sie nicht, noch am Abend zu fahren, wenn sie sagte, sie sei sehr müde. Die Gefahr, durch Übermüdung einen Unfall zu verursachen, war zu groß.
Nachdem das Gespräch beendet war, machte sich Annemieke auf den Weg zur Pension. Dass ihr ein Wagen ohne Licht folgte, bemerkte sie nicht.
Die kleine Pension lag in einer Seitenstraße in der Nähe des Wochenmarktes, der immer dienstags durchgeführt wurde. Annemieke fand das schmucke Haus sofort. Wie ihr bereits mitgeteilt wurde, gab es Parkplätze für die Pensionsgäste, sodass sie nicht erst nach einem Platz für ihren Wagen suchen musste. Der Pensionswirt war sehr freundlich.
„Ich dachte schon, sie kommen gar nicht mehr“, sagte Pensionswirt Thomas Jonker zur Begrüßung zu Annemieke. „Möchten sie erst auf ihr Zimmer und sich frisch machen, oder lieber erst zu Abend essen?“, fragte er sie. „Meine Frau Eva ist noch in der Küche und wartet auf ihre Bestellung.“ Seine Freude über ihre Ankunft war ihm ins Gesicht geschrieben.
Annemieke war hungrig. Das bemerkte sie erst, als Jonker nach ihren Wünschen fragte. „Ich gehe lieber gleich zum Essen“, antwortete sie. „Ich bin sehr müde und will nachher nur noch duschen und ins Bett.“
„Kommen sie, ich zeige ihnen den Speisesaal“, erwiderte Jonker und führte Annemieke den Flur entlang. Der Speisesaal war leer, doch ein Tisch war noch eingedeckt. Wahrscheinlich hatten es die Wirtsleute vermutet, dass ihr später Gast noch essen möchte. Er führte Annemieke zu dem gedeckten Tisch und rückte ihr den Stuhl zurecht. „Möchten sie etwas trinken?“, fragte er.
„Gerne. Bitte einen trockenen Rotwein und eine kleine Flasche Wasser.“
„Sehr wohl. Meine Frau wird gleich zu ihnen kommen und sie fragen, was sie speisen möchten.“ Jonker zeigte auf die Speisekarte, die auf dem Tisch lag. „Ich werde, während sie essen, ihr Gepäck nach oben bringen.“
„Danke schön“, sagte Annemieke.
Kaum war der Pensionswirt gegangen, kam eine kleine, etwas pummelige Frau mit Annemiekes Getränken. „Willkommen“, sagte sie zu ihr. „Ich bin Frau Jonker. Hier sind ihre Getränke.“ Dann fragte die Frau, nach den Essenswünschen. Annemieke blickte noch einmal in die Speisekarte und bestellte dann ein einfaches Gericht, Backfisch mit Pommes und einem Salat.
Nachdem Annemieke gegessen hatte, begab sie sich auf ihr Zimmer. Ihr fielen beinahe die Augen zu, ihre Füße brannten und sie war froh, ihre Pumps endlich abstreifen zu können. Sie ging noch schnell unter die Dusche und dann zu Bett.
Kaum lag Annemieke im Bett und hatte sich die Decke über den Kopf gezogen, klingelte ihr Handy. Erst wollte sie das Gespräch nicht annehmen, doch dann sah sie, es war Luuk, der anrief.
„Hallo Luuk, so eine Überraschung, dass du noch einmal anrufst“, meldete sich Annemieke.
„Ich mache mir halt Sorgen um dich. Bist du schon in deiner Pension?“, fragte Luuk.
„Ja, bin ich. Ich habe noch etwas gegessen und nun liege ich im Bett. Der Tag war anstrengend und ich wollte zeitig schlafen, damit ich morgen früh ausgeruht losfahren kann.“ Sie lächelte. Dass sich Luuk solche Sorgen um sie machte, ging ihr immer noch nicht in den Kopf. „Ich rufe dich an, wenn ich losfahre. Bitte, ich möchte jetzt gerne schlafen“, sagte sie und gähnte herzhaft.
„Oh, entschuldige bitte. Wie kann ich nur so ein Depp sein und dich nicht schlafen lassen. Entschuldige bitte. Natürlich lasse ich dir nun deine Ruhe. Also, eine gute Nacht, bis morgen“, erwiderte Luuk.
„Danke, dir auch eine gute Nacht“, antwortete Annemieke und legte auf. Sie stellte ihr Handy auf lautlos und machte es sich im Bett bequem. Kurze Zeit später war sie eingeschlafen.
Am nächsten Morgen erwachte Annemieke ausgeruht. Obwohl die Pension mitten in der Stadt lag, hörte sie so gut wie keinen Straßenlärm. Sie sprang aus dem Bett, dehnte sich und machte ihre morgendlichen Gymnastikübungen. Obwohl sie als Landschaftsarchitektin auch körperlich arbeiten musste, legte sie sehr viel Wert darauf, ihren Körper fit und gesund zu halten. Danach duschte sie noch einmal und ging zum Frühstück hinunter.
„So zeitig auf den Beinen, Frau de Boer“, begrüßte Herr Jonker Annemieke freundlich.
„Ich will nachher gleich zurück nach Amsterdam“, fühlte sie sich genötigt, ihm zu antworten. „Daher möchte ich bitte gleich noch frühstücken und danach losfahren.“
„Natürlich, gerne. Im Speisesaal ist ein Büfett aufgebaut. Bedienen sie sich daran.“
„Danke“, sagte Annemieke nur und entfernte sich. Die Anhänglichkeit des Pensionswirtes ging ihr ein wenig auf die Nerven. „Zum Glück bin ich in einer halben Stunde hier weg. Dann muss ich den schmierigen Kerl nicht mehr ertragen“, dachte sie und fiel über das Frühstücksbufett her.
Nach dem Frühstück holte Annemieke ihre Tasche aus ihrem Zimmer. Danach verabschiedete sie sich von Jonker und dessen Frau und ging zu ihrem Auto, das auf dem Parkplatz der Pension stand. Als sie losfahren wollte, bemerkte sie einen Zettel, der hinter dem Scheibenwischerblatt steckte. Er ähnelte einem Strafzettel.
„Oh nein, auch das noch. Als hätte ich nicht schon genug Ärger“, schimpfte sie und stieg aus. „Das muss ich klären, wenn ich das nächste Mal hierherkomme. Seit wann schreibt das Ordnungsamt Straftickets auf Privatparkplätzen?“ Ungelesen steckte Annemieke den Zettel in ihre Handtasche, stieg wieder in ihr Auto und fuhr los. Dann rief sie Luuk an und sagte ihm, sie wäre eben losgefahren. In etwa drei Stunden wäre sie in Amsterdam und würde nun doch als erstes in seine Kanzlei kommen, um ihn ihre Eindrücke mitzuteilen. Bis zum Abend könne sie nicht warten. Den Zettel in ihrer Handtasche hatte sie längst vergessen.